News | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus Der nächste Coup der libanesischen Banken

Der Libanon in der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise seiner Geschichte

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Protestierende prangern vor dem Hauptsitz des libanesischen Bankenverbands die «Bankenherrschaft» an. Beiruter Innenstadt, Libanon. Oktober 2019. Foto: Marwan Tahtah/The Public Source

Seit mehr als zwei Jahren steckt der Libanon in der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Das libanesische Pfund hat mehr als 90 Prozent seines Werts verloren, laut UN leben heute über 70 Prozent der Bevölkerung in Armut. Im Mai 2020 hatte das Land unter dem damaligen Ministerpräsidenten Hassan Diab zum ersten Mal Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgenommen, die jedoch zäh verliefen und letztlich ohne größere Fortschritte abgebrochen wurden. Nach der Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 trat die Diab-Regierung geschlossen zurück, das Land blieb mehr als ein Jahr ohne Regierung. Der im September 2021 eingesetzte Ministerpräsident Najib Mikati nahm die Verhandlungen mit dem IWF wieder auf. Kurz darauf gelangte der Plan des libanesischen Bankenverbands ABL an die Öffentlichkeit, den die Regierung mit dem IWF diskutiert. Der libanesische Medienpartner des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beirut, The Public Source, hat sich den Plan und die damit verbundenen Visionen und Ideen angeguckt und eingeordnet.

Im Libanon bestimmen noch immer diejenigen über die Zukunft des Landes, die ihm seine Gegenwart geraubt haben. So hat der libanesische Bankenverband ABL einen «Plan zur Wiederbelebung der Wirtschaft» erarbeitet, den die libanesische Regierung wohl zurzeit in den wiederaufgenommenen Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) diskutiert. Denn der ABL und die Oligarchie sind sich besonders nah.

Am 11. Oktober 2021 kam der vertrauliche Entwurf des ABL-Plans an die Öffentlichkeit und verschaffte einen Einblick in die Vorhaben der Banken. Kurz darauf traf sich der ABL-Vorsitzende mit Premierminister Najib Mikati, um den Plan zu besprechen. Dann verkündete sein Stellvertreter, die libanesische Regierung habe die technischen Gespräche mit dem IWF abgeschlossen und sei in Verhandlungen über ein Rettungsprogramm eingetreten.

Die Analyse des ABL-Plans ist nicht überraschend und schockiert dennoch. Sie macht ausschließlich den libanesischen Staat für den ökonomischen und finanziellen Kollaps verantwortlich. Die Zentralbank Banque du Liban (BDL) und die Geschäftsbanken trügen demnach keine Verantwortung. Zudem sollen noch mehr Ressourcen des bereits von seiner Oligarchie ausgenommenen Landes erbeutet werden.

Karim Merhejist Wissenschaftler und Autor bei The Public Source.

Yazan Al-Saadi ist langjähriger Journalist bei The Public Source.

Die Gegenüberstellung eines feindseligen, aufgeblähten, korrupten Staats und einer heroischen Privatwirtschaft, die nur Arbeitsplätze und Wachstum schaffen wolle, ist im Libanon noch absurder als anderswo. Denn hier beherrschen Politiker*innen Schlüsselbranchen der Wirtschaft, insbesondere den Finanzsektor, und hier haben prominente Banker*innen regelmäßig Posten in Ministerien inne.

Der ABL-Plan bekräftigt das Narrativ: Problematisch sei es erst geworden, als der Libanon 2010 «ein unterdurchschnittliches Wachstum und unterdurchschnittliche Produktionszuwächse» erlebt habe, aber erst «die abrupte Aussetzung der Zahlungen auf Staatsanleihen» im März 2020 habe das Land in den Abgrund gestürzt.

In Wirklichkeit wird die libanesische Wirtschaft seit den 1990er Jahren wie ein Schneeballsystem geführt, und die Banken sind die Köpfe hinter dem Betrug. Das System funktionierte, solange ausländische Devisen hineinflossen, ob in Form von Rücküberweisungen von Ausgewanderten, ausländischen Investitionen in Immobilien, internationalen Krediten oder aufgrund des Vertrauens in den BDL-Gouverneur, der lange als ein Garant für Stabilität galt. Sollte das System kollabieren, könnte die Regierung zahlungsunfähig werden, was die libanesischen Banken teuer zu stehen kommen könnte.

Als im März 2020 die Regierung des ehemaligen Premierministers Hassan Diab die Eurobonds (in ausländischer Währung denominierte Staatsanleihen) nicht zurückzahlen konnte, hielt der ABL das für eine Todsünde, obwohl es im Interesse der Öffentlichkeit war.

Durch den Zahlungsverzug verblieben die benötigten ausländischen Devisen bei der BDL – insgesamt 4,6 Milliarden US-Dollar an fälligen Eurobonds im Jahr 2020 und 4,5 Milliarden für 2021. Aufgrund ihrer Importabhängigkeit ist die libanesische Wirtschaft auf ausländische Devisen angewiesen.

Dies ist eine gekürzte Version des Originals, das in englischer Sprache am 3. Dezember 2021 auf der Homepage von The Public Source erschienen ist.

