«Reisende der Weltrevolution», so der Titel von Brigitte Studers neuem Buch, lässt unwillkürlich an Robert Cohens fulminanten Roman «Exil der frechen Frauen» [1] denken. Literarisch eindrücklich werden dort Olga Benario, Ruth Rewald und Maria Osten begleitet, wie sie in konspirativem Auftrag durch die Kontinente reisten oder aufgrund ihres Engagements bereits über den Erdball vertrieben wurden. Der Titel erinnert zugleich an Charlotte und Jean Germaine (das sind Charlotte und Hans Baumgarten), die sich in Eugen Ruges ebenso lesenswertem «Tatsachenroman» 1936/37 im Moskauer Hotel «Metropol»[2] wiederfanden und wie auch viele ihrer einstigen Weggefährten nicht wussten, ob sie sich überhaupt noch einmal woanders hin würden bewegen können. In beiden Werken werden von der kommunistischen Idee überzeugte Personen porträtiert, die sich in zweiter oder dritter Reihe, zumeist jedoch außerhalb des Scheinwerferlichts mit ihren Mitteln auch aktiv für ihre Sache einsetzten. Wo zur Rekonstruktion des realen Geschehens ihre aus den Archiven gewonnenen Quellen nicht mehr weiterhalfen, entwickelten sowohl Cohen als auch Ruge mit der Kraft von Romanciers fiktive Elemente, die Erzählstränge spannend verknüpfen, Lebenswege nachzeichnen und Lebensumstände nahebringen. Wenngleich auch Brigitte Studer einige autobiografische Erinnerungen mit erstaunlich wenig Vorbehalten heranzieht, basieren ihre Darstellungen auf der reichhaltigen Grundlage jahrzehntelanger Archivrecherchen und einem als langjährige Professorin für Neue Geschichte an der Universität Bern analytisch geschärften, rein wissenschaftlichen Blick.
Studers «Reisende» sind ein Sample von rund zwei Dutzend der etwa 30 000 Männer und Frauen, für die in der Zwischenkriegszeit Revolution «Arbeit» war – mit der Komintern als ihrer Arbeitgeberin. Studer interessiert sich für ihren professionellen und privaten Alltag, für ihre Arbeitsbedingungen im Allgemeinen und im Konkreten immer dann, wenn die von ihr betrachteten Akteure dorthin unterwegs waren, «wo sie hofften, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu revolutionieren» (S. 14). Reisen sei für sie eine Arbeitsmethode gewesen, die mit großem persönlichen Einsatz «sprachliche Kompetenzen verlangte, Anpassungsfähigkeit, ein hohes Maß an Organisation, Frustrationstoleranz, Verhandlungsgeschick und darüber hinaus Diskretion» – und das in wechselnden Kulturräumen und einem oft gefährlichen Umfeld (S. 37). Bei diesen Männern und Frauen habe es sich um eine «zeitlich situierte Schicksalsgemeinschaft» gehandelt, die sich «die Revolution zum Beruf gemacht» hatte und für die «das politische Engagement in der Komintern zum Arbeitsort» wurde (S. 25). Damit ist eine ganz erfrischend neue Perspektive auf die Geschichte der Kommunistischen Internationale eröffnet, die bei Studer mit einem Methodenmix aus akteurszentrierten, generationellen, raum- und subjekttheoretischen sowie nicht zuletzt auch geschlechterhistorischen Fragestellungen unterlegt wird, konsequent zusammengeführt in einer transnationalen Betrachtungsweise.[3]
Von Studers «Reisenden» sind Georgi Dimitrov, Dimitrij Manuilski, Tina Modotti, Willi Münzenberg, Heinz Neumann, Manabendrah Nath Roy, Karl Radek, Palmiro Togliatti und Elena Stasova sicher die prominentesten. Aber auch – um nur eine kleine Auswahl in alphabetischer Reihenfolge zu nennen – Julius Alpari, Margarethe Buber-Neumann, Michail Borodin, Virendranath Chattopadhyaya («Chatto»), Louis Gibarti, Babette Gross, Jules und Jenny Humbert-Droz, Iren Komjat-Rona, Hilde Kramer, Ursula Kuczynski (Ruth Werner), Heinrich Kurella, Mentona Moser, Jakov Reich (James Thomas), Agnes Smedley, Charlotte Stenbock-Fermor, Evelyn Trent und Vittorio Vidali werden mehrfach konsultiert. Im sozialen Raum der Komintern waren ihre Biografien miteinander verflochten. Sie alle trafen sich an verschiedenen Orten, zumeist kreuzten sich ihrer aller Wege noch an weiteren Stationen. Von Barcelona, Berlin («das zweite globale Betriebszentrum des internationalen Kommunismus», S. 178), Brüssel, Guangzhou, Paris, Shanghai, Wuhan oder auch Zürich, wo die Familie Kirschbaum mit ihren sechs Kindern einen wesentlichen Knotenpunkt für kommunistische Netzwerke bildete, ist in Studers Arbeit mitunter mehr zu erfahren als von Moskau. Dabei wird von 1919 bis 1943 die Komintern im gesamten Zeitraum ihrer Existenz behandelt, mit einem besonderen Augenmerk auf die – zum Teil sich über Jahre hinziehenden, bekanntlich aber gescheiterten – deutschen, chinesischen und spanischen Revolutionsprozesse. Weitere, bei Studer sehr dicht analysierte Schlüsselmomente sind der Zweite Weltkongress der Komintern 1920 in Moskau, die Umstände des «Kongresses der Volker des Ostens» in Baku im selben Jahr sowie der Gründungsprozess der Liga gegen Imperialismus 1926/27.
