Christopher Clark relativiert in seinem Buch die deutsche Kriegsschuld – und behauptet zudem, dass Serbien eine größere Verantwortung für den Kriegsausbruch im Jahr 1914 trage als bisher angenommen.
Derartige Neubewertungen des Ersten Weltkriegs erzeugen in Deutschland kaum Emotionen. In Serbien und Bosnien-Herzegowina dagegen sorgen revisionistische Diskurse über den Ersten Weltkrieg für eine vergiftete Atmosphäre. Und das aus mindestens zwei Gründen. Einerseits ist im europäischen Geschichtsbewusstsein kaum verankert, dass die vom Deutschen Reich unterstützte österreich-ungarische Armee auf dem Balkan unglaubliche Kriegsverbrechen verübte. Das Königreich Serbien hatte mit 1,1 Millionen Kriegstoten, gemessen an seiner damaligen Einwohnerzahl (4,5 Millionen), unter allen Kriegsteilnehmern die höchsten Verluste zu beklagen. Andererseits werden die Diskussionen über die Ursachen des Ersten Weltkriegs auf dem Balkan unmittelbar mit tagespolitischen Konfliktkonstellationen verbunden. Speziell in Bosnien-Herzegowina werden sie in den Antagonismus zwischen «bosnischen Serben» und «bosnischen Muslimen» eingespeist, welcher in diesem Land auch 18 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs der 1990er Jahre das politische Leben dominiert.
Einen Kristallisationspunkt finden die aktuellen Kontroversen in der Bewertung des «Attentats von Sarajevo» vom 28. Juni 1914, als Mitglieder der Gruppe «Junges Bosnien», darunter der letztlich erfolgreiche Schütze Gavrilo Princip, den Österreich-Ungarischen Erzherzog Franz Ferdinand erschossen. Inspiriert durch Clark sehen nationalistische muslimische und kroatische Intellektuelle in Gavrilo Princip, ganz im Stil der historischen deutsch-österreichischen Propaganda während und nach dem Ersten Weltkrieg, einen «serbischen Mörder» und «Terroristen». Teilweise stellen sie Princip sogar in eine Linie mit Kriegsverbrechern der 1990er Jahre. Wie sie habe Princip für ein «Großserbien» gekämpft. Dagegen steht eine «serbische» Gegenerzählung. In dieser ist Princip in erster Linie ein «serbischer Freiheitskämpfer».
Beide Positionen sind aus geschichtswissenschaftlicher Sicht schlichtweg falsch. Sie verschweigen, was HistorikerInnen auf der Grundlage eindeutiger Quellen geklärt haben. Gavrilo Princip war zwar serbischer Herkunft, seine FreundInnen aus der Gruppe «Junges Bosnien» waren aber alles andere als serbische Nationalisten. Im Gegenteil, im «Jungen Bosnien» wirkten serbische, kroatische und muslimische Mitglieder gemeinsam. Ihr international wohl prominentestes Mitglied war der spätere Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić, ein bosnischer Kroate. Das Hauptziel der Gruppe war die Beendigung der kolonialen Herrschaft des Habsburger Reiches über Bosnien-Herzegowina und eine Vereinigung der südslawischen Völker in einem neu zu schaffenden Jugoslawien. Diese Idee war bei den Teilnehmenden in unterschiedlicher Weise mit zeitgenössischen anarchistischen und sozialrevolutionären Ideen verbunden.
Ein mindestens genauso wichtiges Thema wird in den Diskussionen über den Ersten Weltkrieg in Serbien und Bosnien-Herzegowina allerdings bisher noch nicht einmal am Rande behandelt. Es handelt sich um die Erinnerung an die sozialistische Opposition gegen den Ersten Weltkrieg auf dem Balkan, eine Bewegung, die heute als leuchtendes Vorbild für den Kampf gegen Nationalismus und Krieg gelten könnte. Die sozialistische Bewegung propagierte seit der Ersten Sozialistischen Balkan Konferenz 1910 in Belgrad die Idee einer Demokratischen Balkan Föderation. Sie setzte auf die Kooperation der Bevölkerungen der Region und den gemeinsamen Widerstand gegen imperiale Projekt der Großmächte. Sie stellte sich gegen die nationalistischen und expansionistischen Projekte der lokalen Eliten. Während der Balkankriege 1912/13 und während des Ersten Weltkriegs war die sozialistische ArbeiterInnenbewegung die führende Kraft der Friedensbewegung. Heute ist kaum bekannt, dass die Abgeordneten der serbischen Sozialisten am 8. August 1914 in einer Atmosphäre der nationalistischen Mobilmachung gegen die Kriegskredite stimmten. Auch in Griechenland, Bulgarien und Rumänien mobilisierten sozialistische Gruppen gegen den Krieg.
Der Beitrag ist Teil des Titelthemas «Nachhall der Geschichte» der Ausgabe 1-2014 des Stiftungsjournals RosaLux. |
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Die Auseinandersetzung mit den Ursachen des Ersten Weltkriegs und den Bestrebungen für eine Balkanföderation gehören zum Workshop-Programm der Stiftung auf dem «Peace Event» vom 6. bis 9. Juni 2014 in Sarajevo. Mehr Informationen zur Arbeit in Südosteuropa finden sich hier. |
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