News | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Kapitalismusanalyse Rückkehr der Kämpfe?

Die Krise und die ihr folgende Sparpolitik haben in vielen Ländern zu Aufruhr, Protesten und Widerstand geführt. Die politischen Verhältnisse werden neu geordnet, Aufbrüche werden möglich. Die neue Ausgabe der «Luxemburg»

 

Die Bearbeitung der Krise führt in bleierne Zeiten: globale Kürzungen zu Lasten der Beschäftigten und Armen, des Öffentlichen, der Wohlfahrtsstaaten, zu Gunsten der Unternehmen und der Reichen. «Austerität» ist der Deckbegriff der Stunde. Was schlicht Spar-, besser: als Kürzungspolitik bedeutet («austerity-politics») wird demokratischer Entscheidung entzogen. Die politischen Programme erscheinen als Sachzwang oder werden kurzer Hand oktroyiert («Treuhand für Griechenland», Jean Claude Juncker). Die deutsche Regierung erzwingt in Europa und global die Durchsetzung dieser Politik, nicht zuletzt im Interesse der deutschen Banken, die an den Schuldendiensten verdienen. Generalstreiks und Massendemonstrationen wie in Griechenland erlangen keinen Einfluss auf die Kürzungsdiktate. Stigmatisierungen und Rassismen nach außen und innen sind Schmiermittel für ein Auseinandertreiben der europäischen Union: Das Ziel, vergleichbare Lebensbedingungen zu schaffen, wird offen aufgegeben. 

Die Bearbeitung der Krise führt in Zeiten von Kämpfen und Aufständen. Die Bevölkerungen von Tunesien und Ägypten jagen die Despoten mit Massendemonstrationen und Besetzung öffentlicher Plätze aus den Ämtern. In vielen arabischen und afrikanischen Staaten entzünden sich Proteste. In den USA wird das Landesparlament von Wisconsin über zwei Wochen besetzt gehalten, um den Kürzungshaushalt und die Entmachtung der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes zu verhindern. Die spanischen Plätze hallen wider von tausendfachen, fast vergessenen Rufen «El pueblo unido jamas será vencido». Wer hätte das gedacht? 

In Madison, London und in Spanien halten die Protestierenden Schilder mit «Tahrir-Platz». Symbolik und Semantik der Kämpfe sind ähnlich, inspirieren sich gegenseitig: Bilder von blauen Planen, Masken, die der Comicfigur eines Freiheitskämpfers entlehnt und ursprünglich von Internetaktivisten «Anonymous» genutzt wurden. Die Forderung «Wirkliche Demokratie», die Beteiligung an den relevanten Entscheidungen und die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zieht sich durch alle Proteste. Und: «Wir sind nicht sicher in den Händen von Politikern und Banken» – «Ihr repräsentiert uns nicht» . Welche Linke ist vorbereitet auf eine globale Bewegung gegen die Bearbeitung der Krisen? 

Bleierne Zeiten scheinen in Deutschland zu Hause. Das deutsche Exportmodell beruht auf Lohnverzicht, Prekarisierung und Druck auf die Erwerbslosen. Auch die Kosten der Krise werden exportiert. Das Schreckbild der Verarmung wirkt als Mittel der Integration und De-Mobilisierung. Die Bewegungen gegen Atomkraft sind in ihrer hegemonialen  Wahrnehmung von sozialen Fragen losgelöst, die «Vielfachkrise» ist zerrissen in unverbundene Aspekte. Auch den Gegenkräften gelingt es nicht, sie zusammen zu bringen und sich selbst soweit zu verändern, dass ein neues Mosaik sichtbar würde. Die neoliberalen Anforderungen und Zumutungen an die Subjekte scheinen weiter zu wirken: Klassenkämpfe werden zu individuellen Kämpfen in der Klassengesellschaft, offene Ausgrenzungsforderungen gedeihen auf diesem Boden der Konkurrenz. Und doch haben Viele das Gefühl, dass es «so nicht weitergehen kann». Wie können Alltagserfahrungen mit Perspektiven auf Transformation verbunden werden, wie ist eine auf Emanzipation gerichtete Politik denkbar, die – auch – aus der Perspektive der Subjekte, nicht über sie spricht? 

Die Krisen verlaufen in unterschiedlichen politischen Zeiten. Peripherien und Zentren sind von den Krisen unterschiedlich betroffen, Krisenfolgen, Proteste und ihre politische Thematisierungen klaffen auseinander. In den Zitaten der arabischen Aufstände zeigen Hoffnungen auf ein gemeinsames Projekt, in dem Verbindungen geknüpft werden können, ohne die Eigenheiten der lokalen Kämpfe einzuebnen. Nur so sind Ohnmacht und Starre auf der einen, Isoliertheit der Kämpfe auf der anderen Seite zu überwinden – neue Zeiten also.

Rückkehr der Kämpfe? – Luxemburg 2/2011
Juni 2011, 160 S., VSA: Verlag, 10 Euro, ISBN 978-3-89965-857-6

Blog und Bestellung

Inhalt:

Kämpfe

Mario Candeias Handlungsfähigkeit und Transformation

Karl-Heinz Roth Weltproletariat im Werden

Au Loong Yu Neue Arbeiterklasse in China

Erik Olin Wright und João Alexandre Peschanski Wisconsin

Comittee for a Wokers International, Anastasia Balezdrova

»Wir zahlen nicht!«-Bewegungen in Griechenland

Firoze Manji Aufstände, Revolutionen und Demokratie in Afrika

Steffi Richter Die dreifache Katastrophe in Japan

 

Blockaden

Richard Detje, Wolfgang Menz, Sarah Nies und Dieter Sauer

Ohnmacht und Wut. Wahrnehmungen von Krisen im Betrieb

Daniel Behruzi »Wir hätten kämpfen können«. Gespräch mit Belegschaftsangehörigen

Ueli Mäder Wie Reiche denken

Nils Baratella Freefight – Kämpfe ohne Regeln

Janek Niggemann So wie du bist, bleibst du nicht. Alltägliche Kämpfe um eine zeitgemäße Lebensweise

Oliver Bukowski Der Heiler

 

Einstiege

Oskar Negt Handlungsräume eröffnen

Élisabeth Weissman Ethischer Widerstand: Gegen Privatisierung der Post in Frankreich

Cornelia Hildebrandt Die Linke – ungenutzte Potenziale

Sean Sweeney Gewerkschaften und die Klimaziele

 

Irene Dölling Fragen an ein kapitalismuskritisches feministisches Projekt

Frigga Haug 4in1-Perspektive – Kompass für die politische Praxis

 

Class & Care

Gisela Notz Nach dem Zivildienst

Christine Lohr Produktion und Reproduktion

Klaus Weber Rosa Luxemburg, Büffelhaut, Hosenhaut und Elfriede Jelinek

 

Vielfachkrise

Pauline Bader, Florian Becker, Alex Demirovic, Julia Dück,

Thomas Sablowski, Ulrich Brand und Mario Candeias »Vielfachkrise«. Eine Debatte