News | UK / Irland «In Liz We Truss» oder «Urlaub von der Realität»

Großbritanniens neue Premierministerin ist leicht zu karikieren, doch sollte sie nicht unterschätzt werden

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Florian Weis,

Liz Truss mit lila Oberteil an einem Redepult auf dem "Conservatives" steht.
Liz Truss bei der Wahl zur neuen Führung der Conservative Party am 5.9.20222. IMAGO / Parsons Media

Erwartungsgemäß hat sich Liz Truss (47) in der Endrunde der beiden bestplatzierten Bewerber:innen für die Nachfolge von Boris Johnson bei den konservativen Parteimitgliedern gegen den vormaligen Schatzkanzler Rishi Sunak (42) durchgesetzt. Mit 57,4% der Stimmen der Parteimitglieder fiel ihr Sieg deutlich aus, aber nicht ganz so überwältigend, wie dies in den sechs Wochen des erbitterten internen Wahlkampfes zuweilen möglich schien. Auch bleibt Truss‘ Ergebnis deutlich hinter der 2/3-Mehrheit zurück, die Boris Johnson vor gut drei Jahren gegen Jeremy Hunt erzielte. Im Unterschied zu Johnson, der 2019 auch in allen Wahlgängen in der konservativen Unterhausfraktion in Führung lag, konnte Truss in der Fraktion zu keinem Zeitpunkt an Sunak herankommen. Schaden wird ihr dies zunächst nicht, denn eine Reihe von Faktoren werden die meisten Tory-Abgeordneten zur Unterstützung ihrer neuen Parteichefin und Premierministerin veranlassen: eigene Karriereambitionen, eine «anyone but Rishi»-Haltung der uneingeschränkten Johnson-Loyalist:innen, der Wille zum Machterhalt der eigenen Partei und der eigenen Sitze bei den nächsten Wahlen. Als sich frühzeitig abzuzeichnen begann, dass Sunak weniger Rückhalt an der konservativen Parteibasis haben würde, wechselten viele vormals neutrale Abgeordnete und auch manche, die Sunak zunächst unterstützt hatten, in das Lager der absehbaren Siegerin. Machterhalt und Karriereopportunismus sind keine Alleinstellungsmerkmale der britischen Tories, doch sind sie bei ihnen besonders ausgeprägt.

Liz Truss ist die dritte Frau an der Spitze der britischen Regierung nach Margaret Thatcher (1979-1990) und Theresa May (2016-2019). Truss hat sich in den letzten Monaten als größter Fan und gleichzeitig legitime Erbin der «Iron Lady» inszeniert, in zuweilen fast grotesk-peinlichen Bildanspielungen, bevorzugt bei Instagram: Truss auf einem Motorrad im Museum, auf dem einst Thatcher posierte; Truss mit einer Thatcher-gleichen Bluse; Truss mit dem berühmt-berüchtigten Bild von Thatcher in einem Panzer als eigenem Profilbild.

Nach der langen Parteiführungszeit (2005-2016, davon 2010 bis 2016 Premierminister) von David Cameron haben sich in den letzten gut sechs Jahren die Wechsel in der konservativen Parteiführung gehäuft: Nach dem verlorenen Brexit-Referendum musste Cameron im Juni 2016 zurücktreten, ihm folgte die glücklose Theresa May, die einen Brexit vollziehen musste, den sie nicht gewollt hatte. Gleichzeitig versuchte sie eine kosmetische Korrektur der zerstörerischen Austeritätspolitik von David Cameron und George Osborne, wurde aber von den Brexiteers der Tory-Rechten zermürbt. Es folgten drei Jahre unter Boris Johnson, die mit «schillernd» noch zurückhaltend zu beschreiben wären.

In den letzten Wochen ist viel über die Wandlungen und Selbstinszenierungen von Truss geschrieben worden, über ihren Weg aus einem linken bildungsbürgerlichen Elternhaus, über eine Phase bei den Liberaldemokraten, im Weiteren als Cameron-Schützling und zurückhaltende «Remain»-Anhängerin bis schließlich hin zu einer häufig schrillen Vertreterin des rechten Parteiflügels. Sie ist dabei mittlerweile fast die einzige führende Konservative, die unter Cameron, May und Johnson Regierungsämter ausübte, zuletzt als Außenministerin. Dort profilierte sie sich als energische Unterstützerin der Ukraine nach dem russischen Überfall am 24. Februar 2022, wenngleich sich ihre Kenntnisse des britischen Rechtes als wenig ausgeprägt erwiesen, so dass sowohl der eigene Verteidigungsminister als auch der Generalstabschef sie öffentlich korrigieren mussten, als es um militärische Freiwilligeneinsätze in der Ukraine ging. Als Erfolg konnte Truss sich allerdings die Freilassung der britisch-iranischen Staatsbürger:innen Nazanin Zaghari-Ratcliffe und Anoosheh Ashoori aus iranischen Gefängnissen anrechnen, die faktisch eine Geiselhaft war, um ausstehende britische Rückzahlungen aus einem Panzergeschäft während der Schah-Zeit zu erzwingen. Einer ihrer Vorgänger im Außenministerium, Boris Johnson, hatte Zaghari-Ratcliffe zuvor mit grob fährlässigen und falschen Aussagen in eine noch größere Gefahr gebracht.   

Diversität ohne Egalität: Das neue Kabinett 

Truss Nachfolger im Außenministerium soll James Cleverly werden, während Kwasi Kwarteng, ein enger Verbündeter, die mächtige Funktion des Schatzkanzlers übernehmen wird. Suella Braverman, die selbst im Juli für die Nachfolge von Boris Johnson kandidierte, ist als neue Innenministerin im Gespräch, nachdem Priti Patel ihren Rücktritt angekündigt hat. Politisch folgt damit auf eine rechte Hardlinerin eine ebensolche im Innenministerium. Bemerkenswert ist, dass damit erstmals keines der klassischen vier großen Ressorts (Prime Minister, Foreign Office, Home Office und Treasury) von «weißen Männern» geleitet werden wird, sondern dass drei dieser Ministerien von Schwarzen Politiker:innen geführt werden. Dies spiegelt die starke Repräsentation von Angehörigen von «ethnischen Minderheiten» (BAME) in der Führung der konservativen Partei wider[1], die bisher aber keine Entsprechung im Wahlverhalten der meisten Angehörigen aus diesen Communities fand. Keine dieser Politiker:innen steht allerdings für irgendeine Form einer egalitären Politik oder eines sozial diversen Herkommens - ganz im Gegenteil. Vielmehr wird die menschenrechtswidrige Abschiebepolitik in Sammellager nach Ruanda mit der Innenministerin Braverman ebenso fortgesetzt werden wie der Kulturkampf gegen die «Cancel Culture». Von Truss und Kwarteng ist eine Politik der Steuersenkungen zu erwarten, von der wohlhabende Schichten und große Unternehmen weit überproportional profitieren werden. Darin sieht Truss eine Rückkehr zu den großen konservativen Zeiten von Margaret Thatcher. Sie war innerparteilich erfolgreich damit, ihrem Rivalen Sunak, der ebenfalls alles andere als ein Vertreter der fast untergegangenen Tradition eines sozialverantwortlichen Konservativismus ist, vorzuwerfen, er sei ein Schatzkanzler hoher Steuern und damit unkonservativer Politik. Wie Truss und Kwarteng gleichzeitig breite Steuersenkungen ermöglichen und die dramatischen Energiekostensteigerungen abfedern wollen, bleibt ihr Geheimnis, vom riesigen Investitionsbedarf in den Gesundheitsdienst NHS, die Pflege, Polizei, Rettungsdienste, Feuerwehren sowie die abgehängten Regionen in Nordengland ganz zu schweigen. Truss Antwort im innerparteilichen Wahlkampf bestand darin, mehr Wagemut und Optimismus zu fordern und einer Neuauflage einer «Trickle Down»-Wirtschaftsphilosophie das Wort zu reden. Es verwundert also wenig, dass der gleichermaßen intelligente und scharfzüngige wie auch in seinem eigenen rechten Parteiflügel unbeliebte frühere Minister Michael Gove dies als «Urlaub von der Realität» bezeichnete. Es ist im Übrigen auch nur teilweise richtig, dies als Politik im Sinne von Thatcher zu beschreiben, denn deren Regierungen verbanden die Senkung der direkten Steuern zugunsten der Mittelschichten und Wohlhabenden mit einer Erhöhung indirekter Steuern zu Lasten der unteren Bevölkerungsgruppen, mit einer Reduzierung staatlicher Ausgaben im Sozialbereich wie anfangs auch im Militäretat und legten Wert auf eine Verringerung der Staatsverschuldung.

Eine Kontinuität zu Thatcher kann Truss in ihrer Gewerkschaftsfeindlichkeit für sich beanspruchen, was angesichts der heterogenen Streikbewegung, die Großbritannien gerade erlebt, von den Eisenbahner:innen über andere Transportarbeiter:innen und Assistenzärzt:innen bis hin zu den Strafverteidiger:innen, von gefährlicher Bedeutung ist. Auch hat sich Truss wiederholt sehr abfällig über die Arbeitsmoral britischer Arbeiter:innen geäußert, was es ihr nicht leichter machen dürfte, die für Boris Johnson so wichtigen Gewinne in nordenglischen Wahlkreisen der einstigen «red wall» zu verteidigen.     

Trotz alledem wird die neue Regierung von Liz Truss nicht umhinkommen, wenigstens einige preisdämpfende Maßnahmen vor allem im Energiebereich einzuführen, soll die soziale Lage und Stimmung nicht vollends kippen. Es ist daher gut möglich, dass die konservative Regierung zum zweiten Mal in diesem Jahr eine radikale Kursänderung vollzieht und Forderungen der Labour Party übernimmt: erst bei einer – im Umfang allerdings überschaubaren – Variante einer Übergewinnsteuer für Energiefirmen noch unter Johnson und Sunak und nun vielleicht durch eine Form eines Energiepreisdeckels oder andere Maßnahmen. Die zaghaften ökologischen Ansätze der Johnson-Regierung werden hingegen gewiss nicht ausgebaut werden. 

Comeback Kids? Johnson, Sunak und Truss

Boris Johnson ist als Spitzenpolitiker vorerst Geschichte und wird sich zunächst darauf konzentrieren, als hochbezahlter «Daily Mail»-Kolumnist und Buchautor (Shakespeare-Biograph und künftiger Memoirenschreiber) gleichermaßen Geld wie Aufmerksamkeit zu erhalten. Sein Unterhausmandat wird er wahrscheinlich ebenso behalten wie Rishi Sunak, der reichste unter den britischen Politiker:innen, der auf die Politik finanziell nicht angewiesen ist, aber darauf hoffen mag, dass Liz Truss noch kürzer als ihre Vorgänger:innen May und Johnson im Amt bleiben und dann seine Stunde kommen wird. Ob Boris Johnson ernsthaft auf ein Comeback als Parteivorsitzender und Premierminister hofft, ist fast so schwierig zu beantworten wie die Frage, welche tiefen politischen Überzeugungen und moralischen Werte er vertritt. Der letzte Premierminister, dem ein solches Comeback gelang, war Labours Harold Wilson (1964-1970 und 1974-1976). Weder Johnson noch Sunak werden Truss Kabinett angehören, das sehr stark von ihren eigenen Loyalist:innen und einigen Johnson-Fans dominiert sein und mithin keinen Beitrag zu einer Versöhnung der verfeindeten Strömungen und Klüngel leisten wird. Allerdings ist sich Truss nur zu bewusst, dass sie auf das Lager der uneingeschränkten Johnson-Loyalist:innen angewiesen ist, die den Sturz von «Boris» als Verrat empfinden und nicht verwunden haben. Truss ist für dieses Lager eine akzeptable Nachfolgerin, aber keine, die ihre uneingeschränkte Loyalität genießt. Schon einmal, nach dem erzwungenen Rücktritt von Margaret Thatcher im November 1990, war die konservative Partei auf Jahre hinaus gespalten und blockiert, weil ein Teil der Partei Thatchers Rückzug als Folge eines unverzeihlichen Verrates empfand, was von Thatcher selbst immer wieder befeuert wurde. Ein ähnliches Verhalten ist Johnson auch zuzutrauen.  

Wie fast jede neue Person an der Spitze der britischen Regierung wird auch Liz Truss voraussichtlich einen kurzen Honeymoon steigender Umfragewerte für ihre Partei erleben, die dort seit nunmehr zehn Monaten konstant hinter der Labour Party liegt. Angesichts des Verschleißes ihrer Partei nach über zwölf Regierungsjahren und der gewaltigen sozialen Probleme im Land, ist es aber fraglich, ob Truss daraus einen Erfolg bei den nächsten Wahlen machen kann. John Major (Premierminister ab November 1990, Wahlsieg im April 1992) und Boris Johnson (Premierminister im Juli 2019, Wahlsieg im Dezember 2019) gelang dies jeweils, während Labours Gordon Brown es versäumte, seinen kurzzeitigen Popularitätsschub nach der Amtsübernahme im Juni 2007 für vorgezogene Neuwahlen zu nutzen, so dass er im Mai 2010 die Wahlen gegen David Cameron verlor. Eine rasche «snap election» erscheint sehr unwahrscheinlich, doch war Liz Truss schon für manche Überraschung und Wendung gut. Darin ähnelt sie Boris Jonson ebenso wie in der Vielzahl der Fettnäpfe, in die beide häufig treten, ohne sich dessen erkennbar zu schämen. Im Unterschied zu Johnson, dem dies nicht einmal seine Fans als Kernkompetenz zubilligen würden, ist Truss jedoch eine intensive Arbeiterin und, allen Fehltritten zum Trotz, auch gründliche Politikerin. In jedem Falle sollte sie keine:r ihrer politischen Gegner:innen unterschätzen, denn ihr eigener und der Machterhaltungswille der Konservativen sind so groß, dass eine erneute Mobilisierung von populistischen Ressentiments und jedwede opportunistische Wendung stets möglich sind.            


[1] Siehe https://www.rosalux.de/news/id/46799: Sehr divers, aber alles andere als egalitär