Beider Zusammentreffen jetzt war zufällig, der Anlass ohnehin nebensächlicher. Mit einem in der Öffentlichkeit wenig bekannten Medienpreis wurden Gregor Gysi und Lech Wałęsa jeweils für das politische Lebenswerk ausgezeichnet; so bot sich nun die willkommene Gelegenheit, der gegenseitigen Wertschätzung einen sichtbaren Ausdruck zu geben. Das gemeinsame Foto spricht den Beobachter noch einmal gesondert an, denn zu sehen sind zwei Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, die jeweils unverwechselbar stehen für jene historischen Wege, die in dem gewaltigen Vorgang zusammenlaufen, der bis heute weithin mit der Bezeichnung «Wende» gemeint wird.
In den späten 80er Jahren hatte plötzlich das Wort vom «Ende der Geschichte» die Runde gemacht, das von Francis Fukuyama provozierend wie erfolgreich ins Gespräch gebracht worden war. Dessen Ansatz münzte mehr oder weniger gekonnt den schnellen Zusammenbruch des sowjetisch geprägten Staatssozialismus in Europa und den sich abzeichnenden, für nahezu unaufhaltbar gehaltenen Siegeszug liberaler Demokratie als ein Angekommensein von Geschichte um, die zumindest in diesem Weltenteil ihr immanentes Ziel erreicht zu haben schien. Die heftigen Bewegungen und Erschütterungen gesellschaftlicher Bewegung, die das 19. und das 20. Jahrhundert bis dahin immer wieder geprägt hatten, sollten allmählich verebben, die weit und unregelmäßig ausschlagende Amplitude gesichert pulsieren, der geschichtliche Flusslauf überhaupt verlässlich und kontrollierbar werden. Das Tor ins ungetrübte liberal-demokratische Glück schien allseits aufgestoßen.
Gregor Gysis politische Wege sind hier zu bekannt, brauchen nicht gesondert aufgezeigt werden. In jenen stürmischen Wendetagen in Berlin wurde er an die Spitze einer politischen Bewegung gespült, auf die im nun beginnenden großen Freiheitskonzert die wenigsten noch setzten. Es galt die geschlagenen, die verbliebenen Sozialisten aus der untergehenden DDR politisch in die neu sich durchsetzenden Verhältnisse bürgerlicher Demokratie zu führen. Dass Gysi heute, drei Jahrzehnte später, der wohl prominenteste Oppositionspolitiker Deutschlands ist, hätte niemand ihm damals weissagen können. Er schien den meisten nur noch einer Richtung vorzustehen, die dabei war, sich wenigstens einigermaßen glimpflich aus der Geschichte davonzustehlen.
Lech Wałęsa nun kam von ganz anderer Seite in die Geschichte gestürmt. An der Spitze der «Solidarność»-Bewegung hatte Europas letzter Arbeiterführer kräftig mitgetan, um das mittlerweile hinfällig gewordene politische System, wie es die Sowjetunion nach 1945 in ihrem Einflussbereich durchsetzen konnte, entschlossen wieder herauszuschieben. Ihm eröffnete sich eine glänzende politische Zukunft, niemanden wunderte es folglich, als er im Spätherbst 1990 ungefährdet Polens erster direkt gewählter Staatspräsident wurde. Das Amt verstand er übrigens auch als eine Speerspitze, um die unliebsamen linksgerichteten Kräfte, die ihm untrennbar mit dem alten System verbunden schienen, in Schach zu halten. Umso größer war das böse Erwachen allerdings fünf Jahre später, als ausgerechnet Aleksander Kwaśniewski – dessen Rolle im Übergang der Systeme damals doch ein wenig an diejenige Gregor Gysis im Osten Deutschlands erinnerte – den haushohen Favoriten und Amtsinhaber mit der einfachen Losung «Wir wählen die Zukunft» schlagen konnte.
Heute stehen die beiden Ex-Präsidenten Wałęsa und Kwaśniewski im selben politischen Feld, beide sind entschiedene Gegner des politischen Systems, das Jarosław Kaczyński im Sinne einer «nichtliberalen Demokratie» seit 2015 durchzusetzen sucht. Der Schriftzug KONSTYTUCJA (Verfassung), den Wałęsa seit geraumer Zeit in der Öffentlichkeit immer gut sichtbar trägt, ist eines der bekanntesten Symbole für den Protest auf Seiten der demokratischen Opposition. Es entstand in den aufwühlenden Julitagen 2017, als zigtausende Menschen überall im Land auf die Straßen gegangen waren, um die Verfassung von 1997 – also diejenige aus der Kwaśniewski-Zeit – zu verteidigen. Und so sehen sich nun politische Kräfte, die einst von ganz unterschiedlicher Seite in die sich neu herausbildende bürgerliche Demokratie hineingeschleudert wurden, gezwungen, sich öffentlich einzusetzen, um zu warnen vor der lauernden Gefahr, dass – mit welch vorgeschobener Begründung oder Argumentation auch immer – Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt oder systematisch ausgehebelt werden.
Als die «Solidarność»-Bewegung 1980/81 im Kern diese drei Grundfreiheiten eingefordert hatte, erwies sich das herrschende politische System als zu schwerfällig, um darauf noch – sich umgestaltend – reagieren zu können. Die gutgemeinten Reformversuche waren vergeblich, der Untergang kam entsprechend rasch. Und die demokratischen Sozialisten nach 1989/90 machten wenigstens den ungestörten Blick wieder frei auf den tiefen und an sich untrennbaren Zusammenhang zwischen sozialer Befreiung und politischer Freiheit, wie er an der Wiege der modernen Arbeiterbewegung begründet worden war.