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Puja Kaur Matta über das Schicksal der Sikhs und Hindus in Afghanistan

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Puja Kaur Matta,

Ortskräfte aus Afghanistan gehen am frühen Morgen auf dem Gelände der DRK-Flüchtlingshilfe in der Erstaufnahmeeinrichtung zu ihrer Unterkunft.  Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Patrick Pleul

Wenn es um Afghanistan geht, verweisen Politiker*innen gern auf die angebliche Komplexität des Krieges und die Undurchschaubarkeit der Feinde. Ähnlich argumentieren auch angebliche Expert*innen, wenn es um die Frage geht, wer für die «Katastrophe» im August 2021 verantwortlich ist. Im Fokus der deutschen Öffentlichkeit stehen nicht die Betroffenen des 20-jährigen Krieges, sondern die Deutschen und ihr bürokratischer Apparat. Und wie es die deutsche Tradition gebietet, wird es keine Konsequenz für die Verantwortlichen geben, sondern Medaillen und Karrieresprünge, wie im Fall des Luftangriffs auf Kundus 2009.

Die Afghan*innen selbst können recht wenig mit Schuldzuweisungen anfangen, leben sie doch in einem Land, das mehr als jedes andere von Drohnen bombardiert und zum Schauplatz für den Abwurf der größten nicht-nuklearen Bombe wurde. Von Opfern ist in Deutschland inzwischen nur dann noch die Rede, wenn es sich um «Ortskräfte» handelt oder in seltenen Fällen um Personen des öffentlichen Lebens. Es ist mehr als zynisch, dass Menschen, die um ihr Leben fürchten, ihr Opferdasein mit Zetteln nachweisen und in Konkurrenz zu ihren Mitmenschen treten müssen, um ein Fünkchen Hoffnung auf Rettung zu haben.

Puja Kaur Matta ist freie Journalistin. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigen sich Migration, Flucht und Diaspora mit dem Schwerpunkt Afghanistan.

Dabei ist die Kategorie «Ortskräfte» nicht nur zu eng definiert, sondern an sich verwerflich. Sie macht eine Opferhierarchie auf, die so nicht der Realität der Menschen in Afghanistan entspricht. Personen, die keinen Zugang zu einem Job bei einer fremden Regierung oder Regierungsorganisation hatten, sind nicht berechtigt, ein Leben in Würde zu führen. Entgegen der deutschen Vorstellung, dass in den letzten zwei Jahrzehnten in Afghanistan alle Zugang zu Bildung hatten, blieb der Besuch einer öffentlichen Schule den religiösen Minderheiten der Sikhs und Hindus verwehrt. Und wer keinen offiziellen Bildungsabschluss nachweisen konnte, konnte auch keine Anstellung als «Ortskraft» erhalten.

Um es gleich zu sagen: Nein, wir sind Afghan*innen und keine indischen Staatsangehörigen oder kulturell der indischen Gesellschaft verpflichtet. Wir sind Teil der Bevölkerung Afghanistans und leben wie alle anderen dort seit mehreren Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden. Historisch gesehen sind Afghan*innen Hindus, Buddhist*innen, Angehörige des Zoroastrismus oder andere, die später teils zum Islam konvertierten. Die Sikh-Religion ist dagegen jung und etwa 500 Jahre alt. Auch die Sikhs sind nicht aus Luft gemacht, sondern Menschen, die aus verschiedenen Gründen aus verschiedenen Religionen konvertierten. Und dennoch wird den religiösen Minderheiten das Afghanisch-Sein abgesprochen, womit sie zum Ziel für Gewalttaten werden.

Das Attentat 2018 in Jalalabad auf eine politische Hindu- und Sikh-Delegation und der Angriff auf den Sikh-Tempel Gurdwara in Kabul 2020 zeigen deutlich, welche Ausmaße der Hass der Fundamentalisten gegen Minderheiten annimmt. Beide Gewalttaten geschahen vor den Augen einer afghanischen Regierung, die von den westlichen Staaten getragen wurde. Nicht nur hat der Staat damals versagt, die Minderheiten ausreichend zu schützen, er war auch nie ein Ansprechpartner für sie.

