Publication International / Transnational - Nordafrika Vom Geländewagen überfahren

15 Jahre internationale Demokratieförderung und wirtschaftliche Aufbauhilfe führten tatsächlich zur Rückentwicklung der palästinensischen Gesellschaft: Eine Herausforderung für die RLS, die seit kurzem ihre Präsenz in Ramallah aufbaut.

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Peter Schäfer,

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September 2008

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15 Jahre internationale Demokratieförderung und wirtschaftliche Aufbauhilfe führten zur Rückentwicklung der palästinensischen Gesellschaft. Fortschrittliche Kräfte wurden mit Geld überschüttet und so ins Koma finanziert: Herausforderungen für die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die seit kurzem ihre Präsenz in Ramallah aufbaut. Von Peter Schäfer, Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Palästina.

In den sogenannten Palästinensischen Autonomiegebieten ist der tägliche Angriff auf Leib und Leben massiv. In Gaza sind es israelische Artillerie und Luftwaffe, von denen die externe Gefahr für die Bevölkerung ausgeht. In der Westbank sind die Menschen mit israelischen Soldaten und teilweise bewaffneten Siedlern[i] sowie 610 internen Militärkontrollen und Straßensperren[ii] konfrontiert und leben mit nächtlichen Militärinvasionen. In Ramallah selbst jedoch muss man nach ganz anderen Geschossen Ausschau halten: Wer nicht aufpasst, wird allzu leicht vom Frontgrill eines überdimensionierten Geländewagens erfasst und auf dessen Motorhaube mit aufgeklebtem Organisationslogo geschleudert.

Der Fahrer, ausländisch, männlich, in Cargohose und -hemd, zwischen 30 und 50 Jahren alt, bekommt das vielleicht nicht einmal mit. Der „neue Söldner“[iii] könnte müde sein vom Mittagessen in einem der feinen Restaurants der Stadt. Oder er muss sich auf das lautstarke Gespräch über Funktelefon konzentrieren. Es könnte aber auch ein Palästinenser am Steuer sitzen; der Leiter einer der vielen, meist in Ramallah ansässigen Nichtregierungsorganisationen (NGO), die Projekte für internationale Geber umsetzen.

„Der Friedensprozess ist doch schon lange Geschichte.“ Einer der wenigen Punkte, in denen sich Israelis und Palästinenser einig sind, und für ihre Situation mag das stimmen. Für die Träger des Prozesses allerdings, die internationalen Geberorganisationen, war die Zeit kaum jemals besser. Angesichts der aktuellen Geländewagenflut kann von einem Ende des Friedensprozesses keine Rede sein. Schon gar nicht bei Betonung des zweiten Wortteils.

Es geht nämlich voran. Mit internationaler Hilfe werden Schulen und Straßen gebaut, Menschen in allem möglichen trainiert und beraten, Ministerien der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) gefördert und angeleitet, medizinische Grundversorgung gewährleistet, Nahrungsmittel verteilt, die Gehälter von PA-Angestellten bezahlt, Müllplätze angelegt, der palästinensischen Polizei gezeigt, wie man öffentliche Ruhe herstellt, Arbeitsplätze geschaffen.

Trotz all dieser Anstrengungen – 2005 erhielten die Palästinenser 300 US-Dollar pro Kopf an internationaler Hilfe[iv], dies ist abgesehen von Israel[v] die mit Abstand höchste Rate der Region – bleiben Palästinenser (und Israelis) skeptisch gegenüber dem Friedensprozess, so das Auswärtige Amt (AA) selbst[vi]: „Zu viele Friedensinitiativen sind bereits gescheitert, zu unüberwindlich erscheinen die Hindernisse. Deshalb müssen die Menschen neu motiviert und gewonnen werden, einen langen und fragilen Friedensprozess zu unterstützen. Dazu sind konkrete Schritte erforderlich, die die Früchte nationaler und internationaler Unterstützung sichtbar werden lassen.“

Das AA hat zu diesem Zweck die Initiative `Zukunft für Palästina´ ins Leben gerufen. Das „sind relativ kleine, schnell umsetzbare und deutlich sichtbare Projekte, die der palästinensischen Bevölkerung bereits in den nächsten Monaten unmittelbar zu Gute kommen. [...] Kerngedanke ist ein politischer: Die Initiative will eine Friedensdividende nicht in Aussicht stellen, sondern schon jetzt, parallel zum Verhandlungsprozess, konkret und sichtbar umsetzen.“ Andere Staaten setzen ähnliche Projekte um.

