Am 1. Juli 2018 erschütterte der überwältigende Wahlsieg von Andrés Manuel López Obrador, genannt AMLO, und seiner neuen Partei Morena (Movimiento Regeneración Nacional – Bewegung Nationaler Erneuerung) das politische System Mexikos. Bei insgesamt vier chancenreichen Kandidaten erhielt er 53 Prozent der Stimmen – und lag damit mehr als 30 Prozent vor dem Zweitplatzierten. Das war der bei weitem größte Vorsprung eines Wahlsiegers seit Mexikos «Übergang zur Demokratie» zur Jahrtausendwende. Die Parteien, die während der neoliberalen Ära das politische Panorama im Land bestimmt hatten, waren auf einen Schlag weggefegt worden. Aktuell liegen die Zustimmungswerte des Präsidenten weiterhin bei über 60 Prozent – und das trotz einer unerbittlich feindseligen Presse, der globalen Pandemie sowie der daraus resultierenden Wirtschaftskrise und Inflation. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sahen sich die Oppositionsparteien PRI, PAN und PRD schließlich gezwungen, ihre einstigen Rivalitäten beizulegen und eine Zusammenarbeit einzugehen, sofern sie auch nur den Hauch einer Chance auf einen Wahlsieg haben wollen.
Edwin Ackerman ist Assistant Professor für Soziologie an der Syracuse University in New York State.
Die Eigenheiten von AMLOs linkspopulistischer Präsidentschaft haben dazu geführt, dass er sich nicht nur der neoliberalen Rechten gegenübersieht, sondern auch den «progressiven» kosmopolitischen Intellektuellen sowie den nach Autonomie strebenden, neo-zapatistisch orientierten Kräften. Letztere haben ihn wiederholt beschuldigt, «das Land in [ein weiteres] Venezuela verwandeln zu wollen», mit «Konservativismus» hausieren zu gehen und als «Handlanger des Kapitals» zu agieren.
Wenn wir jetzt, gegen Ende seiner sechsjährigen Amtszeit, auf AMLOs Politik zurückblicken, ergibt sich jedoch ein viel komplexeres Bild. Insgesamt betrachtet lässt sich sein politisches Projekt so beschreiben, dass er bestrebt ist, das neoliberale Modell zugunsten eines nationalistisch-entwicklungsorientierten Kapitalismus hinter sich zu lassen. Es stellt sich daher die Frage: Inwiefern ist ihm das gelungen, und was kann die Linke von seinem Versuch lernen?
Allgemein lässt sich sagen, dass jeder Übergang vom Neoliberalismus zu einem anderen Modell notwendigerweise innerhalb eines vom Neoliberalismus selbst gesetzten Rahmens vollzogen werden muss: mit einer als politischer Akteur erodierten Arbeiterklasse sowie einer zunehmend eingeschränkten staatlichen Handlungsfähigkeit. Daraus folgt, dass die grundlegende Aufgabe der Linken in der aktuellen historischen Phase darin besteht, eine neue klassenkämpferische Politik zu entfachen und den Staat als sozialen Akteur neu zu legitimieren. Entsprechend können wir das Wirken der AMLO-Regierung anhand dreier grundlegender Kriterien bewerten: der Wiederherstellung des Klassenwiderspruchs als Hauptmotor politischer Auseinandersetzungen; des Versuchs, die durch Jahrzehnte der neoliberalen Regierungsführung ausgehöhlte Macht des Staatsapparats wiederherzustellen; und des Bruchs mit dem – auf institutionalisierter Korruption basierenden – vorherrschenden Paradigma. Betrachten wir diese der Reihe nach.
Die Wiedergeburt des Klassenwiderspruchs
Als es im Mai 2020 zu den ersten rechten Protesten gegen die AMLO-Regierung kam, ging ein Video in den sozialen Medien viral. Es zeigt einen Autokorso im Rahmen einer Demonstration der Oberschicht auf einer zentralen Straße in Monterrey, Nuevo León. Aus dem Fenster eines öffentlichen Busses heraus beginnt ein Unbekannter auf die Autofahrer*innen einzureden. «Das hier ist, was Mexiko voranbringt!», ruft er. «Die Arbeiter … es sind die Arbeiter, die Mexiko voranbringen!» Für viele symbolisierte diese Szene die Rückkehr der – lange abwesenden – Klassenpolitik ins öffentliche Bewusstsein.
