Feature | Gesellschaft der Vielen - Einbürgerung «No taxation without representation»

Der migrantische Kampf um Anerkennung und demokratische Teilhabe

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Nihat Öztürk,

Migrant*innen sind meistens nur dann im Fokus der Öffentlichkeit, wenn sie mit Gewalt und Kriminalität in Verbindung gebracht werden. Das gilt noch mehr für junge Migrant*innen, wie wir nach den jüngsten gewalttätigen Protestaktionen in den «Randzonen» französischer Großstädte («Banlieues») erlebt haben. In Deutschland dominierten die Fragen, ob junge Einwanderer*innen sich mit der «deutschen Demokratie identifizieren» und wie «loyal» sie gegenüber ihrem «Gastland» seien. Zum wiederholten Male entfachte sich eine Debatte über «Integration»

Nihat Öztürk, Vorstandsmitglied der Gewerkschaftsinitiative «Gelbe Hand» und ehemaliger Erster Bevollmächtigter der IG Metall Düsseldorf-Neuss. Zuletzt erschien von ihm: Etappen, Konflikte und Anerkennungskämpfe der Migration

Deutlich wichtiger als diese «national spezifische Akkulturation» von Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte sind meines Erachtens die sozialen Verhältnisse (soziale Gerechtigkeit) und die ethnische Zusammensetzung der migrantischen Bevölkerung. Während in Deutschland die Mehrheit der migrantischen Bevölkerung aus den ehemaligen südeuropäischen Hauptanwerbeländern sowie aus Osteuropa oder als Geflüchtete eingewandert ist, stammen die Migrant*innen in Frankreich mehrheitlich aus den ehemaligen Kolonien. Als Nachfahren der ehemals Kolonialisierten machen auch sie noch neokolonialistische und rassistische Diskriminierungserfahrungen in ihrem Alltag. Deshalb reagieren Migrant*innen in Frankreich auf Diskriminierungen viel heftiger.[1]

Die alarmistische Debatte über die «französischen Zustände» darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Rassismus, rechte Gewalt oder die Ethnisierung sozialer und politischer Probleme in Deutschland eine ebenso lange «gepflegte Tradition» besitzen wie ihre hartnäckige Leugnung. Hinweisen möchte ich darauf, dass es in Deutschland eine unterprivilegierte urbane Unterschicht («urban underclass») existiert, die im Alltag mit Klassismus und Rassismus konfrontiert ist.[2] Bereits Anfang der 1990er Jahre gab es heftige Protestaktionen junger, besonders türkeistämmiger Aktivist*innen gegen die rassistischen Pogrome nach der Deutschen Einheit. Die Protestaktionen richteten sich auch gegen staatliche Instanzen, die von vielen Migrant*innen beschuldigt werden, rechte Gewalttaten zu bagatellisieren oder sogar die Täter zu decken.

Die richtige Antwort auf solche Tendenzen ist nicht, sprachlich aufzurüsten und nach mehr Polizei und Repression zu rufen, wie es die französischen und deutschen Konservativen tun, sondern einerseits Diskriminierung und Rassismus zu bekämpfen und andererseits die demokratische Teilhabe aller Bewohner*innen zu fördern.

Demokratie ist mehr als reine Arithmetik, Verfahren oder ein Privileg. Eine genuin liberal-normative Demokratie betrachtet alle Individuen der Gesellschaft als freie und gleiche Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Geschlecht oder Weltanschauung.

Eine wahre Demokratie verknüpft vernünftiger Weise die Steuerzahlung und die Finanzierung des gemeinsamen Sozialwesens mit der politischen Mitbestimmung aller Angehörigen der Gesellschaft. Und: Für eine normative Demokratie sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass jene Menschen, die den Sozialstaat mit ihren Beiträgen finanzieren und somit Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen, politische Wahl- und Mitbestimmungsrechte haben müssen.[3] Meines Erachtens ist dies nicht weniger entscheidend für den Erwerb politischer Teilhaberechte als die Staatsbürgerschaft, die zumeist durch Geburt erworben wird.

