Als Putin am Montag die Anerkennung der beiden Separatistenrepubliken im Donbas verkündete, gingen vor allem in Moskau vereinzelt Menschen auf die Straße, um ihre Ablehnung gegen den drohenden Krieg auszudrücken. In der Nacht auf Donnerstag zerstörte die neuerliche und unmissverständliche Ansprache Putins jedoch endgültig die letzten Hoffnungen, einen drohenden Krieg noch abwenden zu können. Zeitgleich begannen die russischen Streitkräfte mit der Bombardierung ukrainischer Militärbasen und marschierten aus mehreren Himmelsrichtungen in das Land ein.
Im Gegensatz zur Berichterstattung in deutschen und internationalen Medien hielten sowohl der überwiegende Teil der russischen Presse als auch politische Analyst*innen einen großflächigen Angriff auf die Ukraine bis zum Schluss für wenig realistisch. Dementsprechend überrascht und zum Teil gar fassungslos reagierten nicht nur weite Teile der Gesellschaft, sondern auch Teile der Presse auf den Beginn des Krieges.
Philipp Gliesche ist Projektmanager der Regio Osteuropa in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Während russische Medien angehalten sind, nur noch auf der Grundlage staatlicher Meldungen über den offiziell als «Spezialoperation» deklarierten Angriff zu berichten, unterzeichneten innerhalb weniger Stunden über Hundert russische Wissenschaftler*innen und Journalist*innen einen offenen Brief, um das Blutvergießen unverzüglich zu stoppen. Dmitrij Muratov, Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der Novaya Gazeta, veröffentlichte eine inzwischen hunderttausendfach geschaute Videobotschaft und fand darin gewohnt deutliche Worte: «Niemals werden wir weder die Ukraine, noch die ukrainische Sprache, als Feind anerkennen.» Die Ausgabe der Zeitung am heutigen Freitag trägt den Titel «Russland bombardiert die Ukraine» und erschien in beiden Sprachen. Auch zahlreiche Prominente, Künstler*innen und Sportler*innen äußerten sich ungewohnt deutlich in der Öffentlichkeit.
Noch am Donnerstagabend wurden in ganz Russland sowohl stille Proteste als auch Demonstrationen organisiert. Nach zahlreichen Gesetzesverschärfungen in den vergangenen Jahren ist der individuelle Protest mittels Plakat eine der letzten noch verbliebenen und legalen Protestformen in Russland. Ob in den Provinzen oder Metropolen - die Staatsmacht reagierte äußerst angespannt bis aggressiv auf die Versammlungen. Insgesamt kam es am Donnerstag bei Protesten gegen den Krieg zu mehr als 1.800 Verhaftungen an 61 Orten im ganzen Land. Vielerorts waren die Botschaften «Nein zum Krieg», «Für Frieden» und «Wir brauchen keinen Krieg» zu lesen. Die mit Abstand größten Demonstrationen fanden im Zentrum Moskaus, unter Beteiligung mehrerer Tausend Menschen, als auch in St. Petersburg mit etwa 2.000 Teilnehmer*innen statt. Zugleich war hier das Vorgehen der Sicherheitskräfte am unverhältnismäßigsten und die Zahl der Verhaftungen am größten. Alleine in Moskau wurden mehr als 1.000 Menschen in Gewahrsam genommen.
Im Vergleich zur Größe sowohl der Städte als auch des Landes ist die Anzahl derer, die auf die Straße gehen, überschaubar. So versammelten sich in der Stadt Kirow, mit knapp einer halben Million Einwohnern, am Donnerstagabend etwa 50 überwiegend junge Menschen im Zentrum. Nachdem aus der Gruppe heraus «Nein zum Krieg» gerufen wurde, wies die Polizei darauf hin, dass dies gegen das Versammlungsrecht verstößt, worauf die Gruppe anfing zu tanzen und Anti-Kriegslieder zu singen.
Die Gründe der bisher geringen Beteiligung sind, dass der Krieg in der Breite der Bevölkerung zwar abgelehnt wird, zugleich aber ein Großteil die Anerkennung der beiden Separatistenrepubliken unterstützt und die Schuld für die Eskalation im Westen sieht. Zugleich haben zahlreiche Gesetzesänderungen dafür gesorgt, dass das Versammlungsrecht so stark eigeschränkt wurde, dass es de facto abgeschafft ist. Zudem wird sowohl gewaltfreier als auch legaler Protest derart kriminalisiert und ihm repressiv begegnet, dass viele Menschen Demonstrationen inzwischen aus Angst meiden. Aktuell scheint es so, als wären überwiegend junge und urbane Menschen dazu bereit, für Frieden auf die Straße gehen.
Ob sich auch breite Teile der Gesellschaft offen gegen einen Krieg aussprechen werden, wird sich vermutlich bereits in den nächsten Tagen zeigen. Denn wie lange dieser Krieg andauert, liegt auch an der Haltung der russischen Gesellschaft. Oder um es mit den Worten von Dmitrij Muratov zu sagen: «Nur eine russische Friedensbewegung kann das Überleben auf unserem Planeten retten.» Unterstützung wird sie dabei am Wochenende aus ganz Europa erhalten, wo derzeit an vielen verschiedenen Orten zahlreiche Friedensdemonstrationen organisiert werden.