News | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine Der Krieg in der Ukraine, von innen betrachtet

Ein Interview mit Oksana Dutchak

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Oksana Dutchak,

Ukrainische Flüchtlinge warten am Grenzkontrollpunkt zu Ungarn, 27. Februar 2022 CC BY 4.0, Wikimedia Commons

Wie ist die momentane Situation in der Ukraine und wie hat die Bevölkerung auf den Kriegsausbruch reagiert?

Die Situation ist sehr verfahren. Während der ersten Tage schien es, als wolle die russische Armee Zivilist*innen verschonen. Sie versuchten zunächst die militärische Infrastruktur des Landes zu zerstören, wohl in der Annahme, dass Regierung und Bevölkerung sich rasch ergeben würden. Doch ihr Plan ist nicht aufgegangen. Das Geheimdienstversagen auf russischer Seite ist wirklich verblüffend, sie haben sich völlig verkalkuliert. Sie hatten die Rechnung ohne den Widerstand der Armee und der lokalen Bevölkerung gemacht. Das stimmt einerseits hoffnungsvoll, andererseits hat diese Entwicklung auf russischer Seite aber auch zu einer dramatischen Veränderung der Taktik geführt. Sie sind nun dazu übergegangen, Zivilist*innen anzugreifen. Wie es jetzt weitergeht, wissen wir nicht.

Oksana Dutchak ist stellvertretende Direktorin des Zentrums für Sozial- und Arbeitsforschung in Kiew und forscht zu Arbeit und Arbeitsbedingungen, sowie zur Ungleichheit der Geschlechter.

Was die Zivilbevölkerung angeht, schieben viele westliche Linke nun der NATO die Schuld in die Schuhe. Aber nichts hat der Idee eines NATO-Beitritts in der ukrainischen Bevölkerung so viel Popularität verschafft wie die aktuelle russische Invasion. Einer jüngst veröffentlichten Umfrage zufolge befürworten heute 76 % der ukrainischen Bevölkerung einen Beitritt zu dem Militärbündnis. Dieser Rekordwert erklärt sich aus der sprunghaft angestiegenen Zustimmung im Osten und Süden des Landes, wo bislang eine ablehnende Haltung gegenüber der NATO überwog. Als militärische und zivile Vertreter*innen der USA immer wieder vor einem russischen Angriff warnten, haben nur wenige ihnen Glauben geschenkt. Ich selbst habe bis zum letzten Augenblick nicht an einen Angriff geglaubt. Nun deutet aber alles darauf hin, dass Russland sich schon seit Monaten oder sogar noch länger aktiv auf diese Großinvasion vorbereitet hat.

Die Bevölkerung ist jetzt sehr gegen Russland eingenommen. Der Versuch Russlands, die Ukraine vollständig dem eigenen Einfluss zu unterwerfen, verkehrt sich somit genau in sein Gegenteil, denn die Stimmung ist jetzt in weiten Teilen sehr antirussisch. Es gibt auch andere Stimmen, die nicht in diesen Chor einstimmen. Aber angesichts dessen, was um uns herum passiert –  etwa die Bombardierung der mehrheitlich russischsprachigen Stadt Charkiw, eine der größten Städte des Landes – ist es schwer, gegenüber Russland keine radikale Abneigung zu empfinden. Der Hass ist derzeit verständlicherweise sehr stark. Unter den gegebenen Umständen ist es kaum möglich, in Russland etwas anderes zu sehen.

Einige ukrainische Linke haben seit geraumer Zeit vergeblich auf die Gefahren einer Invasion hingewiesen, aber niemand hat hingehört. Nun werden wir Zeug*innen, wie Russland nach seiner alten imperialen Größe trachtet, mit schlimmen Folgen für uns, die russische Bevölkerung und die globale Weltordnung.

