News | Krieg / Frieden - Migration / Flucht - Zentralasien Zwischen Heimat und Diaspora blüht der Aktivismus

Zara Momand über die notwendige Unterstützung für Afghanistan

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Zara Momand,

Schild auf einer Demo in München gegen geplante Abschiebungen nach Afghanistan. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Sachelle Babbar

Es ist geschehen: Die Truppen des freiheitlichen und rechtsstaatlichen Westens sind abgezogen und eine neue Taliban-Regierung ist aus dem Schatten hervorgetreten. Der Umsturz trifft die Menschen hart: Eine humanitäre Krise plagt das Land, es herrscht Unruhe auf allen Ebenen. Unzählige Menschen versuchen zu fliehen, lediglich einem Bruchteil ist es bisher gelungen. Gleichzeitig blicken aber viele Afghan*innen dem Regierungswechsel hoffnungsvoll entgegen, da sie nach 20 Jahren eines gescheiterten Besatzungsregimes nun meinen, endlich auf Frieden hoffen zu können. Sie hoffen auf einen Frieden, der bisher ausblieb. Viele berichten jedoch bereits von genau diesem: von Ruhe, Ordnung und einem normalen Alltag auf den Straßen. Doch für wen gilt dieser Frieden und vor allem: Für wen gilt er nicht? Wer befürwortet das Taliban-Regime und wer lehnt sich dagegen auf?

Zara Momand studiert Psychologie in Frankfurt am Main und ist seit 2016 als Dolmetscherin für die Sprache Paschto in Asylverfahren tätig. Sie arbeitet mit Geflüchteten im klinisch-psychologischen Kontext und widmet sich der Bildungsarbeit über ungleiche Strukturen in der psychologischen Versorgung.

Die Taliban versprechen ein islamisches Emirat, das das Leben nach der Scharia gestalten soll. Für den Globalen Norden undenkbar, für die zu über 99 Prozent muslimische Bevölkerung in Afghanistan wiederum keine Neuheit. Doch was bedeutet eine Taliban-Regierung konkret für das Volk? In der afghanischen Community hört man zuversichtliche Stimmen vor allem von Männern, die aufgrund ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit und sexuellen Orientierung derzeit nichts zu befürchten haben. Sie berufen sich auf ihren Glauben, ignorieren aber, dass die aktuellen Geschehnisse mit ebendiesem nicht vereinbar sind. Sie können auf Privilegien zählen, die ihnen gesellschaftlich ohnehin zuteilwerden, während andere allein wegen ihrer bloßen Existenz um ihr Leben bangen müssen. Sie belächeln, dass seit der Machtübernahme der Taliban Minderheiten und Frauen besonders gefährdet sind; noch gefährdeter, als sie es vorher schon waren. Schiitische Muslimas und Muslime und speziell die Bevölkerungsgruppe der Hazara werden seit Jahrhunderten diskriminiert, verfolgt und massakriert. Die jetzigen Ereignisse zeigen auch, dass Tausende ihre Häuser aufgeben müssen und innerhalb des Landes vertrieben und ermordet werden. Sikh-Tempel werden gestürmt und auch der bekanntlich letzte Jude Afghanistans hat das Land verlassen. Frauen und Mädchen sind seit der Machtübernahme weitgehend vom Zugang zum Bildungswesen ausgeschlossen und blicken auf eine ungewisse Zeit. Sie gehen auf die Straßen und protestieren inmitten bewaffneter Taliban für ihre Rechte, während in der afghanischen Diaspora über Schuld, Sühne und die aussichtslos erscheinenden Zukunftsperspektiven diskutiert wird.

Die afghanische Diaspora in Deutschland

Deutschland beherbergt mit über einer Viertelmillion Menschen die größte afghanische Diaspora-Gemeinde Europas. Diese Community ist alles andere als homogen, sie wird von politischen, religiösen und sozialen Unterschieden geprägt, gespalten, aber auch geeint. Die jeweiligen sozialen Einflüsse bestimmen die Unterschiede: Davon, wann und unter welchen Umständen jemand Afghanistan verlassen hat, hängt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Bewertung der aktuellen Entwicklungen ab. Vermutlich trägt jede Familie Afghanistans gewaltvolle Erfahrungen mit sich, und der Feind kann viele Gesichter haben. Zwischen Religiosität, Kommunismus, Mudschaheddin, Taliban und Besatzungsmächten bleibt viel Raum für Konflikte.

