Wenn auch weltweit erstmals in der Geschichte der Menschheit mehr Menschen in Städten leben, als auf dem Land, sind doch zum Beispiel in der Bundesrepublik dreiviertel der Fläche per definitionem „ländlicher Raum“, in dem allerdings nur ungefähr ein Viertel der Bevölkerung lebt. Der rasante technische Wandel, die Medienrevolution und die Zuwanderung (zuerst aus Osteuropa, dann aus dem Mittelmeerraum und dann nochmals aus Osteuropa) haben dazu geführt, dass sich auch im ländlichen Raum die Lebensstile pluralisiert haben. Nicht zuletzt ist die ökonomische Bedeutung der Landwirtschaft durch die Modernisierung der Produktionsweisen rapide gesunken, so dass z.B. heute nur noch ein Fünfzigstel aller Erwerbstätigen in der landwirtschaftlichen Erzeugung arbeiten (1880 waren es noch 47 Prozent).
Die Agrargeschichte galt und gilt als eine besonders konservative Subdisziplin. Dies bildete sich in den 1990er Jahren z.B. in der 1952 gegründeten Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie (ZAA) ab. Als Kontrapunkt gegen die ZAA gründet sich 1994 der Arbeitskreis Agrargeschichte (AKA), als ein Zusammenschluss reformfreudiger WissenschaftlerInnen, der halbjährlich einen eigenen Newsletter herausbringt. Die im AKA versammelten Akteure, darunter auch engagierte MuseumsmitarbeiterInnen, propagieren interdisziplinäre, moderne Ansätze, die z.B. an Bourdieu geschult sind, Geschlechterfragen thematisieren oder mediengeschichtlich argumentieren.
Zehn Jahre später findet dann 2003 ein personelles Revirement in der Redaktion der ZAA statt, durch das Mitglieder des AKA die ZAA übernehmen und deren Modernisierung forcieren. 2012 werden der AKA und der Herausgeberverein der ZAA fusioniert. Schon damals wurde ein neues Standardwerk zur Agrargeschichte geplant; und mit vielen Vorschusslorbeeren kommuniziert. Nun ist es endlich in drei Bänden erschienen.
Der Band zur Moderne umfasst den Zeitraum, in dem die solare Landwirtschaft zu einer auf fossilen Energien - wie Dünger, Öl, Strom - basierenden umgebaut wurde. Er enthält neun Kapitel, von denen die drei zu Boden, Kapital und Demografie relativ umfangreich ausgestaltet sind, während die zu Arbeit, Agrarmarkt bzw. Agrarpolitik und Wissen dann weit kürzer ausfallen. Die Spitze dieses Ungleichgewichts bilden die Kapitel „Globale Verflechtungen“ und das zu „Ertragssteigerungen“, die ganze eineinhalb bzw. drei Seiten umfassen. Innerhalb der längeren Kapitel wird entlang der klassischen zeitlichen Wendepunkte unterteilt und so auch die Geschichte der DDR-Landwirtschaft mit berücksichtigt. Hier wird nun klar, dass es um deutsche Agrargeschichte geht und nicht „Agrargeschichte“ oder die „Geschichte agrarischer Gesellschaften“ in einer europäischen oder gar globalen Perspektive oder einem Ansatz, der transnational vergleichend arbeitet.
Den Hauptteil des Textkorpus bildet im Gegenteil die kleinteilige Aufzählung von teilweise sehr partikularen oder lokalen Statistiken, was die Lesefreude sehr schnell bremst und bald einfach nur ermüdend ist. Die Leserin erfährt zwar einiges über Strukturen, Dynamiken und Prozesse. Von neueren Interpretationen, wie es sie durchaus gibt, und wie sie im AKA, dem der Autor Mahlerwein auch angehört, diskutiert werden, ist jenseits des Kapitels zu landwirtschaftlichem „Wissen“ und den Passagen zur Definition ländlicher Räume (am Schluss des Buches) sehr wenig zu spüren. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche, medien- oder gar geschlechtergeschichtliche Ansätze, wie sie zum Beispiel in zwei anderen aktuellen Publikationen (1) stark gemacht werden, finden sich nicht. Strittige oder auch spannende Fragen, wie etwa die, ob die staatliche Subventionspolitik das Sterben der kleinbäuerlichen Landwirtschaft verursacht oder im Gegenteil abgebremst habe, werden nicht erwähnt oder diskutiert.
Insgesamt bietet der Band ein Überangebot an Fakten und Daten, und einen Mangel an Synthese oder auch nur Interpretation. Von einem Handbuch, das ja lange Gültigkeit beansprucht, darf der Leser mehr erwarten (Link zum Inhaltsverzeichnis als PDF). Der Band ist, man kann es nicht anders sagen, insgesamt eher eine Enttäuschung. So wurde leider eine Chance vertan, nachholend den Anschluss an die Standards der internationalen agrarhistorischen Diskussion zu suchen und dadurch in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft vielleicht auch etwas aus dem Nischenstatus herauszukommen.
(1) Vgl. Michaela Fenske und Dorothee Hemme (Hrsg.): Ländlichkeiten in Niedersachsen. Kulturanthropologische Perspektiven auf die Zeit nach 1945, Göttingen 2015, 176 S; Franz-Werner Kersting / Clemens Zimmermann (Hrsg.): Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert: Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven; Paderborn u.a. 2015, 330 S.
Günter Mahlerwein: Die Moderne (1880-2010), Grundzüge der Agrargeschichte - Band 3, Böhlau Verlag, Köln u.a. 2016, 230 Seiten, 30 EUR.
Manuskript einer Rezension, die zuerst in Ausgabe 10/2016 der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft erschienen ist.