Studers Blick auf die Angestellten unterhalb der Ebene der politischen Entscheidungsträger lässt sich entnehmen, wie hoch der weibliche Anteil an der alltäglichen Arbeit in der Komintern und wie wichtig auch anfangs das «aktivistische Kapital» (Matondi/Poupeau) war, das die Akteure der Komintern in die Wiege legten. Gerade in den Aufbaujahren, als es noch darum ging, «Außenstellen» der neuen Internationale zu etablieren, waren Improvisationstalent und oft in illegalisierter Existenz angeeignete Kompetenzen gefragt. Studer spricht hier von der «Generation 1920», die «das Fundament des globalen politischen Projekts der Komintern» bildete (S. 31). Diese besaß sowohl das technische Know-how als auch das politische Wissen für derartige Aktivitäten, etwa «wie man ein Flugblatt aufsetzte, wie man zu einer Versammlung sprach, wie man für einen Vortrag Notizen machte, wie man in einer Sitzung argumentierte, wie man einen Artikel verfasste, wie man eine Aktion vorbereitete, wie man Leute mobilisierte, wie man sich das für die politische Aktivität nötige Wissen aneignete (sei es juristisches, ökonomisches oder anderes Wissen)» (S. 40).
Mit zunehmender Institutionalisierung und dem Ausbau der Apparatestrukturen wurden solche Fähigkeiten jedoch in nur kurzer Zeit von jenem Berichtswesen verdrängt, das alsbald seine repressiven Potenziale entfalten sollte. Nachgefragt waren nun Linientreue und «bürokratische Erfahrung» (S. 191), damit einhergehend habe sich auch die Personalpolitik verändert. Dieser Wandel ist konzis dargestellt im Kontrast zwischen der Redaktion der «Internationalen Pressekorrespondenz», dem Westeuropäischen Büro und dem Westeuropäischen Sekretariat der Komintern in Berlin.
Studer beschäftigt sich noch mit vielen weiteren, vor allem lebensweltlichen Fragen, die das Reisen auf für die Komintern gepackten Koffern mit sich brachte – zu viele, um sie an dieser Stelle ausführlich würdigen zu können. Für die Historische Kommunismusforschung schlägt sie mit ihrer Arbeit neue Seiten auf. Einer Globalgeschichte allerdings – wie im Untertitel angekündigt – wird das Buch nur bedingt gerecht.
Dazu mussten die Boden, auf die sich die Akteure begaben, wenn sie als Emissäre des Kommunismus oder Instrukteure für die Weltrevolution regionale oder mentale Grenzen überschritten, materiell und kulturell noch starker analysiert werden. Das Wirken in Lateinamerika beispielsweise wird kaum angesprochen. Inwieweit die Komintern aber einen tatsächlich globalen Anspruch verfolgte, kann in Studers Arbeit sehr gut verfolgt werden. Wer sich zukünftig mit der Geschichte der Komintern oder auch nur den Lebenswegen einzelner ihrer Mitarbeiter*innen beschäftigen mochte, wird an Studers «Reisenden der Weltrevolution» nicht mehr vorbeikommen. Gratulation zu diesem wichtigen Buch!
Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 618 S., 30 EUR
[1] Robert Cohen: Exil der frechen Frauen, Berlin 2009.
[2] Eugen Ruge: Metropol, Hamburg 2019.
[3] Brigitte Studer: The Transnational World of the Cominternians, Basingstoke 2015.
Diese Rezension erschien zuerst in Arbeit – Bewegung – Geschichte. Zeitschrift für historische Studien, Heft 3/21. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.