Palästinenser nicht erpressbar

Niemand hat etwas gegen den Bau von Schulen und Kindergärten. Ob sich das politische Kalkül jedoch auszahlt, muss aus folgenden Gründen bezweifelt werden:

  • Die internationale Unterstützung ist auf die Westbank beschränkt. Die 1,4 Millionen Menschen im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen sind kollektiv isoliert. Sie erhalten lediglich „humanitäre Hilfe“, und auch nur, wenn die israelischen Grenzübergänge offen sind.[vii] Die palästinensische Bevölkerung hat jedoch bereits in der Parlamentswahl 2006 gezeigt, dass sie nicht käuflich ist. Die meisten Menschen stimmten damals für die Hamas und nicht für die Fatah-Bewegung, obwohl klar war, dass nur sie in der von ihr dominierten Autonomiebehörde Arbeitsplätze stellen kann. Nur sie „bringt das Geld ins Land“, sprich wird von den internationalen Geberstaaten unterstützt – und das ungeachtet der nicht einmal versteckten Korruption.
    Die einseitige internationale Hilfe soll den Palästinensern zeigen, dass die Hamas die falsche Wahl ist. Aber diese stellte der Bevölkerung bereits zum Urnengang 2006 die Frage: „Die USA und Israel sind gegen die Hamas. Für wen seid ihr?“. Die Antwort war eindeutig.
  • Die heutige „Übergangsregierung“ in der Westbank, die vom Präsidenten ohne Zustimmung des Parlaments eingesetzt wurde, hat wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Dem amtierenden Ministerpräsidenten Salam Fayyad, ein ehemaliger IWF-Funktionär, wird zwar international hohe Professionalität bei der Reformierung der Autonomiebehörde bescheinigt. Sein Beliebtheitsgrad in der Bevölkerung ist allerdings niedrig. Laut einer Umfrage[viii] vom April nannten ihn nur 1,4 Prozent der Befragten an erster Stelle.
  • In der Hochphase des Friedensprozesses, im Dezember 1996, verzeichneten die Palästinenser das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen in der Zeit von 1994-2000. Trotzdem war damals die Zustimmung für den Verhandlungsprozess mit Israel am höchsten innerhalb derselben Zeitspanne. Darüber hinaus existierte unmittelbar vor der zweiten, am 29.8.2000 begonnenen Intifada „wachsende öffentliche Unterstützung für bewaffnete Angriffe gegen Israelis, trotz substanziellen Wachstums des Pro-Kopf-Einkommens in den Jahren 1999-2000“.[ix]

Auf den Punkt gebracht: Die Zustimmung der palästinensischen Bevölkerung für die derzeitige Westbank-Regierung und den Verhandlungsprozess mit Israel wird durch Infrastrukturhilfe in der Westbank nicht automatisch erreicht. Und ein Abkommen mit Israel, das Präsident Abbas ohne parlamentarische Absicherung und Rückhalt in der Bevölkerung unterzeichnet, hätte sicherlich eine sehr kurze Halbwertzeit.

Nach Ansicht vieler Palästinenser ist die hohe europäische Bereitschaft zu zahlen der Versuch, sich vom Druck auf Israel freizukaufen. Man fordert zwar mündlich die Einhaltung internationalen Rechts, der Menschenrechte und friedliche Konfliktlösung. Gegen die unfriedliche direkte und indirekte israelische Militärbesatzung wird aber nichts unternommen. Weder werden die Sicherheitsratsbeschlüsse der Vereinten Nationen umgesetzt, noch das Urteil[x] des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom Juli 2004, der den Bau der israelischen Sperranlage innerhalb der Westbank für illegal erklärte.

Nach 15 Jahren Friedensprozess

Die Bereiche, die heute von der Palästinensischen Autonomiebehörde und den großen lokalen NGOs organisiert und vom Ausland bezahlt werden, wurden bis 1993 von Israels Ziviladministration für die besetzten Gebiete direkt verwaltet. Diese Behörde und die Besatzung bestehen zwar noch heute, allerdings ist das für Israel mit viel weniger Kosten verbunden. Die entstehen nun vielmehr den Steuerzahlern aus Europa, Japan und den USA, und zwar ohne Gegenwert. Denn zusammengefasst ist die Bilanz nach 15 Jahren „Projekt Friedensprozess“ negativ:

  • Es gibt keinen Frieden, der israelisch-palästinensische Konflikt ist weder gelöst, noch hat es nennenswerte praktizierte Schritte hin zu einer Lösung gegeben;
  • Die gewünschte Zwei-Staatenlösung ist weniger als je zuvor in Sicht, im Gegenteil, das den Palästinensern zur Verfügung stehende Gebiet schrumpft beständig[xi];
  • Der von Israel völlig abgeriegelte Gazastreifen und die Westbank sind politisch voneinander getrennt; das palästinensische Ost-Jerusalem ist für Palästinenser aus Westbank und Gazastreifen praktisch nicht mehr zugänglich;
  • Die Palästinenser haben keine nationale Regierung mehr, die aus Wahlen hervorgegangen und in der Bevölkerung legitimiert ist;
  • Der palästinensische Partner der internationalen Gemeinschaft, die einst dominante Fatah-Partei, ist programmatisch nicht festgelegt, zerstritten und steht immer wieder kurz vor der Spaltung[xii];
  • Die fortschrittlichen Kräfte, also diejenigen, die für Demokratie und Menschenrechte einstehen, sind zerschlagen, und zwar mit Hilfe der internationalen Geberstaaten. Dazu mehr weiter unten;
  • Und die Hamas, also die Bewegung, die von USA und EU nicht unterstützt, trainiert und beeinflusst worden ist, hat sich zur stärksten und gut organisierten politischen Kraft entwickelt. Und das vielleicht gerade trotz der Isolierungsstrategie gegen sie.

Eine Studie[xiii] des norwegischen FAFO-Instituts zeigt, dass die palästinensische Bevölkerung die Absichten der internationalen Gemeinschaft verurteilt: „Eine Mehrheit der Palästinenser glaubt, dass westliche Finanzhilfe für die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) mehr Schaden anrichtet als nützt. Zwei Drittel (69%) der im Februar und März von FAFO […] Befragten glauben, dass Hilfe für die PA die Kluft zwischen Fatah und Hamas vertieft. Ein ähnlicher Anteil (63%) denkt, dass internationale Hilfe für die PA Korruption fördert. Und dieselbe Anzahl glaubt, dass sie keinen oder nur einen geringen Effekt auf Armutsminderung hat.“

Die einzigen Nutznießer eines solchen „Friedensprozesses“ sind Israel, das seine Besatzungspolitik[xiv] ungehindert weiterführen kann, dafür aber nicht mehr selbst bezahlen muss, internationale Geberorganisationen, die hier Millionen umsetzen sowie eine kleine palästinensische Elite, die privat profitiert.

Diese negative Bilanz hätte eigentlich schon längst zum internationalen Umdenken führen müssen. Trotz des bisher gescheiterten palästinensischen Staatsaufbaus, der fortschreitenden Militarisierung auch interner Konflikte und anhaltendem israelischen Siedlungsbau in der Westbank findet jedoch keine Neuorientierung statt. Eine schnelle Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist offenbar nicht im Sinne der Geberorganisationen. Also pumpt die internationale Gemeinschaft, auch Deutschland, weiterhin viel Geld in das gute „Projekt Frieden“, das jedoch auf die bisherige Weise außer weniger Frieden nichts erzeugt hat. Dazu kommt, dass viele nun die verstärkte Unterstützung der „palästinensischen Zivilgesellschaft“ als Transmissionsriemen für Demokratisierung und Frieden (jeweils nach dem Verständnis der großen Geberorganisationen) fordern.

Falsche Unterstützung der Zivilgesellschaft

In Palästina wird „Zivilgesellschaft“ von der internationalen Gemeinschaft meist gleichgesetzt mit „NGOs“, den Nichtregierungsorganisationen. Etwa 1.200 davon organisieren verschiedene soziale Bereiche, Frauenaktivismus, klären über Menschenrechte und Demokratie auf, vermitteln Dialog mit Israelis, im Prinzip alles, wofür die internationale Gebergemeinschaft bereit ist zu bezahlen. Wer die professionellsten Projektanträge schreibt, gespickt mit dem im politischen Norden geschätzten Vokabular, erhält Unterstützung. Die meisten dieser Organisationen haben ihr Büro in Ramallah. Die Chefs verdienen gut und verreisen viel. Anbindung oder gar Verwurzelung in der zivilen Gesellschaft ist bei vielen dieser Organisationen allerdings nicht (mehr) vorhanden.