Nur wenige Monate nach Amtsantritt erklärte AMLO das Ende des mexikanischen Neoliberalismus. Es war eine kühne Behauptung, eher eine Zielbekundung als ein fait accompli. Die ersten Zeichen der Umsetzung dieses Ziels waren rhetorischer Natur. In der Zeit zuvor hatte der Schwerpunkt des politischen Diskurses auf einem vage definierten Konflikt zwischen der «Zivilgesellschaft» und dem Staat gelegen. Öffentliche Funktionsträger*innen räumten immer öfter ein, dass es notwendig sei, die «Regierungsführung» unter die «Kontrolle der Bürger» zu stellen. Der Klassenantagonismus war aus dem Mainstream-Diskurs so gut wie verschwunden. Doch unter AMLO tauchte er im Laclau’schen Gewand wieder auf: als Konfrontation zwischen «dem Volk» und «der Elite» (fifis bzw. machuchones, wie AMLO sie spöttisch nennt). Letztere zeichne sich durch ihren Reichtum, ihre meritokratische Selbsttäuschung und ihre Verachtung für die Kultur der Arbeiterklasse aus.
Diese Akzentverschiebung ging mit einer umfassenden Neuausrichtung parteipolitischer Bindungen einher. Bei den Wahlen von 2018 verteilten sich die Stimmen aus der Arbeiterschicht auf verschiedene Parteien, einschließlich des neoliberalen Blocks. AMLO hingegen hatte bei Akademiker*innen aus der Mittelschicht die Nase vorn. Zu jener Zeit unterstützten 48 Prozent der Wähler*innen mit Hochschulabschluss die Kongresskandidat*innen der Morena-Partei. Bei den Zwischenwahlen zur Hälfte der Amtszeit 2021 fiel dieser Wert auf 33 Prozent.
Am unteren Ende der Bildungsskala war eine umgekehrte Entwicklung zu beobachten: Während 2018 noch 42 Prozent der Menschen, die lediglich eine Grundschulausbildung besaßen, für Morena gestimmt hatten, waren es 2021 bereits 55 Prozent. Jüngste Umfragen belegen, dass die meisten Anhänger*innen des Präsidenten einfache Arbeiter*innen, im informellen Sektor Tätige sowie Bauern und Bäuer*innen sind, während insbesondere Geschäftsleute und Fachkräfte mit Hochschulabschluss seine Politik ablehnen. Das «Brahmanen-Linke»-Phänomen, wonach in den USA und Europa linke Parteien stärker von Hochgebildeten gewählt werden, scheint sich in Mexiko umgekehrt zu haben.
Wie lässt sich diese Trendumkehr erklären? In den letzten vier Jahren war eine regelrechte Flut an Reformen zugunsten von Arbeiter*innen zu verzeichnen. Die formalen Rechte von Hausangestellten wurden erstmalig anerkannt und prekäre Anstellungspraktiken verboten. In der Folge stieg 2022 der reparto de utilidades – eine Gewinnbeteiligung, die Unternehmen früher dadurch umgehen konnten, dass ihre Angestellten lediglich «Unterauftragnehmer» waren – um 109 Prozent.
Mag AMLOs Ansatz auch Schwächen aufweisen – sein Versuch, mit dem Neoliberalismus zu brechen, lässt sich nicht von der Hand weisen.
Unter AMLO ist die Bildung von Gewerkschaften erheblich erleichtert worden, die vorgeschriebenen Urlaubstage wurden verdoppelt, und derzeit wird über ein Gesetz debattiert, das die wöchentliche Arbeitszeit von aktuell 48 Stunden auf 40 Stunden reduzieren würde. Seine Regierung hat die größte Erhöhung des Mindestlohns seit über 40 Jahren veranlasst. Und bevor der Covid-19-Shutdown die aktuelle Wirtschaftskrise einleitete, hatte die ärmste Bevölkerungsgruppe eine Einkommenssteigerung um 24 Prozent verzeichnet.
Diese veränderte Grundlage hat zum Wiederauftauchen der Arbeiterklasse als politischem Akteur geführt. Der vielleicht klarste Beleg dafür ist der Aufstand in Maquiladora-Betrieben in Matamoros im Bundesstaat Tamaulipas, wo Zehntausende von Angestellten den größten wilden Streik in der Geschichte der Branche führten. Angespornt durch den gestiegenen Mindestlohn, forderten sie die Erhöhung anderer Leistungen und blockierten den Versuch der Unternehmen, Bonuszahlungen nicht mehr im Gleichschritt mit den Löhnen anzuheben. Der Bewegung gelang es, neue Versuche zur gewerkschaftlichen Organisierung umzusetzen, und eine ihrer Anführerinnen, Susana Terrazas, errang für Morena ein Abgeordnetenmandat im Kongress.
