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Stadtkämpfe in Lateinamerika funktionieren anders als im «Norden». Bericht über ein stadtpolitisches Treffen in El Alto, Bolivien.

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Vom 28. April bis zum 5. Mai trafen sich mehr als 80 Personen aus 37 Organisationen und acht Ländern in El Alto, um über „buen vivir“, also das „gute Leben“, im urbanen Kontext zu diskutieren. Eingeladen zu dem Treffen hatten das bolivianische „Red de la Diversidad“, ein Zusammenschluss von fünf soziokulturellen Zentren und die Rosa Luxemburg-Stiftung.

Erstmals wurde in diesem breiten Rahmen die Frage nach dem Zusammenhang von Stadt und Land, von Kolonialismus und urbaner Ordnung und von Widerstand und der „anderen Stadt“ diskutiert. Anders als die Stadtkämpfe im globalen „Norden“, in Städten wie Hamburg, Berlin oder New York, drehten sich hier die Diskussionen um Vorstellungen, Möglichkeiten und Kämpfe für das „gute Leben“. Ausgehend von der Geschichte indigener und antikolonialer Kämpfe werden diese Begriffe dem hegemonialen Diskurs von Fortschritt und Entwicklung entgegengestellt – eine Perspektive, die in den Antigentrifizierungs-Protesten bislang so gut wie gar nicht vorkommt.

Ein Süd-Nord-Transfer?

Als einziger „nördlicher“ Vertreter war ein Berliner anwesend, der sowohl Erfahrungen aus dem nachbarschaftlichen Kampf für bezahlbare Mieten in Kreuzberg („Kotti & Co“), als auch aus den beginnenden bundesweiten Koordinationen der stadtbezogenen Proteste einbringen konnte („Interventionistische Linke“). Am Kottbusser Tor kämpfen seit einem Jahr Mieter_innen im auslaufenden Sozialen Wohnungsbau mit einem Protest-Camp im Dauerprotest für bezahlbare Mieten. Dabei geht es längst nicht mehr nur um ein Problem der Nachbarschaft, sondern um Mietenwahnsinn und Wohnungsnot in ganz Berlin. Die Protest-Hütte ist Treffpunkt der unterschiedlichen Erfahrungen und Biografien, die die Nachbar_innen mitbringen. Unter Anerkennung der Unterschiede und mit Blick auf die Gemeinsamkeiten versuchen sie, neue Formen des Protests, der Debatte und des Zusammenlebens zu finden, die nicht nur die Erfüllung der gemeinsamen Forderungen zum Ziel hat, sondern auch eine Antwort auf die Frage, wie die Stadt von morgen aussieht, sein soll.

Dieser Konflikt ist Teil einer ganzen Reihe von Protesten, die in den letzten Jahren in Hamburg, Frankfurt, Berlin und anderen deutschen Großstädten entstanden sind und das „Recht auf Stadt“ einfordern. Bislang waren diese Kämpfe wenig vernetzt und drehten sich um die lokalen Auswirkungen von Immobilienspekulation, Stadtpolitik und Wohnungsnot. Im Sommer 2013 sollen diese Auseinandersetzungen jedoch mit mehreren Aktionstagen verbunden werden.

Dabei geht es auf den ersten Blick um ganz andere Themen als die, die in Lateinamerika diskutiert werden. Beim Treffen in El Alto ging es bspw. um die Formalisierung informeller Stadtstrukturen, die offizielle wie nachbarschaftliche Bekämpfung unmittelbarer Gewalt oder den Markt als Ort der Begegnung.  In deutschen Städten sind diese Themen (fast) gar nicht (mehr) präsent – die Gründungs- und Entwicklungsgeschichte ist eine andere.

Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich: In den Diskussionen der Arbeitsgruppen tauchten immer wieder Konfliktlinien und Diskurse auf, die auch in Deutschland und anderen Staaten des „Nordens“ eine Rolle spielen, hier aber oft undiskutiert sind. Dazu gehört das grundsätzliche Verhältnis von Stadt und Land. Die Teilnehmer_innen des Treffens kritisierten die koloniale Perspektive, die hierarchisch das Ländliche/Indigene/Weibliche/Private gegen das Städtische/Mestizische/Männliche/Öffentliche stellt. In Europa äußert sich dies in der fast vollständig unkritischen Affirmation des Stadtlebens als Ort der Geschwindigkeit, des Erfolgs, des Fortschritts und der Weltläufigkeit, sowie des überlegenen Wissens gegenüber dem „rückwärtsgewandten“ Landleben. Der antikoloniale Diskurs Lateinamerikas, der mit Begriffen und Konzepten, die nicht aus der hegemonialen Tradition der Aufklärung stammen und diese trotzdem nicht ignorieren, kann auch hier helfen, den Blick zu schärfen. Dies betrifft in besonderem Maß die Abschätzigkeit gegenüber der „Idiotie des Landlebens“, mit dem auch Aspekte von Bäuerlichkeit und Natur in der Stadt unsichtbar gemacht werden. Dabei sind bspw. in Kreuzberg ein Großteil der dort an der Auseinandersetzung um bezahlbare Mieten Beteiligten (Kinder von) Migrant_innen aus bäuerlichen Gegenden der Türkei, mit denen viele Familien weiterhin in regem Austausch stehen. Zwei Straßenecken weiter befindet sich ein Kinderbauernhof und die zahlreichen fußläufigen Grünflächen, Parks und Ufer verwandeln sich mit den ersten Sonnenstrahlen in egalitäre und sehr informell geregelte Orte der Begegnung, wo auch die größten Freund_innen des Stadtlebens behaglich ihre nackten Füße auf die Wiese setzen. Dass der öffentliche Nahverkehr und die relative Dezentrierung der Stadt nicht nur für kurze Wege zum Konsum, sondern auch zu den Seen und Flüssen sorgt, ist, das merkt man in den überfüllten S-Bahnen stadtauswärts an Sommerwochenenden, den meisten Berliner_innen wohl bewusst. In den großen Auseinandersetzungen um das Recht auf Stadt sind diese Aspekte aber unsichtbar. Dort wird, sehr legitim, auf dem Leben im Stadtzentrum auch für einkommensschwache Berliner_innen, beharrt. Welche Hoffnungen und Bedürfnisse einerseits aber mit diesem Ort verbunden sind, welche Einschränkungen und Entfremdungen andererseits mit dem Leben in Zentrum der kapitalistischen Stadt verbunden sind, spielt dabei aber nur eine untergeordnete Rolle. Die tiefe Abhängigkeit der Stadt vom Land bleibt unsichtbar. Das betrifft sowohl das unmittelbares Umland, z.B. im Hinblick auf Lebensmittelproduktion, als auch als jene unsichtbaren Territorien des globalen Südens, wo die Rohstoffe für den allgemeinen, beispielsweise elektronischen, Konsumrausch unter hoch konfliktiven Bedingungen gefördert werden – obwohl sie ein ganz zentrales Verhältnis des heutigen globalen Kapitalismus darstellt und den Grundstein für eine neue internationalistische Kooperation im Hinblick auf drängende globale Probleme setzen könnte.

Der Kampf um bezahlbaren Wohnraum am „Kotti“ hat den Bezug zu Rassismus, zur Rolle der Politik und der Frage nach dem Ort, an dem die Bedürfnisse der Berliner_innen überhaupt ihren Ausdruck finden können, gestellt. Das Modell „Entwicklung durch noch mehr Kapitalinvestition in noch mehr Immobilien in Privateigentum“ wird scharf abgelehnt. Doch auch hier bleiben viele der o.g. Aspekte bislang weitgehend undiskutiert. Der Austausch in El Alto hat hier neue Denkanstöße, auch für Prozesse in deutschen Auseinandersetzungen um ein Recht auf Stadt gegeben. In Lateinamerika kämpfen viele Menschen für eine Perspektive jenseits technokratischer „Entwicklungsstrategien“, die mit noch intensiveren Warenströmen und Megaprojekten aus Lateinamerika ein „Europa 2.0“ machen wollen. Ein ganz ähnliches Denken scheint durch, wenn die Berliner Stadtpolitik 40.000 Wohnungen, natürlich von privaten Investoren gebaut, ankündigt, um die Probleme von Verdrängung und Wohnungsnot zu lösen. Megaprojekte des Kapitals sollen das Versprechen von „Entwicklung“ und Wohlstand erfüllen und die Probleme lösen, die auf genau diesem Weg erst entstanden sind.

