Kommentar | Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa - Frankreich-Wahl 2022 Mist statt Cholera

Der Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen birgt enorme Risiken, aber auch eine Chance.

Information

Wieder – wie auch schon im Jahr 2017 – gab es weltweit ein Aufatmen, als um 20 Uhr am letzten Sonntag (24.4.) die Hochrechnungen einen deutlichen Vorsprung Emmanuel Macrons vor Marine Le Pen in der Stichwahl der französischen Präsidentschaftswahlen voraussagten. Am Ende konnte Macron mit 17 Prozent Vorsprung (58,54% zu 41,46% für Le Pen) für sich entscheiden.

Wieder ist Europa an dem seit Jahren drohenden Alptraum vorbeigeschlittert, dass das große Land in seinem westlichen Zentrum von einer Rechtsextremistin regiert wird. Doch der Beigeschmack ist noch bitterer als vor 5 Jahren, als wenigstens noch ein Teil des Landes daran glaubte, dass Macron und seine Bewegung La République en Marche vielleicht wenigstens einige der in Frankreich notwendigen Reformprojekte vorantreiben würden und mit ihrer Politik einen neuen liberalen, aber zur Sozialdemokratie hin offenen Konsens formulieren könnten. Heute wissen die Allermeisten, dass die Präsidentschaft Macrons Frankreich nicht gut getan hat. Frankreich ist, so titelte die eher liberale größte Tageszeitung heute «Plus polarisé que jamais» – mehr gespalten als jemals zuvor. Wichtige soziale Herausforderungen wurden in den vergangenen fünf Jahren nicht angegangen. Die Wahl fand unter einer aktuellen Verteuerung des Benzins aufgrund des Ukraine-Krieges – die hohen Spritpreise hatten schon zuvor zur Gründung der Gelbwesten geführt – und steigenden Lebensmittelpreisen statt. Die Situation verschärft sich weiter. Der Streit um zentrale Reformen wie die Rentenreform dauert an, eine wirkliche Perspektive für mehr Klimaschutz konnte nicht formuliert werden und auch die Corona-Pandemie hat tiefe Furchen in die sozialen und grundrechtlichen Diskussionen in Frankreich geschlagen. Alle wissen, dass dies nun so weitergehen wird.

Auch 2017 hatte der erfolgreichste Präsidentschaftskandidat des linken Parteienspektrums, Jean-Luc Mélenchon, bereits ein gutes Ergebnis eingefahren, was er in der Vorrunde der diesjährigen Wahlen sogar noch steigern konnte. Er selbst rief in der letzten Woche, als klar war, dass er den Einzug in die Stichwahl knapp gegen Marine Le Pen verloren hatte, dazu auf «auf keinen Fall den Rechten» eine Stimme zu geben. Sie hätten die Wahl zwischen Pest und Cholera, so formulierten die meisten Linken ihre Perspektive auf die Stichwahl. Und tatsächlich wählten viele Französinnen und Franzosen nicht oder gaben ihr «weiß» ab, was als ungültig gezählt wird. Und viele, sehr viele, wählten Marine Le Pen, welche noch im letzten Fernsehduell am vergangenen Mittwoch gezeigt hatte, wie wenig sie zum Beispiel zu wirtschaftlichen Themen beitragen kann. Die, die den Schleier verbieten lassen wollte ohne Rücksicht auf die vielleicht daraus resultierenden Kämpfe und Konflikte. Schaut man genauer in einzelne Wahlbezirke, insbesondere in den ländlichen Regionen, dann zeigt sich, dass Le Pen im zweiten Wahlgang vielerorts dort gewonnen hat, wo im ersten Wahlgang noch die gesamte Breite der Kandidatinnen mit unterschiedlichen Ergebnissen miteinander konkurriert hat.

Jean-Luc Mélenchon hat jedoch bereits jetzt einen klugen Schachzug gemacht, der das Potential hat, das französische Wahlsystem, welches eine der Ursachen für das in den letzten Jahren immer bessere Abschneiden rechter Kräfte bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ist, ordentlich durcheinander zu rütteln. Er hat die im Juni 2022 stattfindenden Parlamentswahlen kurzerhand ins Zentrum des Diskurses gestellt und alle linken Kräfte aufgefordert, dafür zu arbeiten, dass die sonst oft nur als Anhängsel der Präsidentschaftswahlen geltenden Parlamentswahlen mit dem gemeinsamen Ziel verbunden werden, eine Mehrheit zu stellen. Er selbst, so argumentiert er, würde dann Premierminister. Ob dies gelingt ist offen, aber dennoch eine Chance für die französische Linke,  ihre durch das Antreten vieler Kandidat:innen im linken Spektrum verpatztes Ziel, Le Pen aus der Stichwahl zu drängen und einen linken Kandidaten zu stellen, doch noch zu erreichen. Sollte es gelingen würden die sogenannten «Troisième», die dritten Wahlen, und das Parlament an Bedeutung gewinnen, und damit mit der Wahlrechtsreform De Gaulles von 1962 gebrochen. Die Linke müsste dafür jedoch ihren Fehler erkennen und sich geschlossen hinter Mélenchon stellen.