Am 16. und 17. November 2023 organisierten die Europäische Linke, die internationale Solidaritätsbewegung mit Kuba und kubanische Institutionen im Europaparlament in Brüssel ein Ethik-Tribunal über die US-amerikanische Finanz-, Wirtschafts- und Handelsblockade gegen Kuba. Gerold Schmidt berichtet im Gespräch mit dem Lateinamerika-Referat der Rosa-Luxemburg-Stiftung über das Tribunal und die dramatischen Auswirkungen der inzwischen seit mehr als 60 Jahren bestehenden US-Blockade auf den Alltag der kubanischen Bevölkerung.
Gerold, was war der konkrete Anlass für das Kuba-Tribunal?
Viele Staaten und gewichtige internationale Gremien kritisieren die US-Blockade. Die Resolutionen der UNO-Vollversammlung verurteilen die Sanktionen seit vielen Jahren mit überwältigender Mehrheit. Zuletzt Anfang November 2023, als nur Israel mit den USA gegen die Resolution stimmte. 187 Staaten unterstützten das Ende der Blockade. Auch die Mitgliedsländer der Europäischen Union wenden sich gegen die Sanktionen. Das Problem ist: Es ändert sich nichts.
Der deutsche Völkerrechtler und Jury-Vorsitzende Norman Paech wies im Vorfeld auf diesen wichtigen Aspekt hin: Ein solches Tribunal wäre nicht nötig, wenn beispielsweise der Internationale Gerichtshof über die US-Blockade entscheiden würde. Im Sommer 2021 hatte Heinz Bierbaum, damals Präsident der Europäischen Linken, die Idee, mit dem Ethik-Tribunal ein moralisches und juristisches Zeichen zu setzen.
Die US-Blockade hat während und nach der Corona-Epidemie besonders verheerende Folgen für Kuba gehabt. Das Tribunal machte dies durch die Anhörung von mehr als 40 Zeug*innen eindrücklich sichtbar. Die international zusammengesetzte Jury aus fünf Rechtsexpert*innen für die Themen Völkerrecht und Menschenrechte, Internationales Handelsrecht, Verwaltungsrecht, Staats- und Rechtstheorie sowie der deutschen Publizistin Daniele Dahn untersuchte auch die sogenannten Drittwirkungen der US-Sanktionen. Sie beziehen sich auf die Staaten und ihre Unternehmen, die Handelsbeziehungen mit Kuba pflegen oder pflegen möchten.
Es gibt bereits ein vorläufiges Urteil des Tribunals. Was sind die wesentlichen Punkte darin?
Die Jury hat konkret benannt, gegen welche Bestimmungen des Völkerrechts die US-Blockade verstößt. Danach verletzen die US-Sanktionen unter anderem die Artikel der Charta der Vereinten Nationen über den Schutz der Souveränität und der Selbstbestimmung der Völker. Ebenso stehen sie im Kontrast zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Die US-Blockade ignoriert die Regelungen der Welthandelsorganisation (WTO) über den Schutz der Handelsfreiheit. Sie widerspricht ebenso den Grundsätzen des Vertrags über die Europäische Union, bekannt als Maastricht-Vertrag.
Welche Bereiche der kubanischen Wirtschaft und Gesellschaft leiden besonders unter der US-Blockade?
Die US-Sanktionen wirken sich auf praktisch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Kuba aus. Die Sanktionen zielen darauf ab, den internationalen Zahlungsverkehr und den Handel Kubas mit anderen Ländern so weit wie möglich einzuschränken. Sie sollen den Zugang des Landes zu modernen Technologien verhindern. Die Blockade erschwert die Ersatzteillieferungen für wichtige Apparate im medizinischen Sektor oder im Energiesektor. Gleiches gilt für den Import von Grundstoffen, die für in Kuba hergestellte Medikamente unabdingbar sind. Die Blockade hat Folgen für die Treibstoffversorgung, die Einfuhr von Düngemitteln und damit die landwirtschaftliche Produktion. Betroffen sind Lehrmittelausstattung an Schulen und Universitäten, die Papiervorräte, die Informationstechnologien und die Stromversorgung. Das Tribunal sieht einen «konzentrierten Angriff auf die grundlegenden Strukturen der kubanischen Gesellschaft, ihre Lebensgrundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten».
Kuba widersteht der US-Blockade seit Jahrzehnten. Warum macht sie sich jetzt besonders bemerkbar?
US-Präsident Barack Obama lockerte die Blockade in seiner Amtszeit. Doch die Regierung Trump machte dies rückgängig und verschärfte die Sanktionen auf der Grundlage des berüchtigten Helms-Burton-Gesetzes von 1996 mit mehr als 240 Einzelmaßnahmen. Diese trafen Kuba mitten in der Corona-Pandemie, die das Land sowieso schon vor enorme Herausforderungen stellte.
Helms-Burton gegen Kuba
Das Helms-Burton Gesetz (benannt nach seinen Initiatoren US-Senator Jesse Helms und US-Abgeordneter Dan Burton), offiziell und verbrämend Cuban Liberty and Democratic Solidarity Act, verschärfte 1996 die seit 1960 bestehenden US-Sanktionen gegen Kuba mit einem umfangreichen Maßnahmenpaket.
Das Gesetz ist in vier Abschnitte geteilt: Abschnitt I listet Maßnahmen auf, die die Wirtschaftsblockade gegen Kuba verschärfen. Er enthält ein Verbot indirekter Finanzierung zugunsten Kubas. Abschnitt II legt fest, was der kubanische Staat erfüllen muss, damit die USA ihre Blockade aufheben. Abschnitt III ermöglicht US-Bürger*innen, ausländische Unternehmen vor der US-Justiz wegen der Nutzung nach der Revolution enteigneten Eigentums zu verklagen. Abschnitt IV befugt das US-Außenministerium, Ausländer, die an Enteignungen vom Eigentum von US-Bürgern auf Kuba beteiligt sind oder waren oder von ihnen profitieren, vom Aufenthalt in den USA auszuschließen.
Bis 2019 setzte kein US-Präsident Abschnitt III des Gesetzes in Kraft. Donald Trump änderte dies im Mai 2019. Damit hat sich das Sanktionsrisiko für alle ausländischen Unternehmen, die mit Kuba Handel treiben und Geschäfte abschließen wollen, enorm erhöht. US-Präsident Joe Biden hat Trumps Entscheidung bisher nicht rückgängig gemacht.
Homero Acosta Álvarez, Sekretär der kubanischen Volksversammlung und des Staatsrates, sprach auf dem Tribunal von der «chirurgischen Präzision» der US-Aktionen. Anders als von der kubanischen Seite erhofft, hat die Regierung Biden abgesehen von Reiseerleichterungen weitgehend an den Sanktionen festgehalten.
Welche Auswirkungen des US-Blockade waren für dich besonders erschreckend?
Kuba ist bekannt für sein vorbildliches Gesundheitssystem. Doch in der Krise ist eine umfassende Versorgung im Gesundheitssektor nicht mehr gewährleistet. Die Kinder- und Müttersterblichkeit hat sich erhöht. Manchmal fehlen so einfache Dinge wie Spritzen. Medizinische Geräte können nicht repariert werden, weil aus Angst vor US-Sanktionen niemand die Ersatzteile liefern will oder kann. Während des Tribunals zeigten mehrere Videos die Schwierigkeiten, krebskranke Kinder noch angemessen zu behandeln. Das hat viele der Teilnehmenden sehr bewegt.
Wie wichtig ist das extraterritoriale Element der US-Blockade, also die Auswirkungen auf Dritte?
Die USA drohen denjenigen, die mit Kuba handeln wollen, vor allem mit wirtschaftlichen Sanktionen. Mit Erfolg. Die meisten internationalen Banken beugen sich dem Druck aus Washington und verweigern finanzielle Transaktionen mit Kuba. Ausländische Unternehmen, die nach Kuba exportieren wollen, müssen sich auf wegfallende Kreditlinien einstellen. Wenn sie auch in den USA tätig sind, erwarten sie dort Sanktionen. Kompliziertere Handelswege aufgrund der US-Blockade verteuern beispielsweise Frachtkosten enorm. Auf dem Tribunal schilderten mehrere Unternehmer*innen diese Situation anschaulich.