Zur anderen Seite wird mit Blick unter anderem auf die Ergebnisse der Arbeitsgruppen „Konsum“ und „Bodeneigentum“ während des Treffens in  Bolivien deutlich, dass aus den Diskussionen des „Nordens“ ebenfalls einige nützliche Erkenntnisse für die lateinamerikanischen Debatten zu ziehen sind. Gerade Deutschland mit einer seit einigen Jahren forcierten Entwicklung zum „grünen Kapitalismus“, der Mülltrennung, Solarindustrie und Atomausstieg mit Prekarisierung und Verarmung verbindet, kann einer unscharfen Konsumismus-Kritik anschauliches Beispiel sein, wohin die Reise auch führen kann.

Die lateinamerikanische Stadt der Gegenwart

Den meisten Städten Lateinamerikas ist die Geschichte von Kolonialismus und Postkolonialismus tief eingeschrieben: Rund um den zentralen „Plaza Principal“ sind die zentralen Institutionen der kolonialen Herrschaft angeordnet: Das Rathaus, die Kirche und eventuell ein Salon oder Treffpunkt der kolonialen Oberschicht. Zu diesem Platz war Indigenen der Zugang teils noch bis vor wenigen Jahren verwehrt. Erst einige Blöcke weiter findet sich der zentrale Marktplatz, der den Austausch der indigenen mit der kolonialen Gesellschaft gewährleistete. Noch weiter außerhalb liegen die Viertel der Kolonisierten, die, von politischer wie sozialer Macht getrennt, vom urbanen Zentrum isoliert lebten. Bis in die Gegenwart ist die räumliche Trennung, die Polarisierung, in vielen Städten Lateinamerikas ein sich sogar ausbreitendes Phänomen. An der Distanzierung des Stadtlebens von seiner natürlichen Grundlage und dem entfremdeten Leben in einer Stadt, die materiell nahezu ausschließlich von diesen ausgegrenzten Menschen errichtet wurde, gibt es eine Kritik, die den abschätzigen Blick auf den Campesino und den Indígena, die patriarchale Struktur der Stadt und die sich in ihr eingeprägte Ideologie von Entwicklung und Fortschritt thematisiert. Doch wie kann das „gute Leben“ unter diesen Bedingungen, auch im urbanen Kontext, gestaltet werden?

Der vermeintlichen Alternativlosigkeit der standardisierten räumlichen Ordnung stehen andere Städte entgegen, zu denen El Alto gehört. Das explosionsartige Wachstum dieser Andenstadt, das keinen stadtplanerischen Maßgaben entsprach, ist eng verbunden mit neoliberaler Schocktherapie und armutsbedingter Binnenmigration. Dementsprechend ist die Stadt dezentraler aufgebaut als das benachbarte La Paz, die wichtigen Institutionen, um die sich die Viertel gruppieren, sind allen voran die Märkte, Sport- und andere Plätze, die nicht koloniale Herrschaftansprüche ausdrücken, sondern vor allem als Orte der Begegnung dienen. Auch wenn diese nicht-koloniale Struktur viele Probleme mit der modernen, kapitalistischen Stadt teilt und einige eigene Probleme mit sich bringt, veranschaulichte der Kontrast der benachbarten Städte eindrücklich, welche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zur Diskussion stehen können.

Fünf Schlaglichter

Zur Diskussion standen bei dem Treffen ganz konkrete Fragestellungen, wie das „Vivir bien/buen vivir“ im städtischen Alltag zu realisieren ist, welche Prozesse dem entgegenstehen und wo bereits Anfänge dieser „anderen Stadt“ sichtbar sind. Wie die verschiedenen Auseinandersetzungen der vertretenen Organisationen und Bewegungen zusammenzubringen sind, welche Gemeinsamkeiten sie haben und was sie voneinander lernen können, war Gegenstand von fünf Workshops, die aus unterschiedlichen Perspektiven die Konflikte um die Stadt von heute und die von morgen beleuchteten. Einige zentrale Thesen der Workshops werden im Folgenden kurz dargestellt.