Manche meiner Freund*innen haben sich entschieden, in ihren unter Beschuss stehenden Städten auszuharren, auch einige Verwandte konnten oder wollten nicht evakuiert werden. Viele von ihnen bereiten sich nun darauf vor, einen Guerillakrieg zu führen. Auch hier lag die russische Regierung völlig daneben: sie verkündete, die Truppen würden vor Ort mit Freuden empfangen werden – ob sie das wirklich selbst geglaubt hat, kann ich nicht beurteilen. Stattdessen machen nun Aufnahmen von Zivilist*innen die Runde, die sich mit bloßen Händen den Panzern entgegenstellen. Wahrscheinlich haben unter anderem solche Szenen Russland dazu bewogen, zu einer Zermürbungstaktik überzugehen und vermehrt Luftangriffe auf zivile Ziele zu fliegen. Den Bombern können zivile Straßenblockaden nichts anhaben.

In einigen Fällen haben Leute auch Panzer mit Molotow-Cocktails etc. attackiert. Die Menschen in Kiew und vielen anderen Städten treffen Vorkehrungen für den Partisanenkampf. Selbst wenn das militärische Kalkül der russischen Regierung irgendwie aufgeht und es ihr gelingt eine Marionettenregierung einzusetzen, könnte solch eine von außen oktroyierte Regierung sich nicht lange halten. Denn es würde eine heftige Eskalationsspirale einsetzen, die auch die Zivilbevölkerung miteinbeziehen würde. Nicht alle beteiligen sich an solchen Aktionen, aber es ist unter dem Eindruck der aktuellen Geschehnisse ein starker Sog entstanden, sich zu involvieren. Ich gehe davon aus, dass die Menschen vielerorts auch probieren werden, gewaltfreien Widerstand zu leisten. Aber wenn Städte aus der Luft verwüstet werden, kann man sich kaum in irgendeiner Weise wehren.

Dem Großangriff auf die Ukraine war sowohl von amerikanischer, als auch von russischer Seite ein wochenlanges Kriegsgerassel vorausgegangen. Wie positionieren sich feministische Organisationen und die organisierte Arbeiter*innenschaft in der aktuellen Situation?

Von verschiedenen Seiten kamen unterschiedliche Reaktionen. Leute melden sich als Freiwillige um die Zivilbevölkerung zu unterstützen. Unter der Oberfläche entstehen viele selbstorganisierte Strukturen, die dabei helfen, Menschen zu evakuieren und an einen sicheren Ort zu bringen, oder diejenigen mit Nahrung und Medikamenten zu versorgen, die in ihren Städten bleiben wollen oder müssen. Darüber hinaus gibt es auch einige unterschiedlich gut organisierte Graswurzelinitiativen von Menschen, die als Freischärler*innen im Krieg mitkämpfen wollen.

Viele nutzen ihre Beziehungen ins Ausland, um Menschen über die Grenze zu helfen oder eine Unterkunft in Polen, Rumänien oder Moldawien zu vermitteln. Diese Netzwerkarbeit spielt auch eine große Rolle bei den anarchistischen, feministischen und linken Organisationen. In der Stadt findet gerade viel Selbstorganisation statt, sowohl auf dem Gebiet der zivilen Hilfe, als auch in Vorbereitung auf den bevorstehenden Einmarsch russischer Truppen.

Einige Menschen hängen an der Grenze fest und erfahren dort rassistische Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe. Hast du dazu weitere Informationen?

Das ist ein reales Problem, aber ich weiß nicht, ob diese Diskriminierung systematisch erfolgt. Menschenrechtsaktivist*innen versuchen jedoch, die Öffentlichkeit auf diese Missstände aufmerksam zu machen. Die Regierung hat kürzlich in einer offiziellen Stellungnahme Diskriminierung deutlich missbilligt und online ein Sonderformular für ausländische Studierende bereitgestellt, das ihren Grenzübertritt erleichtern soll.

