News | Kassák: VIII. Kommune; Bodenburg 2021

Ein Bericht aus der ungarischen Räterepublik 1919/20

Vor kurzem ist das Buch «VIII. Kommune» des ungarischen Schriftstellers und Malers Lajos Kassák (1887-1967) auf Deutsch erschienen. Es handelt sich um den achten Band der autobiographischen Reihe «Ein Menschenleben», die er ursprünglich in Etappen zwischen 1923 und 1937 in einer ungarischen Zeitschrift veröffentlichen konnte. Während der Revolution in Ungarn 1919 schrieb Kassák seine Gedanken, Empfindungen und Beobachtungen im Kontext seines politisch-künstlerischen Schaffens auf. Der Bericht gibt zusätzlich Einblick ins politische Zeitgeschehen, eindringlich verstärkt durch die Ich-Perspektive, doch trotz Kassáks unmittelbarer persönlicher Betroffenheit erstaunlich nüchtern geschildert. Es entfaltet sich ein fesselnder Augenzeugenbericht darüber, wie die sozialistische Bewegung anfangs euphorisch startet, um dann nach und nach an inneren Konflikten und äußeren Widersprüchen zu zerbrechen. Ein wichtiges Zeitdokument, das deutschen Leser_innen erst durch diese Publikation zugänglich wird.

Im März 1919 wird in Ungarn die bürgerlich-sozialdemokratische Regierung unter Mihály Károlyi abgesetzt und die Revolution ausgerufen. Befeuert wird die Stimmung durch die territoriale Besetzung von Teilen Ungarns durch die Siegermächte nach dem ersten Weltkrieg und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Unzufriedenheit. Es folgt die Gründung der «Ungarischen Räterepublik». Der Versuch einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft geschieht hauptsächlich durch die massenhaften Bildung kommunistisch-sozialistischer Organisationen. Der Privatsektor wird enteignet; auch Ermordungen im Namen der Revolution finden statt.

Lajos Kassák ist zu dieser Zeit Herausgeber der avantgardistisch-politischen Zeitschrift «MA». Trotzdem er die überstürzten politischen Ereignisse kritisch bewertet, folgt er der Ernennung als Plakatzensor für die Räterepublik; er ist sich bewusst, dass er sie nicht wirklich ablehnen kann. Ironisch bemerkt er dazu: «Ich, der ich immer gegen jede Form der Zensur gewesen bin…» Kassák begreift sich trotz all seiner Kritik selbst als «Sozialist», als Mensch unter Menschen auf der Suche nach Wahrheit. Zugleich grenzt er sich heftig von politischem Idealismus, aufkommender Bürokratie und opportunistischer Vetternwirtschaft ab. Er beschreibt minutiös, wie die Menschen um ihn herum sich aus Eigennutz der Ideologie des Kommunismus unterordnen oder kopflos dagegen rebellieren. Beispielsweise schildert er, der sich schon vor der Ausrufung der Räterepublik dem linkspolitischen Aktivismus verschrieben hatte, immer wieder fassungslos, wie sich einst konservative oder halbseidene Bekannte plötzlich als langjährige Revolutionäre ausgeben, um im neuen System punkten zu können. So gerät das Ziel, eine bessere Gesellschaft zu errichten, immer mehr in den Hintergrund, während inhaltsleeres Phrasendreschen und begeistertes Zujubeln beginnen, politische Auseinandersetzung zu ersetzen. Kassák unterstützt diese Parolen nicht, ja kritisiert sie sogar öffentlich, und setzt sich damit Anfeindungen und Konflikten aus.

Immer wieder aber ergibt sich auch die gegensätzliche Situation, dass er jemandem im Gespräch die Stärken und die Intention des Sozialismus zu erklären versucht, und dabei beobachtet, dass einige Menschen paradigmatisch das Unbekannte ablehnen, auch wenn sie selbst davon profitieren würden. Der Anspruch an sich selbst ist für Kassák, in jeder Situation seinen Überzeugungen treu zu bleiben, und sich dennoch nicht abzukapseln, nicht dogmatisch zu agieren, sondern an der politischen Gestaltung der «Kommune» auf seine Weise mitzuwirken und so unnötigen Schaden abzuwenden. In seinen tagebuchartigen Erzählungen scheint durch, wie er sich angesichts der aus seiner Sicht korrupten Tendenzen innerhalb der linken Regierung hilflos, traurig und verzweifelt fühlt, in seinen Worten: «Wie viel leichter wäre das Leben, wenn man sich nicht für alles verantwortlich fühlen würde […]?»

Aber Lajos Kassák fühlt sich für alles verantwortlich, im positivsten Sinne ohne Schuld, immer mit der impliziten Frage, wie und was er in dieser Welt, an dieser Stelle beitragen kann. Damit ist er auch einsam. Als die Räterepublik im August 1919 zerbricht und der «weiße Terror», die Verfolgung der Anhänger der «roten» Regierung, beginnt, gehört Kássak selbst zu den Gejagten. Die Person Lajos Kassák und sein Schicksal sowie der historische Kontext kommen den Leser_innen in diesem Augenzeugenbericht plastisch nahe, und eben dadurch werden auch die Ereignisse von 1919 und den Folgejahren greifbar und quasi von innen heraus verständlich. Nicht zuletzt lesen sich seine Erfahrungen auch in der heutigen Zeit als Musterbeispiel für andere «Wandelbewegungen», die sich vielleicht in Umfang, Ausrichtung und Gewaltbereitschaft unterscheiden, aber letztlich ebenfalls mit ähnlichen inneren Konflikten konfrontiert sind und darum - unter Umständen - dem eigenen Anspruch nicht dauerhaft gerecht werden können.

Eine wichtige Publikation von auch heute noch höchster Bedeutung, die mit einem Personen- und Sachregister abgeschlossen wird.

Lina Schmidt

Lajos Kassák: VIII. Kommune; Verlag Edition AV, Bodenburg 2021, 217 Seiten, 18 EUR