Auch der Fokus der AMLO-Regierung auf Sozialprogramme hat diese neue Form von Klassenpolitik gestärkt. Bargeldtransfers erreichen heute 65 Prozent mehr Empfänger*innen als noch unter früheren Regierungen. Trotz der Wirtschaftskrise lag der Anteil der Sozialausgaben am gesamten Staatsetat im Jahr 2021 auf dem höchsten Wert seit einem Jahrzehnt. Dieses Wohlfahrtsmodell funktioniert allerdings nach einer gänzlich anderen Logik, als es unter den neoliberalen Regierungen der Fall war – weg von Mikro-Targeting und Bedürftigkeitsprüfung hin zu einem universelleren Ansatz. Und obgleich Bargeldtransfers breit gefassten Personengruppen vorbehalten sind (Senior*innen über 65, Studierenden, Menschen mit Behinderungen usw.), sind die Anforderungen, sie in Anspruch zu nehmen, minimal. Wohlfahrtsprogramme sind in die Verfassung aufgenommen worden, womit ihr Status als Anspruch statt als Almosen, als Recht statt als Mildtätigkeit untermauert wurde.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums stehen die von Morena verdrängten Parteien, die eine Koalition gebildet haben, welche dem Großkapital offen ihre Loyalität zusichert. Industrie-Mogule wie Claudio X González oder der frühere Chef des Arbeitgeberverbandes Gustavo de Hoyos spielen eine zentrale Rolle als Geldgeber der Opposition und bestimmen zudem deren zentrale Positionen. Dabei gilt der Widerstand des unternehmerischen Sektors, neben AMLOs neuen Arbeitsgesetzen, vor allem dem neuen Besteuerungsansatz des Präsidenten. Denn obwohl die Regierung in makroökonomischen Fragen eine insgesamt recht orthodoxe Politik betreibt, hat sie einen Fokus darauf gelegt, die Steuereinnahmen deutlich zu erhöhen, die seit Langem unter dem Durchschnitt der OECD und der LAK-Region (Lateinamerika und Karibik) liegen. Ohne die derzeitige Steuerstruktur zu verändern, haben die staatlichen Maßnahmen einen enormen Umverteilungseffekt erzielt. Offiziellen Daten zufolge konnte die Regierung die Steuereinnahmen von den Reichsten des Landes um mehr als 200 Prozent erhöhen. Das ist auch der Hintergrund dafür, dass die «Financial Times» Raquel Buenrostro, die frühere Leiterin der Steuerverwaltung und aktuelle Wirtschaftsministerin, als «eiserne Lady» betitelte, die mit Blick auf die Steuern der multinationalen Konzerne «die Peitsche schwingt».
Gleichzeitig versinnbildlicht das Wegbrechen der Unterstützung für AMLO durch Akademiker*innen auch deren symbolische Herabstufung im übergreifenden Narrativ zur Nation, an dem der Präsident in seinen täglichen Pressekonferenzen feilt. Während unter früheren Regierungen die Besetzung des Kabinetts mit Abgänger*innen von Elite-Universitäten als Zeichen von Seriosität und Autorität galt, werden derartige Berufungen auf «Expertise» heute als leere politische Marketingtaktiken abgetan. Minister*innen werden dafür gelobt, «nah an den Menschen zu sein», nicht für ihre Titel und Auszeichnungen.
Sozialliberale Kreise, die sich hauptsächlich aus Universitätsabsolvent*innen zusammensetzen, kritisierten den Präsidenten dafür, beim Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe oder dem Thema Abtreibung kein Engagement zu zeigen. Tatsächlich weigerte er sich, in diesen Fragen Stellung zu beziehen und schlug stattdessen vor, Volksabstimmungen über sie abzuhalten. Diese Debatte ist inzwischen aber fast hinfällig, da auf Bundesebene bereits große Fortschritte erzielt wurden (zumal es die bedeutsamsten Erfolge in Regionen gab, wo Morena das lokale Parlament kontrolliert).