Es ist unverkennbar, dass Europa sich in dieser Frage sehr uneinheitlich verhält. Polen hat als eines der ersten Länder seine Grenzen für Geflüchtete aus der Ukraine geöffnet. Das ist kein Vergleich zum Vorgehen derselben Regierung an der Polnisch-Belarussischen Grenze. Der Unterschied ist augenfällig und ich sehe das sehr kritisch. Hier geht es ganz klar um Rassismus. Das Problem ist aber nicht, dass diese Länder zu nett gegenüber Ukrainer*innen sind, sondern dass sie andere Leute schlecht behandeln. Das alles sagt viel über Rassismus und die ungleiche Wahrnehmung verschiedener Länder aus. 

Ist es möglich eine Antikriegsposition zu entwickeln, ohne dabei für Russland oder die NATO Partei zu ergreifen? Können Frauen, Migrierende und Arbeiter*innen eine transnationale Bewegung aufbauen, ohne der nationalistischen Logik der Geopolitik anheimzufallen?

Wenn ich mit Linken aus anderen Ländern rede, bin ich immer wieder überrascht darüber, wie sehr sie darauf bedacht sind, nur ja die NATO nicht zu gut wegkommen zu lassen. Bei jeder Gelegenheit weisen sie darauf hin, dass «die NATO auch Dreck am Stecken hat». Selbstverständlich kann man die NATO für ihr Auftreten im Vorfeld kritisieren, aber wenn jetzt Bomben vom Himmel fallen, dann trägt dafür ausschließlich Russland die Verantwortung. Für uns vor Ort stellt sich die Situation anders dar, weil wir erleben, wie sich die russische Regierung verhält. Sie halten stur an ihren Plänen fest. Da ausschließlich Russland in die Ukraine einmarschiert ist, scheint es uns kaum sinnvoll zu fordern, dass Russland und die NATO verschwinden sollen. Denn für uns ist es völlig offensichtlich, dass nicht die NATO unsere Städte in Schutt und Asche legt.

Es ist nicht möglich, indifferent zu bleiben. Vor allem hier vor Ort kommst du nicht umhin, dich für eine Seite zu entscheiden. Ich rate west- und osteuropäischen Linken davon ab, eine indifferente Haltung einzunehmen. Wer hier nicht Partei ergreift, will seine Hände in Unschuld waschen.

Ein Freund sagte mir, die NATO sei an den Entwicklungen mitschuldig und dass die Ukraine nach diesem Krieg ein sehr nationalistisches, fremdenfeindliches Land mit großen Problemen sein werde. Ich antwortete ihm, er habe damit wahrscheinlich recht, doch ich könne erst später über seine Sätze nachdenken, wenn unsere Städte nicht länger unter Feuer stehen und die russische Armee abgezogen sein wird. Wir können diese Probleme jetzt nicht lösen. Wir können darüber sprechen, aber wir dürfen den Elefanten im Raum dabei nicht übersehen.

Einige Linke meinen, wir müssten verhandeln und die Neutralität der Ukraine zusichern, um aus dieser Situation herauszukommen. Ich kann mich dieser Auffassung derzeit schwerlich anschließen. Diese Position hat etwas Koloniales an sich, denn sie verweigert einem Land seine Souveränität. Es ist Sache der Bürger*innen eines Landes zu entscheiden, was sie tun wollen und damit sie das tun können, darf es keinen Krieg geben. Noch einmal, dieser Krieg bestimmt die Geschicke der Ukrainer*innen über ihre Köpfe hinweg. Auch wenn es gerne heißt, es gebe im Leben immer eine Wahl, sehen viele Ukrainer*innen gerade keine Wahl mehr für sich.

Wir geben unsere Handlungsmacht nicht auf. Doch einige Linke – im Westen – sprechen uns unsere Handlungsmacht ab und erteilen den Ukrainer*innen Ratschläge was sie tun sollen.

Die Ukraine soll sich nicht für eine Seite entscheiden, sie soll keinem Lager angehören und ihre Neutralität bewahren – das sind alles sehr schöne Worte. Doch die Geschichte lehrt, dass ein neutraler Status starken, reichen und wehrhaften Staaten vorbehalten ist. Die Ukraine war nicht in der Lage, sich gegen einen Angriff zu verteidigen und ich weiß nicht, wie lange wir der Invasion jetzt noch standhalten können, da wir es versuchen.

Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 noch über die Neutralität der Ukraine zu sprechen, klingt wie Hohn in meinen Ohren. Die Ukraine hat ihr Nuklearwaffenarsenal gegen entsprechende Sicherheitsgarantien aufgegeben. Eine Reihe von Ländern, darunter die USA, Großbritannien und Russland, gaben der Ukraine verbindliche Zusagen, nach denen ihr Hoheitsgebiet unverletzlich sei und sie keine Angriffe anderer Staaten zu befürchten habe. Russland hat diese Zusagen 2014 gebrochen. Ich kann daher gut verstehen, dass die ukrainische Gesellschaft seither kaum noch etwas auf solche Zusagen gibt. Die Garantien haben sich als wertlos herausgestellt. Sie können jederzeit gebrochen werden, ohne dass dies irgendwelche rechtlichen oder anderweitige Konsequenzen nach sich zöge.

Ich weiss nicht, wie wir dieser Wahl zwischen Russland und der NATO entkommen können. Ich habe darauf gerade keine andere Antwort.

Du hast wahrscheinlich einige der Statements gelesen, die die russische Invasion verurteilen und Unterstützung für die ukrainische Bevölkerung zum Ausdruck bringen. Einige russische Feminist*innen bezeichnen den Krieg in ihrem Aufruf als Fortsetzung der alltäglichen Gewalt, die Putins Regime gegen Frauen, LGBTQI+-Personen und alle jene ausübt, die die Regierung nicht unterstützen oder sich gegen sie auflehnen. In zahlreichen Städten kam es zu Antikriegsdemonstrationen, die Putins Rolle auf verschiedenen europäischen und außereuropäischen Schauplätzen anprangerten. Was denkst du über diese Proteste? Wie sollte eine transnationale Friedenspolitik zum aktuellen Zeitpunkt aussehen?

Es führt kein Weg daran vorbei, sehr viel Druck auf Russland auszuüben. Sie sind zu weit gegangen.

Ich bin sehr dankbar für die Proteste in aller Welt. Ich setze einige Hoffnung in die Protestierenden, weil wir schon jetzt sehen, dass sie Druck auf ihre Regierungen ausüben können. Das ist eine Art humanitärer Hilfe, die wir zusätzlich zur militärischen Unterstützung benötigen, die zum gegebenen Zeitpunkt ebenfalls sehr wichtig ist. Wenn man in einem Land lebt, das von einem anderen Land überfallen wird, lässt sich ein antimilitaristischer Standpunkt schwerlich aufrechterhalten.

Ich möchte auch allen meinen Dank aussprechen, die jetzt in Russland auf die Straße gehen. Einige Russ*innen, die im Land selbst oder im Ausland leben, legen sich nun sehr ins Zeug, um Proteste zu organisieren und die Geflüchteten aus der Ukraine zu unterstützen. Auch in anderen Ländern beschaffen Leute Hilfsgüter und stellen Informationen oder Infrastruktur zur Verfügung.

In der Ukraine wird nun viel über einen Aufstand in Russland geredet, der vielleicht einen Ausweg aus unserer Lage weisen könnte. Leider glaube ich nicht, dass das passieren wird. In Russland und vielen anderen postsowjetischen Staaten – darunter vermutlich auch die Ukraine – sind zivilgesellschaftliche Strukturen ziemlich schwach entwickelt und dieser Mangel lässt sich auch in einer akuten Notlage nicht von einem Tag auf den anderen beheben. Daher glaube ich nicht, dass in der russischen Gesellschaft die nötigen Kräfte existieren, um Putin zu stoppen. So traurig das klingen mag, ich halte eine Palastrevolution aus den Kreisen der russischen Elite da noch für wahrscheinlicher. So etwas könnte kurzfristig eine entscheidende Wendung der Situation herbeiführen. 