Exemplarisch an der fortschrittlichen Frauenbewegung hat Islah Jad, Professorin an der palästinensischen Birzeit-Universität, die Entwicklung untersucht: „Im Fall Palästinas wurde der NGO-Diskurs dazu benutzt, Platz im öffentlichen Raum auf Kosten der alten Massenorganisationen zu schaffen. [...]. Dieser Diskurs entspricht weniger dem allgemeinen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kontext, als den Bedürfnissen der Geber und der [palästinensischen] Eliten, die das beschleunigte Wachstum dieser Organisationen in diesem Zusammenhang forcierten. Ich nehme an, dass vor diesem Hintergrund die Frauen-NGOs und die neuen, öffentlichen Debatten – wenn auch unabsichtlich – dazu führten, zivilgesellschaftliche Akteure und ihre Bewegungen in Palästina zu entmachten, zu delegitimieren und zu spalten.

Für all die Annahmen, die in internationalen Entwicklungshilfekreisen darüber zirkulieren, dass NGOs `näher an den Menschen´ sind, für die `Basis´ sprechen und eine treibende Kraft hinter Demokratisierung und Entwicklung stellen: Der palästinensische Fall ist eine lebendige Erinnerung an die Notwendigkeit, hinter das Schlüsselwort selbst zu sehen und sehr genau zu betrachten, was eigentlich passiert. Dass […] die NGOisierung der palästinensischen Frauenbewegung und deren Übernahme des von internationalen Organisationen geförderten Geredes zur steigenden Macht und Legitimität der Islamisten beitrug, dürfte Grund genug zur Vorsicht sein.“[xv]

Für die Paralysierung der Zivilgesellschaft sind die Palästinenser natürlich selbst verantwortlich. Sie könnten die internationale Einflussnahme ja auch zurückweisen oder die Gelder gemäß eigener Prioritätensetzung und Planung verwenden. Die internationale Gemeinschaft trägt jedoch eine große Mitverantwortung, da Menschen und Tendenzen gestützt wurden und werden, die weniger die Entwicklung der palästinensischen Gesellschaft zum Ziel haben, als die eigene, individuelle. Die postulierten Ziele der Gebergemeinschaft, nämlich die Beförderung von Demokratie, Menschenrechten, Gleichberechtigung der Frau usw., sind mit den NGOs – und auch der Fatah-Regierung – als Mittler jedenfalls nicht erreicht worden.

Entpolitisierung fortschrittlicher Palästinenser – mit internationaler Hilfe

Ab Ende der 70er Jahre bildeten vor allem linke PLO-Gruppen Massenorganisationen, die – unter der israelischen Besatzung illegal – Dienste von medizinischer Versorgung bis hin zu Schulbildung stellten.[xvi] Jede politische Bewegung unterhielt ihre eigenen Strukturen, die zum Vorteil ihrer „Mutterpartei“ wirkten. Mit der Zeit erhielten diese auf fortschrittliche Ziele – Demokratie, Gleichstellung von Frauen, soziale Gleichheit – hin arbeitenden NGOs finanzielle Unterstützung von internationalen Organisationen und entwickelten sich zu teilweise sehr großen Gebilden. Noch heute werden beispielsweise 40 Prozent der medizinischen Dienstleistungen in Palästina vom nicht-staatlichen Sektor erbracht.

Mit dem israelisch-palästinensischen Friedensabkommen von 1993 entstanden zudem viele neue Arbeitsbereiche: Demokratisierung, Menschenrechte, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Stärkung sozialer Randgruppen, israelisch-palästinensischer Dialog, Trainings, Workshops, Konferenzen, Publikationen. Viel Geld floss in diese Projekte. Geld, das professionell verwaltet werden wollte, nach Logik und Buchhaltung in Washington, Brüssel, Berlin oder Tokio. Diese Arbeit „spiegelt zunehmend eher die Programme der Geberorganisationen wider, als die ursprünglichen Anliegen der NGOs selbst“, so eine palästinensische Untersuchung[xvii].

Die wirtschaftliche Privilegierung der palästinensischen NGOs sieht Rema Hammami von der Birzeit-Universität als „ein Resultat ihrer Integration in eine globale NGO-Ethik und -Kultur, unter der Führung einer großen Anzahl internationaler Geberagenturen, die zur Unterstützung des Friedensprozesses anrückten. Im Wesentlichen wurzelt dies in einem immer größer werdenden Abstand zur Bevölkerung, der schon vor dem Osloer Abkommen [1993] entstand, sich aber mit der anhaltenden Entpolitisierung der Gesellschaft seit der Schaffung der PA verschärfte.“[xviii]

Die früheren Organisationsstrukturen, die von Ehrenamtlichen getragen wurden, taugten nicht mehr. Nun mussten professionelle Buchhalter, Projektevaluatoren und Fundraiser eingestellt werden.