Ins Straucheln gekommen ist der Präsident zudem beim Umgang mit der kämpferischen feministischen Bewegung von 2019, die in Reaktion auf das ungelöste Problem der Feminizide in Mexiko entstand. Von Beginn an schien AMLO stärker daran interessiert, sie als Kampagne zu «entlarven», die von der Rechten orchestriert worden sei (wobei diese tatsächlich versuchte, den Aufstand in ihrem Sinne zu nutzen), als auf die Forderungen einzugehen. Er kritisierte die jüngsten Proteste für ihre Taktik der «direkten Aktion» und lobte stattdessen die Arbeit weiblicher Pflegekräfte, worin viele einen typischen Fall männlicher Herablassung sahen. Und obgleich AMLO bei der Besetzung seines Kabinetts auf strikte Parität achtete, kreiden feministische Kritiker*innen der Regierung zurecht an, dass diese keinen ausreichenden Fokus auf die Bekämpfung der geschlechterbezogenen Ungleichheiten im Land gelegt hat.
Das Ende der neoliberalen Aushöhlung des Staatsapparats
Eine der wichtigsten Prioritäten der AMLO-Regierung war es, die Aushöhlung des Staates rückgängig zu machen. Dieser Prozess hat verschiedene Formen angenommen. Zunächst einmal ging es darum, staatliche Funktionen neu zusammenzuführen, die zuvor an halbstaatliche und private Unternehmen ausgelagert worden waren. Die Unterauftragsvergabe öffentlicher Dienste wurde abgeschafft, um diese in zentralisierte staatliche Institutionen zurückzuführen. Die Regierung löste auch Stiftungen auf, die staatliche Gelder auf intransparente Weise und nach eigenem Gutdünken verwalteten, und gab den entsprechenden Ministerien die Kontrolle zurück.
Begleitet wurde dieses Programm durch eine Reihe staatlich initiierter «Mega-Infrastrukturprojekte», die Streichung privater Projekte wie dem Texcoco-Flughafen und die Enteignung von Teilen des Schienennetzes. Zu den wichtigsten Bauvorhaben der AMLO-Regierung gehören der Felipe-Angeles-Flughafen, der Maya-Zug entlang der Yucatán-Halbinsel («Tren Maya»), der als Transportkorridor zwischen dem Golf von Mexiko und dem Pazifik dienen soll, ein Projekt zum Straßenbau im ländlichen Raum sowie ein groß angelegtes Wiederaufforstungsprojekt. Solche Projekte werden als Mittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch öffentliche Bauvorhaben und Ablehnung der gescheiterten Laissez-Faire-Doktrin angepriesen.
Ein besonderes Augenmerk legte die AMLO-Regierung auf das Thema Energiesouveränität. Dabei war sie bestrebt, die Produktionskapazitäten des staatseigenen Ölkonzerns PEMEX auszuweiten, um ihn zum Wachstumsmotor zu machen. Darüber hinaus schränkte sie, wenn auch in nur moderater Weise, die Macht ausländischer Bergbauunternehmen ein. Ein neues Gesetz zu Kohlenwasserstoffen erlaubt es der Regierung nunmehr, privaten Unternehmen, die gegen Bestimmungen verstoßen, ihre Lizenz zu entziehen. Unterdessen zielt das neue Gesetz zur Stromwirtschaft darauf ab, die Stromproduktion des staatseigenen Betriebs CFE zu steigern. Dieser ist nun nicht länger gezwungen, Strom vom Privatsektor zu kaufen. Beide Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, die relative Position des öffentlichen Sektors zu stärken und die neoliberalen Reformen nach und nach rückgängig zu machen. Die Regierung unterstrich vor Kurzem dieses Bekenntnis mit dem Kauf von dreizehn Kraftwerken, die sich im Besitz des Energiekonzerns Iberdrola befanden.
Letztens Endes gilt, dass jede Bewertung der Arbeit des Präsidenten und seiner Partei Morena zunächst die Schwierigkeiten anerkennen muss, die auftreten, wenn man einem Wohlfahrtstaat auf Grundlage eines verwahrlosten Verwaltungsapparats neues Leben einhauchen und eine Arbeiterklasse stärken will, die als kollektiver Akteur faktisch verschwunden war.
