Der Saal in der Universität ist ständig mit 150-200 Menschen voll, ja sogar überfüllt. Die RLS hat wohl den Nerv der Zeit getroffen. Die Debatte ist offen, streitig und manchmal merkt man auch "Spannung" im Raum. Die Prozesse in dieser Region sind nicht ohne Widersprüche. Die Konferenz der RLS in der Universidad Andina in Quito steht unter der Überschrift: Demokratie, Partizipation und Sozialismus am vergleichenden Beispiel von Ecuador, Bolivien und Venezuela. Ein großer Titel, der mich skeptisch machte. Aber ich gestehe es und sage offen: Ich war die ganze Zeit gespannt wie ein Flitzebogen. Jede Sekunde, die ich da saß und zuhörte, machte es immer aufregender. Da liefen Debatten, die offen waren, die spannend waren und an manchen Stellen war ich einfach nur platt. Wenn die indigenen Frauen mit Stolz und in ihrer Tracht das Wort ergriffen, dann verstand ich, dass es um mehr geht als irgendein Geklingel über das Wort Sozialismus. Wenn die Sprecherin aus der regierenden Partei Boliviens sagt, dass es 36 verschiedene indigene Völker in Bolivien gibt und noch vor nicht mal einem halben Jahrhundert diese Menschen staatsrechtlich als "Sache“ betrachtet wurden. Rechtlos und eben schlicht rassistisch. Ohne Partizipationsmöglichkeit. Wenn es den "Herren" gepasst hat, wurden sie auch vor kurzem einfach erschossen. Heute einfach nur das Wahlrecht zu haben, löst die Probleme aber noch lange nicht. Wenn diese Frauen ihre Familien zu ernähren haben, dann ahne ich was es heißt, dass 88 dieser Frauen in der Verfassungsgebenden Versammlung mitgearbeitet haben. Da haben sich diese Menschen eine Verfassung im wahrsten Sinne des Wortes erkämpft.
Am vergleichenden Beispiel debattieren auf der Konferenz für jedes Land jeweils eine Person aus der Regierung, eine oder ein linker Intellektueller sowie jemand aus den sozialen Bewegungen. Wir bringen unsere Erfahrungen aus Deutschland mit ein. Jörn Schütrumpf vom Dietz Verlag erläutert das Schaffen und Werk von Rosa Luxemburg. Monika Runge MdL Sachsen beschreibt ihre Erfahrungen mit der SED und berichtet über die mangelnden Beteiligungsmöglichkeiten in der DDR, wenigstens wenn man nicht der offiziellen Meinung der Partei war. Es entsteht eine gemeinsame Debatte über die Sicht von Rosa Luxemburg auf Partei, Staat und auch ihrer Kritik an der KPDSU. Aber es ist vor allem eine lebhafte Debatte darüber, was demokratischer Sozialismus für uns alle bedeutet. Was können wir aus dem Werk Luxemburgs für Schlussfolgerungen ziehen. Viele Regierungen hier in der Region definieren sich selbst als "sozialistisch", aber das hat wahrlich nichts mit falscher Nostalgie zu tun. Da geht es um die Rückeroberung des Staates durch das ganze Staatsvolk. Da geht es um regionale Wirtschaftskreisläufe. Da geht es um Wasser und Energie unter öffentlicher Kontrolle. Da geht es um Rohstoffe und deren bisherigen Ausbeutung, ohne dass die eigene Bevölkerung selber von dem Ertrag profitiert hätte. Also Themen, die auf die eine oder andere Art bei uns auch hochaktuell sind. Wer kontrolliert die Bankwirtschaft? Wer schützt uns vor Spekulation auf Währungen, Rohstoffe, Nahrung? Wie erobern wir Wasser, Abwasser, Stromnetze, Krankenhäusern etc. zurück?
Am ersten Tag der Konferenz ging es um Bolivien und Ecuador, am zweiten Tag dann um Venezuela und Kuba. An beiden Tagen ging es auch immer um unsere Situation in Europa und Deutschland. Um die Linke im Allgemeinen und auch um die Erfahrungen im gescheiterten Sozialismus des zwanzigsten Jahrhunderts. Konkret aber auch um die DDR und das Scheitern der DDR. Es ging um Demokratie, um Partizipationsrechte, Menschenrechte, aber auch um Revolutionen und das Scheitern von Einparteiensystemen. Es stand dabei immer die Frage ganz vorne, was machen wir für eine Politik im 21. Jahrhundert? Was könnte der Demokratische Sozialismus des 21sten Jahrhunderts sein? Was kommt nach einem sich immer mehr in seinen eigenen Widersprüchen zerstörenden Kapitalismus? Was
kommt nach dem vom Finanzmarkt getriebenen Turbokapitalismus? Welche Antworten und Visionen sollten und müssten wir entwickeln, um positive Antworten für die Menschen zu geben? Was kommt nach der Ideologie des Neoliberalismus, der seine Heilsversprechen immer erkauft hat mit Privatisierung und Entstaatlichung? Fragen über Fragen. Am Tag zuvor ging es um Partizipationsmodelle und einer Beschreibung von der Erberoberung der staatsbürgerschaftlichen Rechte aller Bürger, also auch der Indigenen Völker in Ecuador und Bolivien. Dies ist verbunden mit der Erfahrung, dass es allein mit einem abstrakten Wahlrecht noch nicht getan ist.
Die Vorträge der Vertreter aus Kuba und Venezuela am zweiten Konferenztag waren für mich die größte Überraschung. Die Venezolaner vertraten mit großer Verve eine Revolutionsbeschreibung, die offenbar wenig Widerspruch erduldete. Es wurde der Weg von den Wahlen über die Rückeroberung der großen Volksmassen an Entscheidungsprozessen beschrieben. Das war beeindruckend, auch der Ausbau der Bildung und des Sozialsystems wurde mit großer positiver Ausstrahlung vorgetragen. Doch als es Fragen nach der neuen „Chavez Partei“ gab, wurde es einsilbig. Weil der Feind so mächtig ist, müsse man sich in Venezuela quasi in militärischer Verteidigungslogik gegen ihn wappnen. Die neue Partei, gegründet vom Präsidenten, organisiert sich in Gliederungen, die militärische Namen haben. Man ist sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Da halfen auch freundliche Nachfragen nicht weiter und irgendwie fühlte ich mich per Zeitsprung an eine Veranstaltung in der DDR erinnert. Schade. Es gibt soviel an diesem Prozess zu verteidigen, aber nur wenn es pluralistisch auch unter Linken zugeht.
Unerwartet kam ein nüchternes und klares Gegenprogramm von dem aus Kuba angereisten Vertreter. Ohne das Richtige, das Erreichte zu verschweigen oder klein zu reden, ging er mit klarer Sprache zu einem ernüchternden Befund über. Kuba befindet sich in einem Übergangsprozess von einem gescheiterten Sozialismus hin zu einem nachhaltigen Sozialismus. Wir sind gedanklich noch ziemlich stark in der sowjetischen Zeit verstrickt. Er träumte laut von einem Umbau des Systems, bei dem die Menschen mehr Partizipation als Entscheidungsprinzip bekommen, das dann den Staat trägt. Er argumentierte unverdächtig für einen sozialistischen Staat, wollte aber über Fehler nicht schweigen. Auf eine Frage aus dem Publikum an ihn auf dem Podium, ob in Kuba die Bevölkerung nicht eine zu hohe Konsumerwartung hätte, sagte er schlicht: Sie müssten mal in Kuba leben und unendlich lange auf Seife warten, dann einen Preis bezahlen, der deutlich über unserer Preisskala liegt und wenn Sie dann zur Kenntnis nehmen, dass ein Facharzt, ein Chirurg, soviel Einkommen hat wie eine Putzfrau, dann ahnen Sie, wie dysfunktional unsere Ökonomie geworden ist. Deshalb braucht es einen Neuaufbruch in Kuba.
Raul Castro hat wichtige Reformen eingeleitet, in den letzten Jahren kann auch erheblich mehr diskutiert und in Frage gestellt werden. Doch nun müssen wir sehen, welche Ergebnisse und Effekte das bringt, und ob auf diese Debatten gehört wird. Da schloss sich der Kreis zu Bolivien, zu Ecuador und zu den Verfassungsgebenden Versammlungen, die im Kampf durch die Menschen erzwungen wurden. Jetzt kommt es darauf an, die Partizipation aller zu erreichen. Da spielt in Lateinamerika der Plurinationalismus auch eine zentrale Rolle. Dies ist die Suche nach der eigenen Geschichte und Sozialstruktur angemessenen Partizipationsformen. Dazu gehört auch der Kampf von indigenen Völkern gegen den Raubbau am Urwald oder an den Erdölvorkommen beziehungsweise Bergwerken in ihren Heimatregionen. Wenn der Ressourcenabbau auf Kosten ihres Lebensraumes stattfindet, dann muss es ein Recht der Ureinwohner sein, sich gegen diese Zerstörung auch mit härteren Mitteln zur Wehr setzen zu können. Da stehen die Interessen der multinationalen Energie- oder Rohstoffkonzerne gegen die Bürger und Menschenrechte der indigenen Bevölkerung. Da geht es um ein aktives Widerstandsrecht gegen Natur- und Umweltzerstörung - ein Spannungsbogen der auch die Gewaltfrage beinhaltet. Wenn der Urwald abgeholzt ist, was darf dann die Landlosenbewegung? Was muss sie? Und was bedeutet in dem Ganzen eine Verstaatlichungsoption im Verfassungsgebenden Prozess?
Am Schluss der Konferenz stand nicht die fertige Antwort eines demokratischen Sozialismus- den müssen wir weiter erarbeiten. Aber ein Satz stand am Ende: Wenn der Weg nicht demokratisch ist, kann es das Ziel nicht werden. Gesprochen von Alberto Acosta, dem ehemaligen Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors unter großem Applaus. Der Saal war zu dieser Zeit - selbst nach zwei Tagen Vorträgen und Diskussionen - hoffnungslos überfüllt. Über 200 Menschen aus sehr vielen Ländern Lateinamerikas, Politiker, Intellektuelle und Aktivisten aus den Stadtteilen, aus indigenen- und aus Frauenbewegungen. Alle debattierten auf Einladung der Rosa Luxemburg Stiftung die Vision vom demokratischen Sozialismus. Danke RLS. Rosa würde es gefreut haben.