„Obwohl ehrenamtliche Arbeit in den 70er und 80er Jahren wichtiges Element der palästinensischen Gesellschaft und Teil der nationalen Bewegung war – auch die von den Linken angeregten ehrenamtlichen Arbeitsinitiativen – ist diese Art sozialer Netzwerke bis heute fast vollständig zusammengebrochen“, so eine Untersuchung[xix] palästinensischer Elitenbildung. „Freiwilliger Aktivismus wird heute als diametral entgegengesetzt zu bezahlter Anstellung betrachtet. Darüber hinaus ist die Idee eines einheimischen Ehrenamtlichen den palästinensischen NGOs heute fremd. Die Vorstellung ehrenamtlicher Arbeit als etwas in sich wertvollem ist verloren.“

Die Ehrenamtlichen gingen und mit ihnen vielmals die Anbindung zu den Dörfern und Kleinstädten, in denen die NGO arbeitet. Damit ging auch der große Pool an neuen Ideen und Kreativität, der sich aus den Bedürfnissen und der Lebensrealität der eigentlichen Zielgruppe der NGO speiste. Und mit den Ehrenamtlichen ging auch das originäre Vermögen der NGO, soziale Netzwerke zu bilden, in denen sich die Menschen ihrer Rechte selbst bewusst werden und diese dann gemeinsam erkämpfen können. Die palästinensische Gesellschaft entwickelte sich zurück.

Die „professionellen NGOs“ haben die meisten gesellschaftlichen Bereiche in Beschlag genommen, sozusagen Marktnischen besetzt, und lassen sich ihre Arbeit teuer bezahlen. Es schwand die Verbindung zur Mutterpartei. Viele NGOs verselbständigten sich mehr und mehr. In einer NGO zu arbeiten ist offenbar auch anregender, als Mitarbeit in politischen Parteien, in denen aktive Teilnahme der Führungsebene vorbehalten ist. Und als Leiter einer NGO lässt sich auch mehr Geld verdienen als in einer linken Partei, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion keins mehr hat oder sich finanziell von der Autonomiebehörde, sprich der Fatah-Bewegung abhängig machte.

Wegen ihrer Entfremdung von den Ursprungsparteien, wegen der Distanz zur Gesellschaft und wegen des von den internationalen Geldgebern verlangten unpolitischen Verhaltens wird die vielfältige Arbeit der ursprünglich aus fortschrittlichen Bewegungen kommenden NGOs von der Bevölkerung heute nicht mehr als politisch wahrgenommen oder als Dienstleistung der palästinensischen Linken. Das politische Vakuum in diesem Bereich konnten jedoch andere füllen, nämlich die Hamas über ihre Wohlfahrtsorganisationen.[xx]

Insgesamt berichten viele palästinensische Mitarbeiter der aus der Linken kommenden NGOs darüber, dass politische Ziele von den internationalen Geldgebern nicht gewünscht sind. Politische Organisationen sollen von der Arbeit nicht profitieren. „Wir unterstützen Tausende Frauen in der ganzen Westbank“, so die Mitarbeiterin einer NGO. „Unsere Hilfe muss jedoch unpolitisch bleiben. Entsprechende Passagen mussten wir aus unserem Antrag streichen, sonst wäre er nicht bewilligt worden. Dieselben Frauen sind natürlich auch dem Einfluss der Hamas ausgesetzt. Und ich muss sagen, dass die große Mehrheit der Frauen jetzt der Hamas zugeneigt sind.“

Die säkular-demokratischen Kräfte Palästinas wurden also von der internationalen Gemeinschaft ins Koma finanziert. Darüber hinaus erhalten in der Westbank die Sicherheitskräfte der Fatah Unterstützung, während gleichzeitig die Versammlungsfreiheit eingeschränkt wird. Von internationaler Seite aus haben traditionelle Mittel der Kriegführung wieder Konjunktur, nämlich politischer und wirtschaftlicher Boykott und die Stützung einer genehmen einheimischen Elite. Die Hamas geht derweil buchstäblich mit ihren Werten hausieren und ist im Aufwind.

Wo kann die RLS ansetzen?