Hätte die Diab-Regierung die fälligen Eurobonds bedient, «wären die Devisen schnell zur Neige gegangen und der Crash noch größer gewesen», sagt Nasser Saidi, ehemaliger Wirtschafts- und Industrieminister (1998–2000) sowie Vize-Gouverneur der BDL (1993–2003). «Die Banker*innen schieben die Schuld auf die Ausfälle der Eurobonds und versuchen, sich für den größten historischen Fehler, der je in der Zentralbank-, Geld- und Bankenpolitik begangen wurde, aus der Verantwortung zu stehlen».

Saidi zufolge löste eine auf breite Proteste folgende «beispiellose und unangemessene» zweiwöchige Bankenschließung Ende Oktober 2019 den Finanzcrash aus. «Es gab keinen annähernd ökonomischen oder finanziellen Grund dafür.» Vielmehr sei erst dadurch «eine Vertrauenskrise entstanden, die der breiten Öffentlichkeit signalisierte, dass es nicht so gut lief, wie die BDL verkündet hatte». Als die Banken wieder öffneten, «hoben die Leute schnell ihre Einlagen ab».

Zügellose Privatisierung zur Rettung der «Bankster*innen»

Saidi fordert die Gründung einer «libanesischen Investmentfirma», einer Aktiengesellschaft, «die Staatsvermögen, einschließlich Immobilien, bündelt», um «es im Sinne einer maximalen Monetarisierung zu verwalten und die BDL von allen nach libanesischem Recht bestehenden Ansprüchen gegen die Regierung zu entlasten».

Die BDL wäre Eigentümerin aller Vorzugsaktien dieses Unternehmens und würde im Gegenzug alle in libanesischen Pfund denominierten Staatsschulden einbringen. Die BDL könnte dann ihre Verbindlichkeiten bei den Banken auflösen, indem sie Vorzugsaktien ausgibt.

Durch die Privatisierung des Staatsvermögens würde dieser Plan im Grunde Schulden in Vermögen umwandeln, wodurch die BDL und die Geschäftsbanken «ihre Bilanzen bereinigen könnten, während sie ausländische Firmen und Investor*innen anlocken», so Saidi. Die Botschaft an internationale Geldgeber*innen laute: «Schaut euch den Energiesektor, den Verkehrssektor, die Wasserversorgung oder die Flughäfen an. Lasst sie uns günstig einkaufen. Die Finanzierung könnt ihr beisteuern.»

Schockstrategie auf libanesische Art

In ihrem 2007 erschienenen einflussreichen Buch Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus führt die kanadische Autorin und Aktivistin Naomi Klein aus, dass natürliche oder menschengemachte Katastrophen den Mächtigen die beste Gelegenheit bieten, um politische Veränderungen durchzusetzen, die ihren eigenen materiellen und politischen Interessen dienen, und zwar zulasten der Allgemeinheit, die durch die schwere Aufgabe des Überlebens abgelenkt ist und Erschöpfungserscheinungen an den Tag legt.

Der ABL-Plan ist ein Beispiel für eine solche Schockstrategie. Er drängt nicht nur zu einer zügellosen Privatisierung, sondern greift auch auf veraltete, gefährliche Sparmaßnahmen zurück, eine Austeritätspolitik, die Defizite im Staatshaushalt vermindern soll, indem Ausgaben gekürzt oder auch Steuern erhöht werden. Dabei lehnen Ökonom*innen dieses Vorgehen als ungeeignete Krisenmaßnahme ab und zeigen, dass Volkswirtschaften und Menschen darunter leiden. Selbst der IWF gibt zu, dass er die durch Haushaltskürzungen verursachten Schäden für schwache Volkswirtschaften stark heruntergespielt hat.

Übersetzung: André Hansen & Claire Schmartz für Gegensatz Translation Collective.
Bearbeitung: Hanna Voss, Rosa-Luxemburg-Stiftung Beirut.

Der ABL lässt zwar verlautbaren, dass «auch erhöhte Steuern weiterhin progressiv sein und schwache Haushalte schützen sollen», fordert aber zugleich eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 11 auf 16 Prozent, obwohl diese Steuerart nach verbreiteter Ansicht die unteren Schichten am stärksten belastet.

Für die Reichsten fordert der ABL eine einmalige Steuer von 1 bis 3 Prozent auf «Immobilien, Finanzvermögen und bewegliche Vermögensgegenstände», betont dabei aber stets den «Ausnahmecharakter» dieser Maßnahme. Die Idee einer einmaligen Vermögensteuer kam zuerst im Entwurf des Haushaltsgesetzes von 2021 auf, der von der Diab-Regierung verfasst, aber nie beschlossen wurde. Diese «nationale Solidaritätsabgabe» sah eine Steuerpflicht für Sichteinlagen von mindestens 1 Million US-Dollar oder einem Äquivalent in anderen Währungen zu einem Steuersatz von 1 bis 2 Prozent vor.

Der Plan beschwört zudem Fantasien von einem Libanon herauf, den es so nie gegeben hat. «Der Libanon kann durchaus zur Riviera-Destination werden, die Unterhaltung, Kultur und Meerblick bietet, mit Nischenangeboten für Businessmeetings und Medizintourismus», heißt es im ABL-Entwurf.