Öffentlicher Transport und öffentlicher Raum

Die koloniale Ordnung der lateinamerikanischen Städte äußert sich in der Trennung, physisch wie sozial. Allerdings sind diese trennenden Logiken des Kapitals nicht unangefochten, sondern überkreuzen sich mit popularen Praxen. Damit sind die Städte weder eindeutig als Transiträume für den Konsum, noch als selbstbestimmt gestaltete Orte der Begegnung zu definieren. Sie bleiben ein umkämpfter Raum.

Der öffentliche Nahverkehr hat eine Schlüsselfunktion in der Raumordnung der Städte. Hier geht es um die Entknotung der zentralistischen Linienführung, eine Verbesserung der in manchen Städten katastrophalen Sicherheitslage und die Einführung umweltfreundlicherer Technologien statt des teilweise hochsubventionierten Benzins, um die Bedürfnisse der Bewohner_innenschaft durchzusetzen. Von popularer Seite wird die Frage aufgeworfen, auf welche Weise wir uns entlang welcher Wege durch die Stadt bewegen wollen und wie wir den öffentlichen Nahverkehr einem Ort des Austausches machen können. Dem entgegen steht der Widerstand der einflussreichen privaten Nahverkehrs-Unternehmer_innen.

Fahrpreise und die Ökonomie des öffentlichen Nahverkehrs sind in Europa wie in Lateinamerika schnell Anlass zu Protesten. So sorgte die Streichung von Bezinsubventionen in Bolivien Ende 2010 für einen fünftägigen Aufstand, der in der Zurücknahme dieser Maßnahme endete. In Deutschland wurden Anfang der 1970er mit der „Aktion Roter Punkt“ Massen gegen Fahrpreiserhöhungen mobilisiert und auch gegenwärtig sind wird gegen die Teilprivatisierung der Berliner S-Bahn oder gegen „Stuttgart 21“ protestiert. 

Ökonomie und Konsum

Zentrales Merkmal lateinamerikanischer Leitlinien der ökonomischen Entwicklung ist der Extraktivismus, also die exportorientierte Ausbeutung natürlicher Ressourcen als Triebkraft der Nationalökonomien, oft durch transnationale, teilweise staatseigene, Unternehmen. Die in dieses Modell eingebettete industrialisierte Nahrungsmittelproduktion, verändern und beschränken das Verhältnis der (Stadt-) Bevölkerung zur Natur und stellen ein konsumistisches Verhältnis her. Die Aushandlung zwischen kapitalistischen und anderen Logiken dreht sich um die Wiederaneignung der Produktionsbedingungen unserer Lebensmittel im unmittelbaren und weiteren Sinn. Ein sehr wichtiger Aspekt, in dem sich die Regierungen des bolivarischen Prozesses teilweise nur wenig von den übrigen lateinamerikanischen Ländern unterscheiden, ist das Thema der Saatgut-Monopole, Agrarchemikalien und der gentechnisch veränderten Organismen. Alternativen existieren in der indigenen Tradition, die auf Austausch von Saatgut, auf Misch- statt Monokulturen, auf chemiefreie und natürliche Produktion und kleinbäuerliche Strukturen setzt.

Auch in Deutschland sind diese Themen unter den Schlagwörtern von lokaler und ökologischer Produktion, nachhaltigem Konsum und „Slow Food“ präsent. Allerdings steht all das eher für die Mittelschicht, die sich teurere Nahrungsmittel leisten kann, auf der Tagesordnung und fügt sich an Solar- oder Abfallverwertungsindustrie, Atomausstieg und Agrar-Treibstoff an – der „grüne Kapitalismus“. Zwar gibt es auch zahlreiche Initiativen, die die Nahrungskrisen im globalen „Süden“, die Spekulation mit Agrarland und die „Rebellion der Grenzen“ angesichts der grenzenlosen Wachstumslogik mit in den Blick nehmen, doch so eng wie die Vertreter_innen aus Bolivien diese Themen mit der Suche nach neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen verbinden, geschieht dies in Deutschland noch zu wenig.

Sicherheit und Zusammenleben

In allen lateinamerikanischen Städten ist ein Sicherheitsdiskurs präsent, dessen Konsequenzen die soziale Kontrolle durch staatliche Institutionen, der repressive und strafende Zugriff auf Teile der Bevölkerung und der Rückzug aus dem öffentlichen Raum sind. Damit prägt er die Struktur des öffentlichen Raums ganz maßgeblich und beeinflusst so Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenlebens. Dieser hegemoniale Diskurs verdeckt andere Formen der Gewalt und Illegalität, die die Ungleichheit und die Ausbeutung in den Städten perpetuieren. Unsicherheit ist nicht nur in kriminalistischen, sondern auch in sozialen Begriffen zu denken.