Was sind jetzt die drängendsten Fragen für Frauen, Arbeiter*innen, Migrant*innen und die Menschen in der Ukraine?

Die drängendste Angelegenheit ist die humanitäre Hilfe. Außerdem sollten wir auf jeden Fall weiterhin politischen Druck aufbauen, selbst, wenn wir die Dinge nur in geringem Maße beeinflussen können. Für Russland gilt das leider nicht, weil die Regierung versucht, die eigene Bevölkerung von allen Informationskanälen abzuschneiden. Das ist verheerend, aber wir können nichts daran ändern. Ich habe manchmal das Gefühl, dass gerade eine Art Mauer quer durch Europa errichtet wird.

Und ich möchte noch eine andere Sache erwähnen, die gerade in linken Kreisen aufkommt. Ganz gleich wie die Zukunft des Landes genau aussehen wird, ein Erlass der ukrainischen Auslandsschulden wird dafür von zentraler Bedeutung sein. Denn der Wiederaufbau wird gewaltige Mittel beanspruchen. Einige linke Gruppen diskutieren daher über einen Schuldenschnitt des Internationalen Währungsfonds. Diese Maßnahme würde auch die wirtschafts- und sozialpolitische Unabhängigkeit der Ukraine stärken. Es handelt sich hier um eine weitere Forderung, der ich größere öffentliche Aufmerksamkeit wünsche – und ich kenne einige Leute, die bereits darauf hinarbeiten.

Wie können wir der geopolitischen Weltsicht entrinnen, nach der nur Staaten und deren Interessen zählen, während doch in Wirklichkeit vor allem die einfachen Leute die schrecklichen Folgen geopolitischer Entscheidungen ausbaden müssen.

Ich stimme voll und ganz zu, dass es gut wäre, dieser Logik zu entgehen. Aber wir können die Regierenden leider nicht dazu zwingen, diese Logik aufzugeben. Vor allem in autoritären Staaten ist die Regierung der Ort, an dem die Entscheidungen fallen. Gerade wenn wir über die Situation nachdenken, ist es wichtig nicht zu vergessen, dass die Welt auch anders eingerichtet sein könnte – gleichwohl setzt sich diese Logik gegenwärtig unerbittlich durch. Wir können diese Ebene der Analyse nicht überspringen, da es nun einmal die Ebene ist, auf der Putin sich bewegt. Die Entscheidungen, die er und seine Vertrauten treffen, sind derzeit der bestimmende Faktor unserer Lage. Wo es eine ausgeprägte Zivilgesellschaft gibt, etwa in Form starker Gewerkschaften, ist es eher möglich, aus dieser Logik auszubrechen. In sehr hierarchischen Gesellschaften, in denen von oben nach unten durchregiert wird, haben die meisten Menschen fast keinen Einfluss auf den Gang der Dinge. Unter diesen Bedingungen bleibt die Logik staatlicher Machtpolitik die einzige Analyseebene, die wenigstens über eine gewisse Erklärungskraft verfügt. Das ist leider so. Ich fühle mich selbst nicht wohl damit, entlang dieser Bahnen zu denken, aber ich sehe gerade keine Alternative. Einige Leute weigern sich, diesen Tatsachen ins Auge zu sehen. Beflügelt durch die enorme Energie, die die Ukrainer*innen in den letzten Tagen beim Aufbau ihrer solidarischen Netzwerke gezeigt haben, versuchen sie eine optimistische Stimmung zu verbreiten. Diese Tendenzen sind extrem wichtig, aber ich mache mir da trotzdem nichts vor. Das kann sehr leicht zerstört werden, weil wir mit einem Land im Krieg liegen, das niemanden mehr überzeugen will. Irgendjemand hat gesagt, im Unterschied zu den westlichen Hegemonialmächten strebe der russische Staat nicht nach «soft power». Ich weiß nicht, ob Russland sich jemals dafür interessiert hat, aber es ist eindeutig, dass sie nun einen Scheiß darauf geben und ganz unverhohlen auf nackte Gewalt setzen.