Die lange Phase verkümmernder staatlicher Kapazitäten, die AMLOs Amtszeit vorausging, hat zwangsläufig einige seiner ehrgeizigsten Vorhaben behindert. So konnte sich der Staat bislang nicht aus der Abhängigkeit verschiedener Öffentlich-Privater Partnerschaften (ÖPPs) befreien. Um seine Bargeldtransfer-Projekte umzusetzen, ist der Staat deshalb gezwungen, die Infrastruktur der Banco Azteca zu nutzen, die sich im Besitz des Medienmoguls Ricardo Salinas Pliego befindet. Obgleich es perspektivisch den Wunsch gibt, die Transfers über staatliche Banken abzuwickeln, geht es bislang nur langsam voran. Mit dem Tren Maya in Yucatán ist AMLOs zentrales Infrastrukturprojekt zwar in staatlichem Besitz, in Teilen wird es aber nur im Rahmen von ÖPPs umgesetzt werden können. Manche der ehemals öffentlichen, von vorherigen Regierungen ausgelagerten und heute privat bereitgestellten Dienste hat der Präsident beendet. Doch obwohl das Ziel ist, solche Dienste, wie etwa die Kinderbetreuung, komplett durch die öffentliche Hand bereitzustellen, sind bislang nicht alle Dienste auf staatlicher Seite verfügbar. In der Folge sind Teile der Bevölkerung jetzt von der Ausgabe von Gutscheinen abhängig, die sie bei privaten Anbietern einlösen müssen, um grundlegende Dienste in Anspruch zu nehmen. Angesichts fehlender Verwaltungskapazitäten sieht sich AMLO beim Bau und Betrieb vieler seiner Infrastrukturprojekte zunehmend gezwungen, auf das Militär zurückzugreifen.
Die Notwendigkeit, die Handlungsfähigkeit des Staates wiederherzustellen, lässt sich auch am Fortbestehen der exzessiven Gewalt im Zusammenhang mit den Drogenkartellen ablesen. Diese veranlasste AMLO zur Neugründung einer neuen Nationalgarde, die sich aus Mitgliedern des Militärs (sowie zusätzlichen neuen Rekrut*innen) zusammensetzt, die ein entsprechendes Training erhalten haben, um polizeiliche Aufgaben zu übernehmen. Kritiker*innen sehen darin eine Militarisierung des öffentlichen Lebens. Sie verweisen zudem auf den umfassenden repressiven Apparat, den die AMLO-Regierung an der südlichen Grenze des Landes auffahren lässt, wo migrantische Karawanen aus Mittelamerika häufig gewaltsam aufgelöst werden. Diese Maßnahmen stellen größtenteils eine Kapitulation gegenüber der ständigen Forderung der Vereinigten Staaten (vor und nach Trump) dar, Mexiko solle die Durchreise von Asylsuchenden aus dem Süden verhindern. Wie bereits seine Vorgänger akzeptierte auch AMLO derartige Einschnitte in die Souveränität des Landes – womöglich weil er hofft, auf diese Weise den Verhandlungsspielraum mit dem nördlichen Nachbarn erweitern zu können. Der Präsident hat erhebliche Mühen darauf verwandt, Karawanen davon abzuhalten, die USA zu erreichen: Er bot mexikanische Arbeitsvisa an, rief zu einem «Marshall-Plan für Mittelamerika» auf und schaute weg, als die Polizei brutale «Pushbacks» praktizierte. Seine Gesamtbilanz auf diesem Gebiet ist katastrophal. Die einzige größere Ausnahme bestand in seiner Weigerung, Trumps Wunsch nachzugeben, Mexiko zu einem «sicheren Drittstaat» zu erklären. Das hätte dazu geführt, dass praktisch alle Geflüchteten aus Mittelamerika nicht länger Asyl in den USA beantragen könnten.
Die «republikanische Sparpolitik»
Bei seiner Antrittsrede als Präsident im Dezember 2018 erklärte der Präsident, dass «das zentrale Wesensmerkmal des Neoliberalismus die Korruption ist». Der Neoliberalismus, so AMLO, bestehe nicht nur im Rückbau des Staates, sondern vor allem in seiner Instrumentalisierung zu Diensten des Marktes. In diesem Sinne hat sich Mexiko in eine Art umgekehrte Rentenökonomie verwandelt, bei der ein Netzwerk privater Firmen – im Rahmen legaler und illegaler Mechanismen – Gelder aus öffentlichen Kassen abzieht: durch Privatisierung, Outsourcing, den Verkauf überteuerter Dienstleistungen und die Schaffung von Briefkastenfirmen, die dazu dienen, staatliche Aufträge zu akquirieren und Schlupflöcher zur Steuervermeidung zu nutzen.
Das Verständnis vom Neoliberalismus als einer politischen Ökonomie der Korruption liegt AMLOs Ausgabenpolitik zugrunde. Das Herzstück seiner Regierung ist allerdings kontraintuitiv angelegt: die austeridad republicana, die «republikanische Sparpolitik». Gemeint ist damit eine Politik der kontinuierlichen Restrukturierung und Zusammenführung öffentlicher Ausgaben mit dem Ziel, «von oben her zu kürzen». Da der mexikanische Neoliberalismus zur Schaffung umfassender Beziehungen zwischen staatlichen und privaten Unternehmen geführt hat, gilt der Ansatz der Sparpolitik als Werkzeug zur Kappung derartiger Verbindungen – sozusagen zur Austreibung parasitärer Firmen, deren Profite auf der Freigiebigkeit der öffentlichen Hand beruhen.
Langfristig gesehen mag eine strikte Anwendung der austeridad republicana den Aufbau eines robusten Wohlfahrtssystems schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen. Doch für den Moment scheint sie Erfolg dabei gehabt zu haben, dem Staat nach Jahrzehnten der Vetternwirtschaft und des Klientelismus neue Legitimität zu verschaffen. Sorgen, dass es zu Massenentlassungen kommen würde, haben sich nicht bestätigt. Und neben umfassenden Ausgaben bei öffentlichen Bauvorhaben und Bargeldtransfers sind auch die Budgets etwa in den Bereichen Wissenschaft, Bildung und Gesundheit erhöht worden, wenn auch nur geringfügig.
Das drängendste Problem, das sich aus der restriktiven Finanzpolitik der AMLO-Regierung ergibt, ist, dass sie einer umfassenden Steuerreform im Weg steht. Denn im Grunde impliziert sie, dass die Linke ihre Ziele allein durch eine effizientere Ausgabenpolitik erreichen kann: indem sie Bilanzen neu sortiert anstatt Reichtum umzuverteilen.
Eine Möglichkeit wäre, dass linke Kritiker*innen die Errungenschaften von AMLO anerkennen, während sie gleichzeitig die Gleichstellungspolitik, das Grenzregime und die Sparprogramme des Präsidenten einer fundierten Kritik unterziehen. Doch in der Praxis haben sie es versäumt, eine ernst zu nehmende Alternative zu Morena aufzubauen. Die linksgerichtete Kritik am Präsidenten wurde bislang hauptsächlich von der «progressiven» Intellektuellenschicht vereinnahmt, die wiederum in einem von Eliten dominierten Oppositionsblock aufgegangen ist. Die auf Autonomie drängende Bewegung hingegen ist weiterhin nicht an der Übernahme der Macht im Staat interessiert. Sie verließ dieses Terrain vor langer Zeit und konzentriert sich stattdessen auf den – vergleichsweise erfolglosen – Widerstand gegen entwicklungsorientierte Infrastrukturprojekte.
Letztens Endes gilt, dass jede Bewertung der Arbeit des Präsidenten und seiner Partei Morena zunächst die Schwierigkeiten anerkennen muss, die auftreten, wenn man einem Wohlfahrtstaat auf Grundlage eines verwahrlosten Verwaltungsapparats neues Leben einhauchen und eine Arbeiterklasse stärken will, die als kollektiver Akteur faktisch verschwunden war. Selbstverständlich wird die aktuelle Regierung von allerlei weiteren Unklarheiten und Widersprüchen geplagt, die in diesem kurzen Essay leider keinen Platz finden können. Wie realistisch ist der Weg einer Neo-Entwicklungspolitik vor dem Hintergrund der Klimakrise? Wie kann eine progressive Besteuerung im Kontext stagnierenden Wachstums gelingen? Wie schnell kann sich ein Land aus der Abhängigkeit von ausländischen Investitionen befreien? Das sind Fragen, denen die Linke sich weltweit stellen muss. Mag AMLOs Ansatz auch Schwächen aufweisen – sein Versuch, mit dem Neoliberalismus zu brechen, lässt sich nicht von der Hand weisen.
Es handelt sich um die deutsche Erstveröffentlichung des Textes «The AMLO Project», der zuerst von der «New Left Review» publiziert wurde. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt. Übersetzung aus dem Englischen von Sebastian Landsberger und Cornelia Gritzner für Gegensatz Translation Collective.