Die Interpretation sozialer und politischer Auseinandersetzungen als Sicherheitsproblem verengt den Rahmen der Aushandlungen sehr erheblich. Der Logik der Trennung steht hier die Logik des gegenseitigen Bezugs gegenüber, die die Verunsicherung hinsichtlich Gewalt ebenso berücksichtigt wie die der individuellen und gemeinschaftlichen Lebensbedingungen. Dabei geht es um die Herstellung von Verbindungen und Situationen der Begegnung im Viertel, auf der Strasse, auf Plätzen und in Parks, die den hegemonialen Sicherheitsdiskurs unterlaufen und die Legitimität der repressiven Institutionen durch alternative Formen der Ver-Sicherung in Frage stellen.

In Deutschland geraten zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich für mehr Sicherheit in ihren Vierteln engagieren, leicht in die Nähe rassistischer, ordnungspolitischer oder sozialchauvinistischer Positionen. Damit bleibt ein wichtiges Bedürfnis der Bewohner_innen gerade einkommensschwacher Stadtgebiete von linker Seite unbearbeitet. Die Arbeit der Vertreter_innen aus Venezuela und Kolumbien zeigt Alternativen auf. Dort wird dem Problem der Unsicherheit mit kulturellen Angeboten, nachbarschaftlicher Vernetzung und der Sichtbarmachung etwa häuslicher Gewalt gegen Frauen begegnet und sowohl der unmittelbaren, physischen Gewalt, als auch dem brutalisierenden Eingreifen von Polizei und Militär eine Basisperspektive entgegengestellt, die von den Bedürfnissen und der Initiative der Betroffenen ausgeht.

Politische Kultur

Der Begriff der „politischen Kultur“ ist weiter zu fassen, als „nur“ künstlerische Aktivitäten mit politischen Inhalten, als die „schönen Künste“; er erfasst alle Aspekte des Lebens in ihren kulturellen, ästhetischen oder künstlerischen Aspekten. Wirksame Gegenbewegung zu Kommodifizierung und Folklorisierung der popularen Ausdrucksformen sind kulturpolitische Praxen, die das Gemeinsame in den Mittelpunkt stellen und den gesellschaftlichen Kontext, etwa die Straße, den Platz oder den Markt, den nicht-kapitalistischen Gütertausch („Trueque“), mit einbeziehen und integrieren. In der Konstruktion kulturpolitischer Ausdrücke von anti-hegemonialen Identitäten geht es um Aneignung und Wiederaneignung der eigenen Geschichte, des öffentlichen Raums und der Demokratisierung der Möglichkeiten, seine Subjektivität und kulturellen Ausdruck zu finden.

Städtisches Bodeneigentum und räumliche Organisierung

Eine zentrale Kategorie des Konflikts zwischen der kolonialen/modernen Stadt einer „anderen Stadt“ ist das Grundeigentum. Dabei geht es oft um die Frage der Eigentumsordnung in ärmeren, teilweise informellen Stadtvierteln, also etwa die Anerkennung von Landeigentum durch Titelvergabe, aber auch die zunehmende Spekulation mit Boden und Immobilien in vielen lateinamerikanischen Städten. Die „andere Stadt“ benötigt die Stärkung und Verteidigung anderer (kollektiver, partizipativer, gemeinschaftlicher, nicht individuell veräusserbarer) Eigentumsformen wie der ejidos oder comunas, die den Bedürfnissen der Bewohner_innen der Stadt und nicht der Logik der Kapitalverwertung entsprechen, wie sie in vielen Ländern Lateinamerikas traditionell existieren, derzeit aber durch individuelle Titelvergaben unterlaufen werden. Diese Eigentumsformen haben verbindenden statt trennenden Charakter und bedeuten nicht nur juristische Anerkennung, sondern auch praktische Inklusion in die formale Versorgungsstruktur der Stadt, etwa Wasser, Strom, Kommunikationstechnik, Straßenbau, Müllabfuhr, Bildung und Gesundheit.