Nach diesen Maßstäben kann man selbst viele liberale Demokratien mit Fug und Recht als «unvollständige Demokratien» bezeichnen. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und diese Demokratien als rassistisch gefärbte Demokratien bezeichnen, wenn sie Gruppen von Mitbürger*innen mit «fremder» Staatsangehörigkeit bewusst und gezielt von demokratischen Prozessen ausschließen, obwohl sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, zur Steuerzahlung und anderen bürgerschaftlichen Aufgaben verpflichtet werden.

Diese Stichworte waren die dominierenden politischen Fluchtpunkte für hoffnungsvolle Initiativen zur Stärkung der demokratischen Teilhabe von Migrant*innen in Deutschland, auf die ich im Folgenden eingehen möchte.

«Ein Mensch – eine Stimme. Wahlrecht ist Menschenrecht» – Der Kampf um demokratische Teilhabe vor 40 Jahren

Durch die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 war es in Deutschland schon vor über 50 Jahren möglich, dass Migrant*innen in den Betriebsrat oder Aufsichtsrat gewählt oder hauptamtliche Gewerkschafter*innen werden. In diesen Funktionen konnten sie über Investitionen mitentscheiden oder Sozialpläne und Tarifverträge in Millionenhöhe aushandeln. Jedoch dürfen sie nicht darüber mitbestimmen, ob in ihrem Wohnviertel ein Papierkorb aufgestellt wird, sofern sie keine Deutsche – oder Bürger*innen eines EU-Mitgliedsstaates – sind. Das ist ein anachronistisches Verständnis von Demokratie im Deutschland des 21. Jahrhundert!

Die Kampagne der IG Metall «Ein Mensch – eine Stimme. Wahlrecht ist Menschenrecht» sollte diese Absurdität überwinden. Sie wurde 1986 gestartet und bis 1989 geführt, unterstützt von den Sozialdemokraten und den Grünen sowie von den Kirchen und zahlreichen progressiven Organisationen und Initiativen.

Diese Kampagne zur politischen Partizipation der Migrant*innen war innerhalb der konservativ orientierten Teile der Mitglieder und Funktionäre der IG Metall umstritten – und dennoch recht erfolgreich. In allen Bezirken gab es viele hunderte Aktionen in den Betrieben, Infostände, Demonstrationen und Kundgebungen in vielen Städten. Eine der größten Demonstrationen fand im Mai 1989 in Frankfurt mit über 15.000 Teilnehmer*innen statt. Zugleich war diese Demonstration eine beeindruckende öffentliche Manifestation für ein kommunales Wahlrecht und der Auftakt zur 2. Bundesausländerkonferenz der IG Metall, die direkt nach Ende der Kundgebung eröffnet wurde.

Aus einer bitteren Niederlage erwächst eine neue Hoffnung – Modernisierung der Einbürgerungspraxis und «doppelte Staatsbürgerschaft»

So hoffnungsvoll und ermutigend diese Kampagne begann, so abrupt wurde sie beendet. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat auf Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion das kommunale Wahlrecht für ausländische Bürger für verfassungswidrig erklärt. Damit wurden die politischen Hoffnungen auf politische Mitbestimmung – wenigstens auf kommunaler Ebene – zunichte gemacht.

Nach diesem Urteil des BVerfG konnten Einwander*innen nur dann politisch mitbestimmen, wenn sie sich vorher einem langwierigen Einbürgerungsverfahren unterwerfen. Eine Einbürgerung war damals nicht nur sehr langwierig, sondern auch teuer. Zudem lehnte Deutschland – im Gegensatz zu den meisten Ländern – die Hinnahme der mehrfachen Staatsangehörigkeit ab. Dieser Umstand war für viele einbürgerungswillige «Ausländer*innen» ein Hinderungsgrund für die Beantragung der deutschen Staatsbürgerschaft, da sie wirtschaftliche Nachteile beim Verlust der ursprünglichen Staatsangehörigkeit befürchteten. [4]

Die amtlichen Statistiken listen mit deutscher Gründlichkeit den Anteil ausländischer Staatsangehöriger auf, die bei einer Einbürgerung ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft beibehalten dürfen. Im Jahr 2020 lebten in Deutschland rund 2,5 Millionen Bürger*innen, die eine zweite Staatsangehörigkeit haben. Mittlerweile können wir davon ausgehen, dass 60 Prozent der Eingebürgerten weiterhin ihre alte Staatsangehörigkeit besitzen.[5]

Der Kampf um die (doppelte) Staatsangehörigkeit

Dass diese Praxis ganz offensichtlich eine Diskriminierung ist und in einer modernen Demokratie überwunden werden muss, erkannten auch viele Sozialdemokrat*innen und die Anhänger*innen der Grünen. Deshalb wollte die rot-grüne Bundesregierung 1999 das Staatsbürgerschaftsrecht modernisieren und die Aufgabe der «angestammten» Staatsangehörigkeit als Bedingung der Einbürgerung streichen.

Sozialdemokrat*innen und Grüne machten jedoch einen Kardinalfehler: Sie übersahen die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Unterstützung für ein solches Vorhaben. Sie hatten es sträflich unterlassen, für dieses Vorhaben offensiv zu werben sowie Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche und menschenrechtliche Organisationen in die Vorbereitung und Umsetzung ihrer Pläne einzubeziehen und gegebenenfalls zu mobilisieren. Zudem hatten sie die angekündigte Kampagne der CDU/CSU – besonders der Hessen-CDU unter Roland Koch – gegen die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ignoriert.

Die Kampagne der Konservativen wurde stark auf Migrant*innen aus der Türkei fokussiert und teils mit rechtsnationalen und rassistischen Vorurteilen geführt.[6] Gerade das machte die Unterschriftenkampagne der CDU äußerst erfolgreich. Sie hatte bundesweit fast vier Millionen Unterschriften gesammelt und so die hessische Landtagswahl gewonnen. Diese Kampagne hatte jedoch eine nachhaltig gefährliche Wirkung, weil in ganz Deutschland «feine» Damen und Herren aus der gehobenen Mittelschicht generell «gegen die Ausländer» bzw. «gegen die Türken unterschreiben» wollten.[7]

Der renommierte Historiker Ulrich Herbert kommentierte in einem Interview, dass die Konservativen offensichtlich verhindern wollten, «dass sich die Türken heimisch fühlten und blieben».[8]

Die verpassten Chancen

Wenn sich Politiker*innen und Publizist*innen heute über mangelnde Identifikation und fehlende Loyalität in Teilen der migrantischen Bevölkerung beklagen, dann hat die mangelnde Identifikation ihre Ursachen auch in dieser Verweigerung der Anerkennung und der politischen Teilhabe für Einwanderer*innen. Die Kampagne gegen die politische Mitbestimmung und gegen die Zugehörigkeit zum politischen Leben durch eine moderne Einbürgerungspraxis war und ist Ausdruck der verweigerten Anerkennung der Einwanderer*innen als gleiche und gleichwertige Menschen. Diese Praxis wurde als eine staatlich organisierte – oder zumindest tolerierte – Verletzung der Menschenwürde wahrgenommen.

Damit wurde eine große Chance vertan, die Inklusion zu fördern und gleichzeitig die partizipatorische und deliberative Demokratie zu stärken. Denn nur Menschen, die bei politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten, die sie betreffen, mitreden und mitentscheiden können, werden sich mit dem demokratischen Staat und seinen Institutionen identifizieren. Anders formuliert: Nur wenn der Staat die Kernnormen der Demokratie – Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit – für alle gewährleistet, wenn Individuen, die dauerhaft in diesem Staatsgebilde leben, an demokratischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden, kann er von diesen erwarten, dass sie die demokratischen Institutionen aktiv unterstützen.

Zweiter Anlauf zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts und Ausblick

Heute, 40 Jahre nach den ersten Demonstrationen für das kommunale Wahlrecht und ein Vierteljahrhundert nach der Doppelpass-Kampagne der CDU/CSU, stehen wir vor den gleichen Problemen. Die Ampelkoalition will nun ein modernes Einbürgerungsgesetz, einschließlich die Tolerierung einer Beibehaltung der «angestammten» Staatsbürgerschaft, verabschieden.

