Die deutschsprachige Agrargeschichte (und die Agrarsoziologie) befinden sich seit der Jahrtausendwende in einem langsamen Aufholprozess, der im internationalen Vergleich nur als nachholend zu bezeichnen ist (1). Impulse kommen dafür auch aus benachbarten Disziplinen, wie der Geografie oder der Ethnologie. Eine neue Publikation widmet sich nun „Ländlichkeiten nach 1945“ und dies aus einer an Alltag und einem weiten Kulturbegriff orientierten, kulturanthropologischen Perspektive (Inhaltsverzeichnis).
Die Leserin hat hier ein Werk aus dem akademischen Kontext, mit dementsprechender Sprache und Zielgruppe vor sich. Es resultiert aus einer Tagung der „Volkskundlichen Kommission für Niedersachsen“ im Oktober 2013. Das Vorwort postuliert, dass sich auch im ländlichen Raum die Lebensstile vervielfältigt hätten und berichtet darüber, dass in der Publikation „Lesarten des Ländlichen zwischen Defizitnarrationen und Life-Style-Ländlichkeit“ (S. 16) im Fokus stehen. Mit den Artikeln sollen „Einblicke in bislang weniger bekannte Facetten und Aspekte des Ländlichen“ (S. 18) gegeben werden. Dieser Anspruch wird nicht durchgehend, aber doch in genügender Weise eingelöst.
So werden neue Themen, wie etwa rurale Männlichkeiten und Geschlechterregimes, etwa im Hinblick auf Körperpraktiken, oder die von temporärer Arbeitsmigration geprägten Arbeitsverhältnisse in der Ernte von Sonderkulturen (Spargel, Erdbeeren, etc.) untersucht. Traditionelle Themen, wie etwa ländliches Bauen werden unter einem neuen Blickwinkel diskutiert, wenn z.B. landwirtschaftliches Bauen nach 1960 oder die Frage debattiert wird, ob Fertighäuser schon heute in Freilichtmuseen gehören. Landwirtschaft war in der Geschichte schon immer mit Migration verbunden, im Buch wird über italienische Gastarbeiter in der Landwirtschaft Ostniedersachsens zwischen 1955 und 1970 berichtet. Der letzte Beitrag untersucht dann die in Niedersachsen weitverbreitete Pferdezucht als ein Wissenssystem, das derzeit einen tiefgreifenden Wandel - weg von der familiären Prägung und Wissensweitergabe – durchläuft.
Wenn nicht bekannt wäre, dass Realität auch eine soziale Konstruktion ist, könnte man sagen, das Buch liefert größtenteils spannende Beiträge zu einigen Facetten der (historischen) Realität ländlicher Räume.
Michaela Fenske und Dorothee Hemme (Hrsg.): Ländlichkeiten in Niedersachsen. Kulturanthropologische Perspektiven auf die Zeit nach 1945, Schmerse Media, Göttingen 2015, 176 Seiten, 22 EUR
(1) Ein Meilenstein wird dabei das soeben erscheinende dreibändige Werk „Grundzüge der Agrargeschichte“ (Köln/Weimar/Wien 2016) sein (mehr dazu hier).