Auseinandersetzungen um bessere Infrastruktur finden in Deutschland öffentlich wahrnehmbar vor allem um (bessere) Internetversorgung in nicht profitablen, ländlichen Regionen statt. In den großen Städten wiederum sind Boden- und Immobilienspekulation mit Gentrifizierungsentwicklungen verbunden. Das Grundproblem, eine nach den Logiken der Kapitalverwertung strukturierte Stadt-Ökonomie, die auch den urbanen Raum selbst, die Wohnungen und öffentlichen Orte, zur Ware macht, ist in Europa wie in Lateinamerika das selbe. Organisationen wie das Mietshäusersyndikat arbeiten seit Jahren an der Frage gemeinschaftlicher, nicht-marktorientierter Eigentumsformen – ein Thema, das spätestens mit der Hausbesetzungsbewegung in Deutschland diskutiert wird und eng mit der Debatte um die Commons verknüpft ist.

Ein erster kontinentaler Austausch zum Thema

Das breite Themenfeld und die oft nur grob andiskutierten Fragestellungen sind eine Bestandsaufnahme der Themen, die in den Ländern, in denen die anwesenden Organisationen präsent sind, eine Rolle spielen. Dieser sehr breite Rahmen hat etwas mit der Suche nach Gemeinsamkeiten in teilweise recht unterschiedlichen Kontexten zu tun: Das Verhältnis sozialer Bewegungen zur Regierung in Venezuela ist ein anderes, als etwa in Mexiko. Auch bedeutet „gutes Leben“ in Megastädten wie Buenos Aires oder Lima etwas anderes als in kleineren Städten in ruralen Gegenden. Das titelgebende „Vivir bien/buen vivir“ erwies sich als tragfähiger Bezugspunkt für diese unterschiedlichen Kontexte und Kämpfe, auch über den lateinamerikanischen Rahmen hinaus. Es verweist auf eine strategische Stoßrichtung, die die grossen Versprechen der westlichen Modernisierung und kapitalistischen, konsumzentrierten „Entwicklung“ hinterfragt und statt dessen reale menschliche Bedürfnisse  im jeweiligen Kontext in den Mittelpunkt stellt. Mit Blick auf Extraktivismus und Alternativen zur „modernen“ Entwicklung ist die Diskussion um das „gute Leben in der Stadt“ hilfreich, um zu verstehen, was die koloniale Prägung und den Extraktivismus konkret auszeichnet und wie sie den Bedürfnissen der Bevölkerung entgegenstehen. So ist die Stadt – egal, ob in Lateinamerika oder Europa - der Ort, an dem der Extraktivismus sich im grenzenlosen und beschleunigten Konsum materialisiert. Für Deutschland ist diese Debatte, gerade mit Blick auf die Wahlkampfprogramme der Parteien, wichtig. Die Antwort der Politik etwa auf steigende Mieten und Wohnungsnot in den großen Städten lautet fast einheitlich „Neubau“ – und zwar Neubau von Privateigentümer_innen, denen die Investition mit Fördergeldern schmackhaft gemacht werden soll. Dieser eindimensionalen Vorstellung von Stadt-Entwicklung kann die Perspektive der lateinamerikanischen Diskussion einige wichtige Erkenntnisse entgegenhalten.

Verstetigung des Austausches

Eingeladen zum Treffen hatte das „Red de la Diversidad“, ein seit vielen Jahren bestehendes bolivianisches Netzwerk von kulturpolitischen Zentren und Radios, die auf eine längere Geschichte der Vernetzung, des Austausches und der Koordination zurückblicken können und die auch international bereits mit einigen Gruppen im Austausch stehen. Mit dem Treffen in El Alto sollte ein Prozess der Verstetigung des lateinamerikanischen Austausches zum Buen Vivir im städtischen Raum angestoßen werden – in einem Kontinent, in dem bereits heute 80% der Menschen in Städten wohnen. Eine Woche fruchtbarer Diskussionen und das rundweg positive Fazit der Anwesenden haben gezeigt: Es gibt ein Bedürfnis nach gemeinsamer Debatte und nach gegenseitiger Bezugnahme. Das Treffen in El Alto wird sicher nicht das letzte gewesen sein.