Welche Rolle können länderübergreifende Friedens- oder Antikriegsbewegungen deiner Meinung nach spielen? Wie können wir aus einer feministischen, herrschaftskritischen und antirassistischen Perspektive zu einer Bewegung beitragen, die die Situation drehen kann?

Es sind sehr schwere Zeiten für solche internationalen Graswurzelbewegungen oder eine Friedenspolitik von unten, weil plötzlich offenbar geworden ist, dass sich die Welt verändert hat. Das kam nicht für alle, aber doch für viele Leute überraschend. Einige von uns Linken hatten sich zu sehr daran gewöhnt, in einer unipolaren Welt zu leben, die nun passé ist. Im besten Fall braucht die Bewegung eine Weile, um den analytischen Rahmen zu überdenken, den sie verwendet, um die Welt und die ihr innewohnenden Bedrohungen zu verstehen. Sie würde merken, dass diese Bedrohungen sich dynamisch verändern und die innere Struktur der Realität bereits in Fluss geraten ist. Ohne diesen Reflexionsprozess zu durchlaufen, kann die Antikriegsbewegung in der aktuellen Situation keinen Schritt vorwärtsgehen. Wenn sie das aber ernsthaft versucht, die richtigen Lehren aus dem gegenwärtigen Augenblick zieht und den Leuten vor Ort zuhört, dann wird sie schließlich zu einem neuen Verständnis der Welt und der Gefahren für den Frieden gelangen. Wenn sie diese Erfahrung nicht verarbeitet, dann werden die entsprechenden Teile der Friedensbewegung mitsamt ihren Parolen und Aktionen daran scheitern, ihr eigenes Ziel zu erreichen.

Die transnationale Streikplattform hat ein Statement gegen den Krieg verfasst, das zumindest in Europa von zahlreichen Organisationen unterzeichnet wurde. Ihr Ziel ist es, mit einer gemeinsamen europäischen Stimme zu sprechen. Findest du solche Bemühungen gehen in die richtige Richtung?

Solche Versuche sind schon Teil jenes Umdenkens, über das ich eben gesprochen habe. Das Statement ist deshalb wichtig für die Bewegung und auch darüber hinaus, besonders um die Frage zu klären, was wir in nächster Zeit tun können. Es besteht jedoch die Gefahr, Friedensverhandlungen um jeden Preis zu fordern. Wenn wir bereit sind, jedweden Preis zu zahlen, um den Frieden wiederherzustellen, dann tappen wir in eine gefährliche Falle: denn letztlich läuft das darauf hinaus, alles zu tun, was Russland befiehlt, damit sie ihre kriegerischen Handlungen einstellen und Menschenleben gerettet werden.

Solche Überlegungen schaffen jedoch lediglich kurzfristig Abhilfe, denn wenn Russland die Ukraine besetzt, dann werden sie hier eine Regierung nach ihrem Geschmack einsetzen – konservativ, reaktionär und repressiv, so wie wir es aus Russland kennen oder sogar noch schlimmer. Das würde unter anderem für viele Menschen wie mich, für linke Aktivist*innen, Feminist*innen und LGBTs, für Gewerkschafter*innen, Journalist*innen und Oppositionelle Repressionen nach sich ziehen. Meiner aktuellen Einschätzung nach würde der Guerillakrieg dann erst richtig losgehen. Ich befürchte, dass das Land unter viel Leid und großen Verlusten auseinanderbrechen würde. Es ist nicht so, dass Russland hier einmarschiert und dann aufhört das zu tun, was sie hier in den letzten Tagen getan haben und wovon ihr eigenes Land seit etlichen Jahren geprägt ist. Die Idee eines Friedens um jeden Preis ist daher eine tückische Falle, auch wenn einige Leute das nicht verstehen.

Das Interview erschien zuerst bei Lefteast

Übersetzung von Maximilian Hauer für Gegensatz Translation Collective