Afghanistan ist reich an komplizierter Geschichte. Seit Jahrhunderten erlebt das Land Invasionen, es wurde von mehreren Weltmächten besetzt und neigt zum Extremismus. In den späten 1970er Jahren war es der Kommunismus, der die Oberhand gewann, in den 1990ern und auch heute ist es der religiöse Fanatismus, der vorherrscht. Politische Spaltungen und gewaltsame Auseinandersetzungen traten sowohl innerhalb der jeweiligen ideologischen Bewegungen als auch zwischen ihnen auf. Der Vielvölkerstaat wird primär von Paschtun*innen, Tadschik*innen, Usbek*innen und Hazara bewohnt. Das große Machtungleichgewicht zwischen diesen verschiedenen Gruppen ist Ursache vielfältigen Unrechts. Die paschtunische Bevölkerung verfügte bereits im 18. Jahrhundert über den größten politischen Einfluss, während die tadschikische Bevölkerungsgruppe den Großteil der Mittelschicht bildete. Usbek*innen wurden größtenteils auf ihren geografischen Siedlungsraum beschränkt, während die Hazara überwiegend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen blieben. Auch heute noch wirken die Verwicklungen der Vergangenheit nach. Rivalitäten bestehen weiterhin und sorgen für Konfliktpotenzial, das das Land und Volk von innen schwächt und Nährboden für äußere Einflüsse bietet.

Isolation der afghanischen Community

Die afghanische Diaspora trifft seit spätestens 9/11 im Westen auf Misstrauen und fehlendes Verständnis. Einst bloß ein Volk irgendwo im Globalen Süden, das durch Invasionen und Kriege geschwächt war, wurde es plötzlich zum Erzfeind der schönen neuen Welt. Von heute auf morgen standen wir unter Generalverdacht: «Wieso terrorisiert ihr uns? Wieso seid ihr hier und was habt ihr vor?» Das politische Bewusstsein vieler ist dadurch geprägt, dass sie immer wieder in die Täterrolle gedrängt werden, selten ist die Berichterstattung in den Medien auf ihrer Seite. Wir tanzen zwischen zwei Welten, die uns beide nicht so richtig beheimaten können. Während wir das Leid unserer Familien aus Geschichten und oftmals auch aus eigenen Erfahrungen kennen, leben wir hier ein anderes Leben: in Sicherheit, doch selten geborgen. Afghanische Identitäten und Realitäten in der Diaspora wurden in den letzten Jahrzehnten kaum beachtet. Wir sind meist diejenigen, die aus der Reihe tanzen, wir gelten als «Verschwörungstheoretiker*innen», wenn es um Weltpolitik geht, weil wir die westlichen Militäreinsätze nicht glorifizieren und keine unendliche Dankbarkeit zeigen, obwohl man uns doch mit Grundrechten segnet. Weil wir die Geschehnisse und die Motive hinter den Kulissen zu erforschen versuchen, weil wir uns fragen, was der Krieg, der Hunderttausende (primär Zivilist*innen) das Leben kostete, zum Ziel hatte, wenn der lang ersehnte Frieden ausbleibt. Weil wir vermeintliche Helden nicht immer als solche sehen, sondern das große Ganze hinterfragen und wissen, dass sogenannte Opfer nicht selten auch Täter sind.