Im Gegenteil, Beamte ignorierten die Bitten der Sikhs und Hindus um Schutz oder bereicherten sich selbst an ihrer Unterdrückung. Arbeitsräume wie Verkaufsläden und Land wurden ihnen ohne Kompensation weggenommen, was ihnen die Grundlage für die Lebenshaltung entzog. Auch der Platz für die Durchführung von Feuerbestattungen wurde erst viele Jahre nach der Entwendung an die Gemeinden zurückgegeben und kann bis heute nur unter Polizeischutz betreten werden. Das Anmieten von Wohnraum war in den letzten Jahren unmöglich, weshalb viele gezwungen waren, im Tempel zu leben. Jede politische Partizipation der Hindus und Sikhs wurde mit einer Gewalttat beantwortet. Der Schulbesuch blieb den Kindern verwehrt. Die Schikanen und physischen Attacken auf die Kinder der Sikhs und Hindus durch Lehrpersonal und Mitschüler*innen verhinderten deren Teilnahme am Unterricht. Erst 2016 wurde Sikhs und Hindus ein Sitz im Parlament gewährt, um die politische Teilhabe zu ermöglichen. Ein Sitz von 352 ohne besondere Rechte.

Wenn also die Rede von «Ortskräften» ist oder besonders gefährdeten Gruppen wie Personen des öffentlichen Lebens: Was ist mit all jenen, die bereits ihr Leben für ein demokratisches Afghanistan gelassen haben, und ihren Angehörigen, die nie einen würdigen Abschied nehmen konnten? Was ist mit all jenen, die bereits vor dem Vormarsch der Taliban täglich um ihr Leben fürchteten und die Straßen Kabuls in dem Bewusstsein betraten, eine Zielscheibe auf den Rücken zu tragen?

Es mag sein, dass die institutionelle Diskriminierung der Hindus und Sikhs durch den afghanischen Staat jetzt Vergangenheit ist, aber es ändert nichts an ihrer Vulnerabilität. Ein Blick auf die Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 lässt erahnen, was ihnen jetzt bevorsteht. Bereits damals hieß es von ihrer Seite, dass religiöse Minderheiten nichts zu befürchten hätten. Die zahlreichen Gräueltaten beweisen jedoch etwas anderes, religiöse Minderheiten wurden systematisch diskriminiert. Während der Taliban-Herrschaft mussten Sikhs einen gelben Turban tragen, Hindus einen gelben Punkt auf der Stirn und die Frauen waren gezwungen, eine gelbe Burka zu tragen, um sie als Nicht-Muslima sichtbar zu machen. Die Häuser und Läden wurden auffällig markiert und die Jizya-Steuer musste an die Taliban entrichtet werden. Dabei handelt es sich um einen hohen Geldbetrag, der nur von Nicht-Muslimen bezahlt werden muss. Der Druck, zum Islam zu konvertieren, ist enorm. Aber selbst ein Religionsübertritt garantiert keine Sicherheit für Leib und Leben.

Die internationale Gemeinschaft hat sich darauf zurückgezogen, die Gewalttaten an Minderheiten zu verurteilen, aber nichts dafür getan, ihre Situation zu verbessern. Seit Jahren empfehlen Menschrechtsorganisationen die Evakuierung von Minderheiten, da eine sichere Zukunft für sie nicht absehbar sei. Inzwischen sind kaum mehr als 250 Angehörige der Hindus und Sikhs in Afghanistan, einige Hundert konnten vor dem Fall von Kabul noch entkommen.

Und anstatt Verantwortung für das Versagen der afghanischen Regierung zu übernehmen und darüber nachzudenken, wie den Menschen geholfen werden kann, verweilen die Deutschen bei der Schuldfrage, die zu keiner Anklage führen und null Konsequenzen für die Verantwortlichen haben wird. Selbstverständlich sind wir froh um jede einzelne Person, die evakuiert wurde, und stellen die damit verbundenen Bemühungen nicht infrage. Aber es muss schon gefragt werden, warum Menschen erst ihren Wert für die Bundesregierung als «Ortskraft» beweisen müssen, um als würdig für eine Evakuierung zu gelten.

Wer die Realitäten der Afghan*innen anerkennt, versteht, dass die Situation recht einfach zu begreifen ist. Wie fragil der staatliche Apparat, den die westlichen Besatzer 2004 installierten, gewesen ist, zeigte sich an der Nutzlosigkeit des Staates für den Schutz von Minderheiten. Nicht erst seit August 2021 sind Sikhs und Hindus besonders gefährdet, aber seitdem ist das Leben in Afghanistan für sie untragbar. Ich fürchte, wenn die internationale Aufmerksamkeit sich von Kabul wegbewegt, wird es dort keine Angehörigen von Minderheiten mehr geben, die evakuiert werden müssen.

Dieser Text wurde Ende September 2021 verfasst.