Gleichzeitig verlassen medizinische Fachkräfte das Land, das zudem unter Arzneimittelengpässen leidet. Die Menschen trauern um die durch illegale Steinbrüche zerstörten Berge, wo groteske Immobilien entstehen, und lassen sich von der Verschmutzung des Meeres und der Flüsse vergiften.

Erschwerend kommt hinzu, dass der ABL-Plan wohl von Carlos Abadi erstellt wurde, einem Investmentbanker und Berater des ABL, der immer noch glaubt, dass «die BDL ein Explodieren der Krise gekonnt verhindert hat, während die Regierung nicht reagieren konnte» und der 1995 wegen «Betruges und Diebstahls» an zahlreichen US-amerikanischen, europäischen und lateinamerikanischen Banken angeklagt, jedoch freigesprochen wurde.

Geständnis durch Schweigen

Der ABL schweigt zudem zu wichtigen Fragen, etwa: Wie soll der Finanzsektor transformiert werden? Und wie lösen wir die Liquiditätskrise?

Zur Reform des Finanzsektors soll «die Special Investigation Commission (SIC) gestärkt werden» und «die Aufsichtsregelungen zwischen Zentralbank und der Aufsichtsbehörde Banking Control Commission (BCC) überprüft werden». Die SIC ist für Ermittlungen zu Geldwäsche und anderen Finanzverbrechen zuständig. Ihr sitzt kein anderer als der BDL-Gouverneur Riad Salameh vor, ein enger Verbündeter des ABL, der wegen Geldwäsche in Frankreich, der Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein angeklagt wird.

Hinzu kommt, der Plan sieht eine Fixierung des Wechselkurses erst «in den nächsten 18 Monaten» vor, was praktisch bedeutet, dass Kleinsparer*innen weiterhin den Schuldenschnitt tragen müssen, weil sie gezwungen sind, ihre kaufkraftgeminderte Lokalwährung aufzubrauchen, den sogenannten «Lollar», um ueberhaupt an ihr Geld heranzukommen.

Währenddessen können die Banken weiter mit dem Pfund spekulieren und ausländische US-Dollars einheimsen, die eigentlich für humanitäre Hilfe zugunsten von Geflüchteten und Verarmten vorgesehen sind.

Der in Beirut ansässige Schuldenberater Mike Azar teilte The Public Source mit, unabhängig davon, ob die BDL den Dollar knapp unter dem Marktkurs kaufe, wirke sich ihr Handeln negativ auf das libanesische Pfund aus. «Die Zentralbank kann Devisen verkaufen, um die eigene Währung zu stärken, oder sie kann Devisen kaufen und die eigene Wirtschaft schwächen».

Bislang schlechtester Vorschlag

Es ist anzunehmen, dass der ABL-Plan die Grundlage für Mikatis Verhandlungen mit dem IWF ist. In der kurzen, durchwachsenen Geschichte der offiziellen Pläne zur Rettung der libanesischen Wirtschaft ist die ABL-Version bislang der schlechteste Vorschlag.

Der Plan zur finanziellen Wiederbelebung der Diab-Regierung, der im April 2020 umging, war längst nicht perfekt, aber wenigstens bot er den Schwächsten ein Mindestmaß an Schutz.

So führte er etwa ein progressives Steuerwesen ein, das Steuern auf Zinseinkünfte für Einlagen von über 1 Million US-Dollar erhob, die Einkommensteuer auf hohe Gehälter erhöhte und eine Mehrwertsteuer auf Luxusgüter vorsah.

In diesem Plan wurde die finanzielle Lage des Bankensektors nicht beschönigt: Auf Geschäftsbanken entfielen 64 Billionen Pfund unmittelbar gesammelte Verluste, auf die BDL 177 Billionen Pfund.

Zur großen Sorge der Oligarchie sah der Plan vor, dass «ein vollständiger Bailout des Finanzsektors keine Option» sei und «die Restrukturierung der Staatsschulden zu starken Verlusten bei den Kapitalpositionen der Banken führen» werde. Es wurde auch davor gewarnt, dass «der Abzug aller verbleibenden Vermögen» zur Deckung der Verluste des Finanzsektors «für die große Mehrheit der Bürger*innen nicht fair wäre» und «das Solvabilitätsproblem nicht löst».

Es dauerte nicht lange bis zum konzertierten Gegenangriff. Oligarch*innen griffen den Plan der Diab-Regierung an und behaupteten, er würde die Wirtschaft und das «liberale Wirtschaftssystem zerstören».

Der Bankenverband schlug dagegen vor, die «Schulden des öffentlichen Sektors mit unzureichend oder überhaupt nicht verwertetem Staatsvermögen» zu begleichen. Dieses Vermögen sollte in einen «Staatsentschuldungsfonds» fließen, um die Staatsschulden bei der BDL und den Geschäftsbanken zurückzuzahlen.

Der Finanz- und Haushaltsausschuss des Parlaments, in dem fast alle etablierten Parteien vertreten sind, positionierte sich klar auf der Seite von ABL und BDL.