News | Türkei - Westasien im Fokus Grund für die Krise in der Türkei ist die Kriegspolitik und das Präsidialsystem

Ein Interview mit Mithat Sancar, Ko-Vorsitzender der HDP

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Mithat Sancar, Professor für Verfassungsrecht und Ko-Vorsitzender der HDP. Foto: Halkların Demokratik Partisi

Wie sehen Sie das aktuelle wirtschaftliche und politische Klima in der Türkei? Was sind Ihre Lösungsvorschläge?

Die Türkei befindet sich derzeit in einer äußerst tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Die bestehenden Probleme werden von Tag zu Tag schlimmer, während immer weiter neue hinzukommen. Wir haben es mit einem antidemokratischen, autoritären Ein-Mann-Regime zu tun, das völlig außerstande ist, die Probleme zu bewältigen. Es ist nicht mehr regierungsfähig und verliert jeden Tag an gesellschaftlicher Legitimität.

Wir sind überzeugt, dass zwei wesentliche Faktoren für diese Krise verantwortlich sind: Erstens der Fokus auf eine kriegsorientierte Politik seit Beendigung des Friedensprozesses im Jahr 2015, und zweitens, die Etablierung des Präsidialsystems im Jahre 2018. Diese beiden kritischen Wendepunkte sind die Hauptursachen für die aktuelle Krise in der Türkei. Das Land wird despotisch regiert, der «Palast» trifft alle Entscheidungen, sodass das Parlament entmachtet, die Demokratie ausgehebelt und ihre Kontrollmechanismen zerstört werden, während ein sicherheitspolitischer und militaristischer Kurs die Haltung in der Kurd*innenfrage und im Nahostkonflikt prägt. Wir denken, dass dieser Regierungsansatz, der komplett den Bezug zur Realität verloren hat, nicht tragfähig ist, und lehnen uns daher dagegen auf.

Interviewt wurde Mithat Sancar. Er ist Professor für Verfassungsrecht und Ko-Vorsitzender der HDP.

Sibel Yiğitalp hat ihn interviewt. Sie war von 2015–2018 Abgeordnete der HDP in Diyarbakır.

Das als Lösung für die Krise vorgestellte «neue Wirtschaftsmodell» bedeutet im Wesentlichen «billige Arbeitskräfte – mehr Autoritarismus». Dieses Modell strebt Wachstum auf Basis von Einkommensungleichheit an und führt dazu, dass unsere Bevölkerung immer weiter verarmt. Durch die Einschränkungen unserer Grundrechte und -freiheiten werden die demokratischen Wege verschlossen, dagegen zu protestieren. Diese Entwicklung lässt sich aber aufhalten.

Entgegen der zerstörerischen Devise «billige Arbeitskräfte – mehr Autoritarismus» stehen wir für ein Modell der «gerechten Verteilung und des Übergangs zu einem freien und demokratischen Leben». Als Demokratische Partei der Völker (HDP) fordern wir eine Regierungspolitik, die dafür sorgt, dass Ressourcen dem Gemeinwohl dienen, Einkommen gerecht verteilt werden und die Menschen frei leben können. Wir wollen, dass öffentliche Mittel im Interesse des Volkes verwendet und nicht einer Handvoll Aktionär*innen und privilegierten Unternehmen überlassen werden. Daher setzen wir uns für ein möglichst breit aufgestelltes demokratisches Bündnis ein. Wir wollen eine Koalition aufbauen, die für Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden einsteht.

Es gibt Forderungen, die HDP zu verbieten und Hunderte von Mitgliedern, einschließlich den Ko-Vorsitzenden, mit Politikverboten zu belegen. Was schätzen Sie das Parteiverbotsverfahren gegen ihre Partei ein?

Sowohl der Kobanê-Prozess als auch das Verbotsverfahren sind Racheprozesse, Manöver der politischen Vergeltung und Liquidation. Sie sind Schlüsselelemente eines langbestehenden politischen Putschprojekts und haben keine rechtliche Grundlage, sondern sind politisch motiviert. Natürlich nehmen wir die Verteidigung dennoch ernst und wissen, dass der politische Kampf die beste Verteidigung ist. Daher bereiten wir uns auf alle Prozesse argumentativ gründlich vor, wie auch die Vorverhandlung zum Parteiverbotsverfahren gezeigt hat.

Ich bin weiterhin überzeugt, dass die Mitglieder des Verfassungsgerichts mehrheitlich unabhängig entscheiden und den rechtlichen Bedenken stattgeben werden. Das Hauptproblem wird eher darin bestehen, dass auf sie in nächster Zeit enormer Druck ausgeübt werden wird. Daher müssen wir für breiten gesellschaftlichen Rückhalt sorgen, damit das Verfassungsgericht unabhängig und auf gesetzlicher Grundlage entscheiden kann. Auch dies muss eines der Ziele der bereits erwähnten demokratischen Koalition sein.