Wieder einmal ist die Bundesregierung aus SPD, Grüne und FDP dabei, die gleichen Fehler zu begehen. Die CDU in Hessen und die CSU in Bayern, die im Herbst 2023 vor kritischen Landtagswahlen stehen, wittern schon Morgenluft und rüsten zur nächsten «Doppelpass-Kampagne» auf. Einzelne Unionspolitiker*innen haben bereits verkündet, dass sie die Pläne der Ampelkoalition bekämpfen werden. Statt die Opposition mit erhobenem Zeigefinger vor einer populistischen Kampagne zu warnen, sollten die Regierungsparteien für ihr Projekt aktiv werben und versuchen, die zivilgesellschaftlichen Organisationen – die ja als Infrastruktur der Demokratie fungieren – für ihr Vorhaben zu gewinnen.

Die demokratische und soziale Gestaltung der (post-)migrantischen Gesellschaft wird eine demokratische Herausforderung bleiben, zumal die Prekarisierung und rassistische Segmentierung von Arbeits- und Lebenswelten weiterwachsen wird. Auch die Einwanderung wird aus demographischen Gründen zunehmen und überwiegend in Segmente des Arbeitsmarktes mit geringer Entlohnung, schlechten Arbeitsbedingungen sowie geringem Status- und Prestigewert erfolgen. Damit bleiben migrantische – und von migrantischen und deutschen Beschäftigten gemeinsam geführte – Kämpfe um faire Entlohnung, gleiche soziale Rechte, demokratische Teilhabe, Anerkennung und Würde auch in der Zukunft nicht nur sehr wahrscheinlich – sie sind aufgrund der mehrfachen Prekarisierung und «Diversität der Ausbeutung»[9] sogar notwendiger denn je.

Und: Gemeinsame soziale Kämpfe können einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der egalitären Demokratie und der solidarischen Teile der Gesellschaft leisten. Das ist die beste Antwort auf den rechtspopulistischen Nationalismus und Rassismus.


[1] Türkeistämmige Bürger*innen fühlen sich mit Deutschland ähnlich stark verbunden wie die deutschen Bürger*innen, dennoch haben sie ein emotionales Verhältnis zu Türkei. Vgl. Martina Sauer: 20 Jahre Mehrthemenbefragung. Integration und Partizipation türkeistämmiger Zugewanderter in Nordrhein-Westfalen 1999 bis 2019, Essen, im November 2020, S. 36 ff.

[2] Auch unterprivilegierte und verarmte deutsche Haushalte sind Opfer von Klassismus und Sozialdarwinismus.

[3] «No taxation withaout representation» und «Steuern ohne Wahlrecht ist eine Tyrannei», waren die bekanntesten Losungen der nordamerikanischen Revolte gegen die Britische Krone und der Amerikanischen Revolution. Siehe auch den Aufsatz «Steuerpflichtig, aber ohne Stimmrecht» von Horst Kahrs.

[4] Die Nachteile beim Erwerb oder Verkauf von Eigentum in zahlreichen Regionen sowie bei Erbangelegenheiten waren bzw. sind immer noch enorm.

[5] Vgl. die Übersicht der Bundeszentrale für politische Bildung.

[6] Deshalb hat heute nur ein vergleichsweise geringerer Anteil der Türkei stämmigen Migrant*innen eine doppelte Staatsbürgerschaft. Für aussagekräftige Statistiken siehe hier.

[7]Ich verweise auf die Panorama-Sendung «Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben» des NDR.  Erschreckend ist, dass CDU-Funktionäre und Wähler*innen ungeniert rassistische Äußerungen machen und bekannte NPD-Parolen von sich geben.

[8] In der Neuen Zürcher Zeitung vom 10. September 2021.

[9] Vgl. dazu Mendívil, Eleonora Roldan/Bafta Sarbo (Hg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus, Berlin 2022 sowie Birke, Peter: Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland, Wien 2022.