Die afghanische Community hat – wie jede andere Community auch – mit internen Unstimmigkeiten zu kämpfen. Die politischen, religiösen und ideologischen Prägungen, vor allem aber auch die emotionalen und mentalen Folgen der Vergangenheit ziehen sich bis in die Gegenwart. Kulturelle und ethnische Hierarchien beeinflussen (oft unbewusst) über Generationen hinweg das Miteinander und viele finden unter anderem deshalb ihre engsten Vertrauten außerhalb der Community. Informationen über orientierungslose Einsätze, Kriegsverbrechen und Drohnenskandale sind der breiten Masse mittlerweile leicht zugänglich. Interesse, Empathie und wirkliches Verständnis jedoch fehlen häufig. Gerade in besonders stürmischen Zeiten, die das bereits sowohl physisch als auch ideologisch zertrümmerte Land heimsuchen, scheint uns niemand sonst das Einfühlungsvermögen entgegenbringen zu können, auf das wir bei afghanisch-stämmigen Personen zählen können. Unser Ohnmachtsgefühl lässt uns verzweifeln. «So nah und doch so fern», heißt es so schön. Was könnten wir tun, wenn wir dort wären? Und noch wichtiger, was können wir tun, während wir hier sind? Die Community findet sich wieder zusammen und trifft sich im Aktivismus. Verschiedenste Persönlichkeiten in der Diaspora begegnen einander, wandeln Frustration und Hilflosigkeit in Stimmen um, die im Chor ertönen. Diese Stimmen sind lauter als je zuvor und wir nehmen uns endlich den Raum, der uns zusteht.

Was bisher geschah und was geschehen muss

Seit August ist in der Diaspora viel passiert: Bündnisse wurden gebildet, Demonstrationen abgehalten, offene Briefe verfasst, Spendenaktionen organisiert, Luftbrücken unterstützt. Afghan*innen aus aller Welt nutzen ihre Social-Media-Kanäle, um Bewusstsein zu schaffen und sich miteinander zu vernetzen. Doch eine Frage bleibt: Wie verändert man von außen nachhaltig die Lage vor Ort?

Das Spektrum an Meinungen zur aktuellen Lage in Afghanistan ist breit gefächert und reicht von Positionen, die mit den westlichen Einsätzen sympathisieren und der Meinung sind, diese sollten fortgesetzt werden, über eine grundsätzliche Verurteilung der Einsätze bis hin zu Taliban-Befürworter*innen. Und alle meinen zu wissen, was für das Volk vor Ort am besten ist. Dabei schauen wir, unabhängig von unserer politischen Gesinnung, immer aus einer privilegierten Perspektive auf die Menschen dort und sind oftmals geleitet von einem savior complex, von survivor’s guilt und transgenerationaler Traumatisierung. Ein kollektiv auf mehreren Ebenen emotional belastetes Volk, das über verschiedene Kontinente hinaus gemeinsames Leid empfindet, scheitert immer wieder an genau jenen Verletzungen, die es nicht zu heilen vermag. Wer ihm welche Verletzungen zugefügt hat und vor allem, wie es über diese hinwegkommen kann, ist auch noch eine offene Frage. Klar sollte jedoch sein, dass weiterhin Druck auf die Politik ausgeübt werden muss.

Wir hoffen auf die Unterstützung jener Menschen, die Leid erkennen und für eine gerechte Welt einstehen, und wir wünschen uns aktive und organisierte Solidarität. Wir erwarten, dass die Regierung der Taliban in ihrer jetzigen Form nicht anerkannt wird, und klagen den deutschen Staat sowohl für den gescheiterten Bundeswehreinsatz als auch für die grob fahrlässigen Handlungen in Form unterlassener Hilfeleistung während der Evakuierungsmission an. Außerdem fordern wir die Beendigung der finanziellen Unterstützung der Nachbarländer Afghanistans, die aktiv den Terror ermöglichen und unterstützen, die Beschleunigung der Familienzusammenführung und eine langfristige und zuverlässige Planung für die Aufnahme aller Schutzsuchenden.

Die Menschen in Afghanistan leiden unter akuter Not und brauchen keine Lippenbekenntnisse, sondern Taten und Konsequenzen. Das Land wurde jahrzehntelang geopolitisch ausgenutzt und nachhaltig geschwächt. Es ist an der Zeit, dass die Zuständigen endlich Verantwortung übernehmen.