Die aktuelle Regierung will den Kurd*innen politische Macht und Subjektstatus verwehren und versucht, dies durch ein Parteiverbot zu erreichen. Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Falls dem Verbotsantrag stattgegeben wird, haben wir ganz sicher trotzdem mehr als nur eine Option, darüber machen wir uns keine Sorgen. Wir wissen nämlich, dass wir eine Schlüsselkraft sind, um die Zukunft der Türkei auf Basis von Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit aufzubauen. Selbst wenn das Verbot kommt, sind wir stark genug, um die türkische Gesellschaft für uns zu gewinnen. Das schaffen wir, daran besteht kein Zweifel.

Wie sehen Sie die Rolle und Position der HDP in der türkischen Politik?

Die HDP ist mit ihrem Organisationsmodell und ihrer pluralistischen Struktur ein wichtiger Motor und Garant zur Wahrung von Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit im innen- und regionalpolitischen Kontext. Das ist kein bloßer Slogan. Unsere politische und zahlenmäßige Stärke ist sehr deutlich, Tag für Tag finden wir mehr gesellschaftliche Unterstützung. Das zu ignorieren oder die HDP und die Kurd*innen aus der politischen Gleichung zu nehmen, hat diesem Land noch nie Frieden und Wohlstand gebracht. In Zeiten, in denen Politiker*innen das Land in Kriege hineinziehen, Demokratie und Rechtsstaat ausgehöhlt werden, wirtschaftliche und soziale Krisen ausbrechen, Immunitätsgesetze zur Zunahme von Banden und mafiösen Strukturen führen und alle möglichen Formen von Diskriminierung extreme Ausmaße erreichen – in solchen Zeiten werden auch immer die staatlichen Zwangs- und Gewaltmaßnahmen in der Kurd*innenpolitik des Staates verschärft, das dürfen wir nicht übersehen.

Die kritische Phase, die wir derzeit durchlaufen, hat unsere Schlüsselrolle gewissermaßen verfestigt. Sowohl bei den Parlaments- als auch bei den Präsidentschaftswahlen wurde ganz klar, wie wichtig unsere Haltung ist. Diese Stärke wollen wir zugunsten der Türkei und ihrer Region nutzen und trotz Druck und Repressionen versuchen wir, unsere politische Aufgabe zu erfüllen. Dieses Ziel wollen wir durch das demokratische Bündnis erreichen, das wir als dritte Option vorschlagen. Wir glauben, dass eine demokratische, friedliche, auf sozialer Gerechtigkeit basierende Zukunft, die wir uns für dieses Land wünschen, nur mit einer pluralistischen, menschenrechtsorientierten Koalition verwirklicht werden kann.

Welche Erwartungen haben Sie an die neu gewählte Bundesregierung in Deutschland?

Wir gratulieren der neuen Koalition in Deutschland und wünschen ihr viel Erfolg. Die Merkel-Ära war für die Bürger*innen Deutschlands zweifellos wichtig. Wir mussten diese Regierung für ihren Kurs in der Migrations- und Geflüchtetenpolitik immer wieder kritisieren und sie ermahnen, die universellen Menschen- und Freiheitsrechte zu gewährleisten. Wir hoffen – und das ist uns wirklich sehr wichtig –, dass die neue Regierung auf allen Feldern eine Politik verfolgen wird, die auf den Grundsätzen der Menschenrechte, des Umweltschutzes und der sozialen Gerechtigkeit basiert, vor allem mit Blick auf Migrant*innen und Geflüchtete, die am stärksten benachteiligte Gruppe in der deutschen Gesellschaft.

Welche Erwartungen haben Sie an die Europäische Union?

Wir erwarten, dass die Europäische Union ihre Gründungsprinzipien der Menschenrechte und Demokratie unter keinen Umständen zum Verhandlungsgegenstand macht. Leider müssen wir feststellen, dass diese Prinzipien in der Beziehung zur Türkei ausgeblendet und manchmal sogar komplett ignoriert werden. Die Demokratisierung der Türkei und ihre Entwicklung hin zu einem Staat, der die Menschenrechte würdigt und im Einklang mit den EU-Gründungsprinzipien ist, ist für die Zukunft der Europäischen Union sehr wichtig. Wir denken, dass die Duldung antidemokratischer Entwicklungen und Strukturen weder der Türkei noch der EU nützt.

Übersetzung von Çiğdem Üçüncü und Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective.