News | Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte - Deutsche / Europäische Geschichte Januaraufstand, Karl Marx und seine untreue Schülerin

Zum letzten Aufstand des Adels und den Widerspruch zwischen Marx/Engels und Luxemburg. Von Holger Politt.

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Holger Politt,

Europas letzter Aufstand des Adels brach vor 150 Jahren aus, am 22. Januar 1863. Weit entfernt, in London, saß einer seiner entschiedenen Befürworter – Karl Marx. Für ihn hatte die Aufstandsbewegung gegen die russische Fremdherrschaft in Polen und damit für die Wiederherstellung Polens einen tiefen politischen Sinn. So wie im November 1830 war auch dieses Mal der Landadel in Polen und Litauen Hauptträger des antirussischen Aufstands. Anders als 1830 aber stand den Aufständischen keine eigene Armee zur Verfügung, von vornherein war es Partisanenkrieg gegen die regulären Truppen des Zarenregimes, ein ungleicher Kampf. Bereits ein reichliches Jahr später war die Niederlage besiegelt, der Blutzoll hoch. Die Opferzahlen auf polnischer Seite kommen an die unter den Pariser Kommunarden wenige Jahre später heran. Das Schicksal Adelspolens war besiegelt; und Marx um eine Hoffnung ärmer, die Ordnung des Wiener Kongresses von 1815 zusammenkrachen zu sehen.

Nach der Niederlage der Revolutionen von 1848/49 wussten Marx und Friedrich Engels, dass der Einfluss des reaktionären Russlands aus Mitteleuropa zurückgedrängt werden muss. Die größten Aussichten boten die Polen, obwohl sie insgeheim zurückkehren wollten zu der Zeit vor der endgültigen Teilung, zu der Zeit, als sie sich am 3. Mai 1791 und durchaus im Geiste der Großen Französischen Revolution eine in die Zukunft weisende Verfassung gaben. Die Wiederherstellung Polens war das Programm, dessen erfolgreiche Umsetzung die Zurückdrängung Russlands aus Mitteleuropa und das Durchbrechen seiner Allianz mit Preußen bedeutet hätte. Mit dem Aufstand vom Januar 1863 wurde nun unter Waffen ein letztes Mal versucht, das Vermächtnis der Verfassung von 1791 zu erfüllen – vergeblich.

In den Tagen des Aufstands schrieb Marx an mehreren Manuskripten, die der polnischen und damit mitteleuropäischen Frage gewidmet waren. Eines nannte er „Polen, Preußen und Russland“, ein anderes „Preußen (Kanaillen)“. Außerdem konzentrierte er sich auf die Beziehungen zwischen Frankreich und Polen in der Zeit seit 1805. Die Manuskripte, deren Originale in übergroßer Zahl im Internationalen Institut für Sozialgeschichte Amsterdam liegen, wurden einer breiten Öffentlichkeit unter dem Titel „Karl Marx. Manuskripte über die polnische Frage“ erstmals 1961 vorgestellt. 1971 und 1986 wurden diese Manuskripte, u. a. vervollständigt durch ein Notizbuch aus dem Jahre 1863, dessen Original in Moskau liegt, in Polen herausgegeben. Die Ausgabe von 1986, die gegenüber 1971 noch einmal berichtigt wurde, ist somit die bisher umfangreichste Ausgabe dieser Manuskripte.

Aufschlüsse über die Haltung von Marx und Engels zum letzten großen Nationalaufstand der Polen gibt zudem der Briefverkehr zwischen den beiden, der Zeugnis gibt, wie aufmerksam die Berichterstattung über das Geschehen im fernen Polen und Litauen verfolgt wurde.

Auch wenn sich in den Jahren nach der Niederlage des Aufstands die Aufmerksamkeit der beiden zunehmend auf revolutionäre Kräfte und revolutionäre Momente innerhalb der russischen Gesellschaft auszurichten begann, hielten sie zeitlebens an ihren Positionen zur Wiederherstellung Polens fest. Zuletzt unterstrich das noch einmal Engels, als er 1892 bekräftigte, die Wiederherstellung eines unabhängigen, starken Polens sei nicht nur Sache der Polen, sondern von uns allen.

Die erste Marxschülerin, die mit dieser in der europäischen Arbeiterbewegung mittlerweile fest verankerten Überzeugung brach, hieß Rosa Luxemburg. Genau 30 Jahre nach Ausbruch des Januaraufstands setzte sie auf ein politisches Programm, in dem die Wiederherstellung Polens nicht nur keine Rolle mehr spielte, sondern darüber hinaus unter den herrschenden Bedingungen überhaupt für unmöglich gehalten wurde. Inzwischen sei die Entwicklung in den drei Teilungsmächten weit vorangeschritten, was insbesondere am Erstarken der Arbeiterbewegung abgelesen werden könne. Deutschland sei nicht nur zum ersten Industrieland auf dem Kontinent aufgestiegen, es habe auch die stärkste und erfolgreichste Arbeiterbewegung. Österreich habe genügend Bindungskraft, um ein separatistisches Wegbrechen seiner einzelnen Teile zu verhindern. Daran ändere auch die überkommene und völlig überholte Konstruktion der Doppelmonarchie mit Ungarn wenig, denn die sozialdemokratische Arbeiterbewegung sei in der österreichischen Hälfte zu einem erstrangigen politischen Faktor aufgestiegen. Und schließlich entscheidend in der polnischen Frage die Entwicklung im Zarenreich, zu dem das sogenannte Königreich Polen gehört, jener industriell fortgeschrittenste Teil sowohl im Russischen Reich als auch unter allen Teilen des früheren Polens.

Das Zurückdrängen des zaristischen Einflusses in Europa werde nicht mehr durch die Wiederherstellung Polens erfolgen, sondern durch die soziale Revolution, die im Riesenreich ausbrechen müsse, was zu Zeiten von Marx und Engels noch unvorstellbar gewesen war. Diese Antizipation der Revolution von 1905, worin sie unter den westlichen Sozialdemokraten bzw. Sozialisten unerreicht geblieben war, bedingte ihre Haltung in der polnischen Frage und umgekehrt. Das eine wäre ohne das andere nicht möglich gewesen. Von den führenden Sozialdemokraten in Deutschland konnte sie in dieser spezifischen Frage allerdings nur Franz Mehring restlos auf ihre Seite ziehen, der in der polnischen Frage ganz zum Schüler Rosa Luxemburgs wurde. Alle anderen blieben zumindest neutral, nach dem Scheitern der Revolution auch Karl Kautsky, mit dem sie noch am meisten gerechnet hatte.

Während Marx den polnischen Aufstand als wichtiges Element des revolutionären Prozesses in Mitteleuropa ansah, hatte für Rosa Luxemburg der wesentlich von der Arbeiterbewegung getragene revolutionäre Prozess im Zarenreich selbst ein solches Ausmaß angenommen, dass jede Erinnerung an die Aufstandstradition ihr nur noch antiquiert vorkam.

Als Anregung zum Weiterlesen:

  • Karl Marx an Friedrich Engels, 13. Februar 1863:
    «Was sagst Du zu der Polengeschichte? Soviel ist sicher, die era of revolution ist nun wieder fairly opened in Europe. Und der allgemeine Stand der Dinge gut. Aber die gemütlichen delusions und der fast kindliche Enthusiasmus, mit dem wir vor Februar 1848 die Revolutionsära begrüßten, sind zum Teufel.» (MEW, Bd. 30, S. 324)
  • Friedrich Engels an Karl Marx, 17. Februar 1863:
    «Die Polen sind ganz famose Burschen. Wenn sie sich noch halten bis zum 15. März, so geht´s in Russland los. Im Anfang hatte ich höllische Angst, die Sache müsse schief gehen. Jetzt aber sind die Chancen des Siegs denen der Niederlage fast schon überlegen.» (Ebd., S. 327)
  • Karl Marx an Friedrich Engels, 21. Februar 1863:
    «Was ich an der polnischen Sache am meisten fürchte, ist, dass Sau-Bonaparte einen Vorwand findet, an den Rhein zu kommen und sich wieder aus seiner ekelhaften Lage herauszupissen.» (Ebd., S. 332)
  • Friedrich Engels an Karl Marx, 8. April 1863:
    «Ich fürchte, die polnische Geschichte geht schief.» (Ebd., S. 337)
  • Karl Marx an Friedrich Engels, 29. Mai 1863:
    «Ich war in der Zwischenzeit nicht müßig, aber ich konnte nicht arbeiten. Was ich tat, war, teils meine Lücken (diplomatische, historische) in der russisch-preußisch-polnischen Geschichte ausfüllen, teils allerlei Literaturhistorisches in Bezug auf den von mir bearbeiteten Teil der politischen Ökonomie zu lesen und exzerpieren.» (Ebd., S. 350)
  • Karl Marx, 1863:
    «Mit allen ihren Mängeln erscheint dieses Konstitution [von 1791] mitten in der russisch-preußisch-österreichischen Barbarei als das einzige Freiheitswerk, das Osteuropa je selbständig aufgerichtet hat. Und sie ging ausschließlich von der bevorrechteten Klasse, dem Adel aus. Die Weltgeschichte bietet kein andres Beispiel von ähnlichen Adel des Adels.» (Karl Marx: Beiträge zur Geschichte der polnischen Frage. Manuskripte aus den Jahren 1863-1864, Warschau 1986, S. 154)
  • Karl Marx, 1863:
    «Die Wiederherstellung Polens ist die Vernichtung des jetzigen Russlands, die Absetzung Russlands von seiner Kandidatur zur Weltherrschaft, die Zertrümmerung seiner Oberherrlichkeit über Deutschland. Die Vernichtung Polens, sein schließliches Aufgehen in Russland, ist der Untergang Deutschlands, der Einsturz des jetzigen Dammes vor der slawischen Sintflut. Für Deutschland fassen sich alle Fragen der auswärtigen Politik in ein Problem zusammen: Wiederherstellung Polens. Aber Deutschland ist nicht Preußen, und Preußen ist nicht Deutschland. Polens Verfall ist die Geburtsstätte Preußens und Russlands Fortschritt Preußens Entwicklungsgesetz. Kein Preußen ohne Russland, trotz der Gefahr eines Russlands ohne Preußen!» (Ebd., S. 74)
  • Friedrich Engels, 1874:
    «Das Polen nicht totzumachen ist, hat es 1863 bewiesen und beweist es noch jeden Tag. Sein Anspruch auf selbständige Existenz in der europäischen Völkerfamilie ist unabweisbar. Seine Wiederherstellung aber ist eine Notwendigkeit namentlich für zwei Völker: für die Deutschen und für die Russen selbst.» (Flüchtlingsliteratur. I. Eine polnische Proklamation, in: MEW, Bd. 18, S. 527)
  • Friedrich Engels an Karl Kautsky, 7. Februar 1882:
    «Polnische Sozialisten, die nicht die Befreiung des Landes an die Spitze ihres Programms setzen, kommen mir vor wie deutsche Sozialisten, die nicht zunächst Abschaffung des Sozialistengesetzes, Press- Vereins-, Versammlungsfreiheit fordern wollten. Um kämpfen zu können, muss man erst einen Boden haben, Luft, Licht und Ellenbogenraum. Sonst bleibt alles Geschwätz. Ob dabei eine Herstellung Polens vor der nächsten Revolution möglich, ist nicht von Bedeutung. Keinesfalls haben wir den Beruf, die Polen von Anstrengungen abzuhalten, sich die Lebensbedingungen ihrer Fortentwicklung zu erkämpfen, oder ihnen einzureden, die nationale Unabhängigkeit sei vom internationalen Standpunkt eine sehr sekundäre Sache, wo sie vielmehr Grundlage alles internationalen Zusammenwirkens ist.» (MEW, Bd. 35, S. 270)