Die EU und ihre Mitgliedsstaaten verurteilen die Blockade zwar, vermeiden aber einen Konfrontationskurs mit den USA. Europäische Unternehmer*innen, die weiterhin an Geschäften mit Kuba interessiert sind, können daher in der Praxis kaum auf Unterstützung wie angedachte Kompensationszahlungen für ihre Einbußen hoffen.
Du bist für die RLS als Zeuge vor dem Tribunal aufgetreten. Du hast geschildert, wie die US-Blockade auch die Zusammenarbeit zwischen dem Regionalbüro der Stiftung in Mexiko-Stadt mit kubanischen Partnern beeinträchtigt. Kannst du Beispiele nennen?
Eine finanzielle Zusammenarbeit von Mexiko aus ist durch die Sanktionen fast unmöglich. Der inhaltliche Austausch beispielsweise über längere Online-Workshops ist aufgrund der Stromausfälle schwierig. Bei Einladungen des RLS-Büros an kubanische Gäste zu Veranstaltungen in anderen Ländern hat es wiederholt Visaprobleme gegeben, die die Teilnahme der Kubaner*innen am Ende verhindert haben. Mitarbeitende des RLS-Regionalbüros, die nach Kuba reisen, müssen ihrerseits befürchten, Visaprobleme für die USA zu bekommen. Auch wenn diese Beeinträchtigungen im Vergleich zu den anderen auf dem Tribunal vorgestellten Fällen weniger schwer wiegen, behindern sie die Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in dem politisch so wichtigen Land.
Das Tribunal kann kein juristisch verbindliches Urteil sprechen. Was bringt es dann überhaupt?
Die vorerst begrenzte praktische Wirkung des Tribunals war allen Beteiligten von Anfang an klar. Die Jury erklärt die US-Blockade für rechtswidrig und fordert, die Blockade aufzuheben. Der ökonomische Schaden, der von der kubanischen Seite inzwischen auf etwa 160 Milliarden Dollar taxiert wird, soll wiedergutgemacht werden. Das ist momentan ein frommer Wunsch. Nach wie vor stehen das Helms-Burton-Gesetz und die aktuellen Maßnahmen unverhohlen für das Ziel der USA, mit der Blockade letztendlich den Sturz der kubanischen Regierung zu bewirken. Die Blockade soll die kubanische Wirtschaft so stark schwächen, dass der Staat kollabiert. Es bleibt «ein Kampf David gegen Goliath», wie es Fernando González Llort, der Vorsitzende des Kubanischen Instituts für Völkerfreundschaft (ICAP), auf dem Tribunal ausdrückte.
Der Einladung nach Brüssel folgten etwa 300 Menschen aus der internationalen Kuba-Solidarität aus mehr als 20 Ländern, darunter auch aus den USA. Laut Angelika Becker vom Vorstand des deutschen Netzwerk Cuba wird es wichtig sein, «den Schwung des Kuba-Tribunals mitzunehmen», vor allem die europäische Kampagne gegen die US-Blockade zu stärken und die Folgen der Sanktionen einer breiteren Öffentlichkeit verständlich zu machen. In dieser ist die US-Blockade kaum ein Thema.
Das Urteil selbst ist mit seiner streng juristischen Argumentation ein weiteres Instrument, das für die Kampagne eingesetzt werden kann. Es zeichnet sich dadurch aus, über die moralische Verurteilung der Blockade hinauszugehen und den Bruch des Völkerrechts präzise herauszuarbeiten.
Von den etwa elf Millionen Kubaner*innen haben mehr als 80 Prozent ihr ganzes Leben unter den Bedingungen der US-Blockade verbracht. Natürlich würde der Wegfall der Sanktionen die Lage der Bevölkerung nicht von heute auf morgen verändern. Aber das Land hätte ganz andere Möglichkeiten, sich seinen gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen.