Mal sachlich, mal polemisch und fast durchgehend wütend rekonstruiert Max Czollek in seiner Essaysammlung drei Phasen der deutschen Erinnerungskultur. Die erste reicht von der Gründung der Bundesrepublik bis in die frühen 1970er-Jahre und ist vor allem von Verdrängung geprägt. In der zweiten Phase wird aktiv erinnert, allerdings bevorzugt auf der symbolischen Ebene. In der dritten Phase der letzten Jahrzehnte drückt sich dann der deutsche Wunsch nach Normalisierung aus, etwa bei der Fußballweltmeisterschaft 2006. Es ist diese Phase, die Czollek mit dem Begriff «Versöhnungstheater» meint. Das Essay ist ein nötiger Frontalangriff auf den deutschen Versöhnungsdiskurs, der sich vor allem an den Bedürfnissen der Deutschen orientiert. Czollek zerlegt den Wunsch nach Versöhnung, welche es in einer Gesellschaft, die NS-Täter*innen kaum rechtlich verfolgt hat und der jede materielle Anerkennung abgetrotzt werden muss, nicht geben kann.
Mit dem Titel bezieht sich Czollek auf Michael Bodemann, dessen «Gedächtnistheater» bereits 1996 erschien und der argumentierte, dass deutsche Erinnerungskultur vor allem zum Ziel habe, Deutschland als geläutertes Land darzustellen. Und das ohne allzu große materielle Zugeständnisse. In Anlehnung an Eike Geiselschreibt Czollek in diesem Zusammenhang von dem «Kunststück einer Wiedergutwerdung [der Deutschen] ohne Wiedergutmachung».
Die Thesen sind also nicht neu, Czollek macht diese Kritik jedoch einem breiteren Publikum zugänglich. Das Buch fasst viele Debatten pointiert zusammen und ergänzt sie mit einer gehörigen Portion Wut aus der Betroffenen-Perspektive. Von Sophie Scholl über Stauffenberg bis zum Berliner Stadtschloss nimmt Czollek die Lieblingsfiguren des deutschen Versöhnungstheaters auseinander und bezieht Erinnerung dabei konsequent auf aktuelle Politik. Denn die über Jahrzehnte betriebene Entlastung durch angeblich so vorbildliches Erinnern hat etwas mit den Anschlägen von Halle und Hanau sowie dem NSU zu tun. Angela Merkel sagte einmal, die Anschläge von Halle und Hanau hätten gezeigt, welche Gefahr von rechtem Terror ausgehe. Dazu Czollek: «Was hat die Bundeskanzlerin denn vorher gedacht?».
Erinnerung ist für Czollek nur dann etwas wert, wenn sie nicht auf der symbolischen Ebene verharrt – und dann tut sie in der Regel weh. Als Beispiele gelungener Interventionen nennt er etwa den Fall einer Kirchenglocke in Schweringen, auf der ein großes Hakenkreuz entdeckt wurde. Nachdem der Stadtrat entschieden hatte, sie als Mahnung hängen zu lassen, stiegen Unbekannte auf den Kirchturm und flexten das Hakenkreuz weg. Czollek wünscht sich mehr solcher Aktionen, aber vor allem ein radikales Umdenken in Deutschland.
Larissa Schober
Max Czollek: Versöhnungstheater; Hanser Verlag, Berlin 2023. 176 Seiten, 22 Euro.
Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift iz3w, Nummer 397.