Die Künstler (und wenigen Künstlerinnen) des Expressionismus lösten um 1900 eine radikale „Kunstwende“ aus, so der Autor und STURM-Galerist Herwarth Walden. Unterstützt und gefördert wurde diese von fortschrittlichen SammlerInnen, Kunstjournalisten und Museumsleitern. Der 1874 geborene Karl Ernst Osthaus aus dem westfälischen Hagen (Biografie als PDF) gilt als Avantgardist unter den MäzenInnen und Sammlern und deswegen als ein wichtiger Förderer dieser neuen Kunstrichtung. Er gründet unter anderem ein 1902 eröffnetes Museum in Hagen - und 1907 den Deutschen Werkbund mit, verstirbt allerdings bereits 1921. Seine Sammlung wird von seinen Erben 1922 an die Stadt Essen verkauft, die damit das Museum Folkwang gründet. Nach 1945 erfolgt die Neugründung des Osthaus Museum in Hagen (mehr Information).
Die im Buch vorgestellten Werke stammen alle aus dem Osthaus Museum. Die Textbeiträge ordnen den Expressionismus als Phänomen der Krise des endenden 19. Jahrhunderts ein. Neben sozialgeschichtlichen Faktoren wie Industrialisierung, gestiegener Mobilität (Verstädterung und Landflucht) und Säkularisierung wird der Expressionismus vor allem als Ausdruck einer Identitäts- und Sinnsuche gedeutet - und einem damit zusammenhängenden, starken Bedürfnis nach Authentizität. Phänomene die einem heute angesichts von Kreativitätsimperativ („Mach dein Ding!“) und des Kultes um Do It Yourself, Achtsamkeit, Urban Gardening sehr bekannt vorkommen und zu weitergehenden Reflektionen einladen. Ist dieses Authentizitätsbedürfnis heute einlösbar, wenn es bereits damals nur mittels einer „Sekundärexotik“ der Südsee oder der Moritzburger Seen möglich war? Nolde und Pechstein fanden in der Südsee, die sie beide besuchen, ja nicht die unberührte oder gar unzivilisierte „Natur“ vor, sondern eine vom Kolonialismus überformte Gesellschaft und – malten, was sie sehen wollten. Auch wenn sie dadurch, wie der Verlag zu recht schreibt, „zuweilen wahre Feuerwerke der Farbe“ schufen.
Unter den im Bildteil (ab S. 43) durchweg großformatigen Abbildungen finden sich Werke der üblichen Verdächtigen, wie Heckel, Kirchner, Macke, Marc, Mueller, Nolde und Rohlfs. Etwas auffallen tun höchstens die Werke von Feininger und Conrad Felixmüller. Wer sich schon mit Expressionismus beschäftigt hat, wird in diesem Buch wenig Neues finden. Es gibt aber nichtsdestotrotz einen guten Eindruck und Überblick über diese künstlerische Reformbewegung.
Tayfun Belgin, Leiter des Osthaus Museums in Hagen, zitiert in seinem Beitrag Walter Sockel. Dieser schreibt 1960 (!): „Viele Expressionisten betrachten sich als intellektuelle Ungeheuer, unfähig, eine Beziehung zur gewöhnlichen Menschheit herzustellen“. Sie seien, so der zitierte Wiener Literaturwissenschaftler Sockel weiter, diejenigen, die „mit rasendem oder sehnsüchtigen Neid auf die ungestörte Einfalt des Durchschnittsmenschen“ blickten (1). Viele (radikale) Linke und auch auch Kulturlinke werden sich in dieser Beschreibung wiedererkennen. Es muss also offen bleiben, ob die Expressionisten – damals – ihren Sinn und ihre Daseinsberechtigung gefunden haben. Ihre Kunst hat ihnen aber bei der Suche geholfen – und wirkt auch heute noch eindrucksvoll auf die Betrachtenden.
Tayfun Belgin / Otto Letze (Hrsg.): Radikal subjektiv. Identitätssuche im deutschen Expressionismus, Hirmer Verlag, München 2015, 120 Seiten, 24,90 EUR
(1) Walter H. Sokel: Der literarische Expressionismus, Der Expressionismus in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, München 1970 (zuerst 1960), S. 110 (hier zitiert nach Belgin)
Hinweis: Die Ausstellung, auf die sich die Publikation bezieht, ist ab 29. Mai 2016 in Hamburg im Ernst Barlach Haus zu sehen.