  • Friedrich Engels, 1892:
    «Die rasche Entwicklung der polnischen Industrie, die der russischen über den Kopf gewachsen, ist aber ihrerseits ein neuer Beweis für die unverwüstliche Lebenskraft des polnischen Volks und eine neue Garantie seiner bevorstehenden nationalen Wiederherstellung. Die Wiederherstellung eines unabhängigen starken Polens ist aber Sache, die nicht nur die Polen, sondern die uns alle angeht.» (Vorwort zur zweiten polnischen Auflage des «Manifests der Kommunistischen Partei», in MEW, Bd. 22, S. 283)
  • Rosa Luxemburg, 1896:
    «Dies also sind die praktischen Folgen der ins Programm aufgenommenen Forderung der Wiederherstellung Polens. Seltsamerweise suchen die Verfasser eines solchen in seiner Konstruktion, die wir erwähnt, und in seiner Ausführbarkeit, die wir gezeigt, ganz utopischen Programms, das dazu in der Praxis auf reinen Nationalismus hinausläuft, dasselbe zu einem marxistischen per excellence zu stempeln. Sie glauben das nämlich dadurch tun zu können, dass sie sich bei jeder Gelegenheit auf die Sympathien berufen, welche Marx und Engels für die Idee der Wiederherstellung Polens ausgedrückt haben. Ganz besonders führen sie diejenige oft von den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus geäußerte Meinung ins Feld, die Wiederherstellung Polens sei als die Schutzmauer der europäischen Demokratie gegen den drohenden Einfall der russischen Reaktion notwendig.» (Neue Strömungen in der polnischen sozialistischen Bewegung in Deutschland und Österreich, in: Gesammelte Werke, Bd. 1/1, S. 30 f.)
  • Rosa Luxemburg, 1897:
    «Die Bauernreform von 1864 bildet den Abschluss der Epoche der adligen nationalen Kämpfe in Polen. Ohne den Bauern konnte der Adel über die russische Regierung nicht siegen. Der Sieg mit dem Bauern aber hatte zu seiner Voraussetzung die Abschaffung der Hörigkeit als das einzige Mittel, die Bauernschaft für die adlige Bewegung zu gewinnen – also die furchtbarste ökonomische Niederlage des Adels, die seinen politischen Sieg inhaltlos und den ganzen Kampf zum Unsinn gemacht hätte. An diesem Widerspruch mussten die adligen Aufstände scheitern, und es war eben der Gegensatz zwischen dem Adel und dem Bauerntum, der der russischen Regierung die Rolle eines Tertius gaudens und die Möglichkeit gesichert hatte, den Adel im Schach zu halten und seine Bewegungen zu paralysieren. Das Schlussmoment des Kampfes – die Bauernreform – hat die wirtschaftliche Physiognomie des Landes vom Grunde aus verändert, die Produktionsbedingungen der adligen Landwirtschaft umgestaltet und somit die soziale Grundlage, in der die nationale Bewegung ihre Wurzeln hatte, weggespült.» (Der Sozialpatriotismus in Polen, in: Gesammelte Werke, Bd. 1/1, S. 43)
  • Rosa Luxemburg, 1897:
    «Endlich – die bürgerliche ‹Intelligenz›. Diese kleine, aber in Ländern ohne politische Freiheit viel Lärm machende Schicht rekrutiert sich in Polen zu größten Teil aus dem verarmten Adel und dem Kleinbürgertum. In der Schule wird sie schon durch das bestialische System der Russifikation aufgebracht und national gesinnt. Später sieht sie sich die Hauptkarrieren – die Wissenschaft, den Staatsdienst, den höheren Militärdienst – verschlossen. Darum schwärmt ein Teil der bürgerlichen ‹Intelligenz› in einem bestimmten Lebensalter für das Vaterland und ballt gewaltig die Fäuste in den Taschen gegen die Moskowiter Tyrannei. Desto mehr sieht sich aber darauf angewiesen, in den sogenannten bürgerlichen Berufen, also im direkten Dienste bei der Industrie und der Bourgeoisie, ein Unterkommen zu suchen, und dank der immer steigenden Entfaltung der Industrie findet sie noch ein solches in reichlichem Maße. Sobald der ‹intelligente› Jüngling als fertiger Mann solcherweise in der bürgerlichen Gesellschaft festen Fuß fasst, übernimmt er die politische Physiognomie derselben und wird ‹vernünftig› und ‹solid›.» (Ebd., S. 48)