Interview | Soziale Bewegungen / Organisierung - Rassismus / Neonazismus - Arbeit / Gewerkschaften - Iran «Wir vertrauen dem Staat grundsätzlich nicht»

Gespräch mit einem ehemaligen Stahlwerkarbeiter über den Klassencharakter der Proteste in Iran

Information

Von den großen Medien ignoriert, aber wichtiger Teil der Protestbewegung in Iran: Arbeiter*innen organisieren Protestmärsche, hier in Ahwaz/Khusistan
Von den Medien in Iran ignoriert, aber wichtiger Teil der Protestbewegung: Arbeiter*innen organisieren Protestmärsche, hier in Ahwaz/Khusistan Quelle: privat

Meisam Al-Mahdi war Arbeiter in einem Stahlwerk der Industriestadt Ahwaz (Ahvaz) in der mehrheitlich arabischen Provinz Khusistan (Chuzestan) in Iran. Meisam beteiligte sich bis 2018 an der klandestinen Selbstorganisierung der Arbeiter*innen in dieser Fabrik mit mehreren Tausend Beschäftigten. Viele wurden bei den Streiks damals entlassen, verhaftet, auch gefoltert und getötet.

Seit seiner Flucht lebt Meisam in Europa. Mit ihm sprach Ercan Ayboga von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen über ethnische Unterdrückung und die Rolle der Arbeiter*innenbewegung bei den Protesten in Iran.
 

Ercan Ayboga: Warum finden seit 2013 verstärkt Streiks und Arbeitskämpfe im Stahlwerk in Ahwaz und in anderen Industriebetrieben Khusistans statt?

Meisam Al-Mahdi: Seit 2013 haben die Proteste in Iran einen starken Klassencharakter bekommen. Und wenn wir über soziale Klassen reden, kommt auch die Situation und Geschichte der diversen Völker in Iran wieder hoch. Weil Ahwaz eine Industriestadt ist, haben die Proteste zwei Dimensionen: Es geht einerseits um die soziale Klasse, deren Situation jeden Tag schlechter wird. Andererseits geht um die verschiedenen Völker Irans; und wenn wir von Khusistan reden, geht es insbesondere um die Araber*innen. Dort, wo die Araber*innen innerhalb Irans leben, liegen große Mengen an Öl und Gas unter dem Boden. Deswegen wird das Land der Araber*innen in großem Stil enteignet.

Die Enteignungen begannen mit dem Bau von Talsperren während der Präsidentschaft von Rafsandschani (1989 bis 1997). Der Staat legitimierte den Bau mit der Parole, Khusistan zu entwickeln und viel Strom zu produzieren. In jener Zeit wurde der kapitalistische Charakter des Staates für die Menschen klarer. Durch die großen Staudämme, die das Wasser der Flüsse aufstauten und das Eindringen von Meersalz in die Ebenen von Khusistan erlaubten, wurden viele Böden landwirtschaftlich unbrauchbar, als Folge davon verloren die Ländereien sehr viel an Wert. Die Bevölkerung Khusistans wurde in jener Zeit mit drei großen Problemen konfrontiert: die Austrocknung ihrer Ackerflächen, die Eigentumsfrage in der Öl- und Zuckerrohrproduktion und die Freihandelszonen. In jenen Jahren haben sehr viele Menschen auf dem Land durch die zunehmende Armut – auch ihr Vieh starb wegen Wassermangel – ihre Ländereien für extrem geringes Geld verkauft. Wer nicht verkaufen wollte, wurde kriminalisiert, wofür der verbreitete Rassismus gegenüber Araber*innen vom iranischen Staat instrumentalisiert wurde. So wurde vor allem propagiert, dass die Araber*innen faul, bewaffnet und eine Gefahr für die Ordnung seien.

Folge dieser Politik der Kapitalakkumulation war eine massive Abwanderung in die großen Städte, wo in einem Gürtel um das Zentrum immer neue Armutsviertel entstanden und die Zugezogenen zu billigen Arbeitskräften wurden. Zwischen den neuen Armenvierteln und den älteren Stadtteilen wurden sogar Mauern gebaut – ein Ausdruck für die unmenschliche Behandlung durch den Staat. Die Akkumulation führte mit den Jahren zur Radikalisierung der Arbeiterbewegung. Die Zunahme des Klassenbewusstseins nahm in Iran vor allem in den Jahren 1996 bis 1998 zu, in Khusistan sogar früher. In der Zeit der Präsidentschaft von Khatami (1997 bis 2005) erlebten wir einen ersten großen Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit den Großunternehmen, die zu Entlassungen von Arbeiter*innen und der vorübergehenden Unterdrückung der Arbeitskämpfe führten.

Diese historische Einordnung ist wichtig, um zu verstehen, dass es beim Kampf der Arbeiter*innen nicht nur um mehr Lohn geht, sondern ein Sammelsurium von Forderungen und gesellschaftlichen Widersprüchen eine Rolle spielen. Bis 2018 hatten die Proteste im Iran generell keine Radikalität an Form und Forderungen; aber in Ahwaz/Khusistan war die Lage anders, auch die Arbeiter*innen der Zuckerfabrik Haft-Tappeh organisierten sich ähnlich demokratisch und kämpften. In dieser Zeit wurde auch über die sogenannte «Arbeiter*innenkontrolle über Fabriken» gesprochen. Uns wurde klar, dass die Arbeiter*innen nichts zu verlieren haben und wir uns dementsprechend anpassen mussten. Denn wir stehen einem Staat gegenüber, der eine hohe Arbeitslosigkeit, extreme ökonomische Ausbeutung und auch hohe Luftverschmutzung verantwortet; und wir sind konfrontiert mit weiteren Gründungen von Ölunternehmen und steigender Akkumulation des Kapitals.

So sind die Arbeiter*innen zu dem Schluss gekommen, dass sie selbst die Kontrolle übernehmen sollten. Das war eine Notwendigkeit als Folge der zunehmenden Selbstorganisation. Wir haben nicht nur an unser Unternehmen, sondern an die gesamte Gesellschaft gedacht. Diese Arbeiterselbstorganisierung machte aus den an den Rand gedrängten Araber*innen im Iran selbstbewusste Menschen. In unserer Fabrik und Stadt waren wir auch mit Arbeiter*innen aus anderen Teilen Irans konfrontiert.

Mehr zum Vielvölkerstaat Iran:
Persien ist nicht Iran – über die ethnische Vielfalt der Islamischen Republik
Von Charlotte Wiedemann

Die persischen Arbeiter*innen hatten die meisten Privilegien in der Fabrik, die kurdischen, türkischen und lorischen Arbeiter*innen verdienten weniger, aber ganz unten standen immer die arabischen Arbeiter*innen.

Auf jeden Fall waren alle Arbeiter*innen mit ihren ethnischen Hintergründen ein Werkzeug für die Kapitalisten zur Spaltung der Arbeiterschaft. Diese Unterdrückung hat die arabische Arbeiterschaft weiter radikalisiert und mehr denn je organisiert. Wir haben eine Form der Organisierung diskutiert, die alle Arbeiter*innen als gleich betrachtet und damit die rassistische Spaltung aushebelt. Das Ergebnis war die Gründung von Fabrikkomitees und darüber gestellten Arbeiter*innenkongressen. Ich bin mir sicher, dass wir auf diese Weise die meisten der von den Kapitalisten konstruierten Privilegien unter den Arbeiter*innen wegradieren können.