Für ihre internationale Arbeit erhalten die deutschen parteinahen Stiftungen Mittel des Bundesministeriums für internationale Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Grundlage der Arbeit sind die entwicklungspolitischen Grundlinien des Ministeriums: Im Nahen Osten soll die deutsche Entwicklungspolitik „dazu beitragen, das Konfliktpotenzial in den Regionen abzubauen. Der Friedensprozess im Nahen Osten wird deshalb mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit gefördert.“[xxi] Das Problem ist nur, dass bisher Konfliktpotenzial nicht abgebaut wurde, eher im Gegenteil. Und von einem Friedensprozess in Richtung Frieden kann keine Rede sein. Konfliktpotenzial kann nur reduziert, israelisch-palästinensischer Frieden kann nur unterstützt werden und ein demokratischer palästinensischer Staat kann nur entstehen, wenn die oben beschriebenen Fehlentwicklungen berücksichtigt werden.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung wird nun deshalb Menschen und Organisationen unterstützen, die demokratisch-fortschrittliche Positionen offen vertreten und ihnen über das internationale Netzwerk unserer Stiftung einen Zugang zum Ideenaustausch bieten. Wir wollen Menschen und Organisationen fördern, die wieder die Kontrolle über die eigene Entwicklung anstreben.

Die Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Palästina hat mit aus Berlin betreuten Projekten bereits vor acht Jahren begonnen. Zurzeit werden drei Maßnahmen umgesetzt:

  • Das Palästinensische Zentrum für Frieden und Demokratie (PCPD) ist einer unserer politischen Partner. Sie unterstützen mit unserer Hilfe Frauen dabei, ihre Interessen in der Öffentlichkeit und gegenüber lokalen und nationalen Entscheidungsträgern selbst zu vertreten. Teil des Projekts ist, Kandidatinnen für künftige Wahlen und im Umgang mit den Medien zu schulen.
  • PCPD und die Rosa-Luxemburg-Stiftung setzen ein zweites Projekt zusammen um. Hier treffen Angehörige aus drei linken Parteien (Volkspartei, DFLP und FIDA) zum ersten Mal auf der mittleren Führungsebene zusammen, diskutieren Gemeinsamkeiten und Wege zur Vereinigung. Die Partei DIE LINKE trägt mit der Vermittlung ihres eigenen Vereinigungsprozesses zum Projekt bei, das vom AA gefördert wird.
  • Die zweite Partnerorganisation ist das Zentrum für Menschenrechtsstudien (RCHRS) in Ramallah. Sie organisieren mit unserer Unterstützung Diskussionsrunden und Workshops mit Studenten an allen elf palästinensischen Hochschulen in der Westbank und im Gazastreifen. Innerpalästinensische Konflikte werden hier versucht auszuhalten und auf respektvolle Weise diskutiert.

Für die weitere Arbeit sind zunächst einmal Diskussionen mit verschiedenen Menschen zu führen. Was wird gebraucht jenseits der in schöner Projektsprache formulierten Anträge (mit denen auch wir überhäuft werden)? Was ist möglich und mit wem? Wie können die zersplitterten linken Kräfte zusammenarbeiten und zusammen fortschrittliche Politik betreiben? Die palästinensischen linken Organisationen arbeiten derzeit in verschiedenen Foren auf eine Vereinigung hin. Die Hindernisse sind jedoch noch nicht überwunden. Wir wollen in diesem Zusammenhang die Debatte fortschrittlicher Werte in Palästina anreichern durch den Austausch mit ähnlich denkenden Menschen aus der Region und darüber hinaus. Palästina braucht diversifizierte politische Bildung. Eine offene Diskussionskultur ist wenig entwickelt. Die Menschen können sich ihrer Rechte und Aufgaben jedoch nur in schrankenlosen Debatten bewusst werden. Hierbei müssen fortschrittliche Kräfte unterstützt werden. Sie sind es, die für Weltoffenheit, demokratische Werte und soziale Gerechtigkeit stehen. In Palästina waren es die Linken, die als erste zusammen mit Israelis für eine Friedenslösung eintraten, bereits Anfang der 70er Jahre.

Einige internationale Organisationen versuchen immer noch, genehme „politische Führer“ aufzubauen. Die Erfahrung der letzten Jahre in Palästina zeigte jedoch bereits, dass eine neue Partei von der Bevölkerung nicht angenommen wird. Im Ausland mögen sich deren Darlegungen gut anhören, im Lande selbst sind solche Aktionen jedoch weniger beliebt.

Es sind die derzeit marginalisierten, aber gesellschaftlich anerkannten linken Parteien, die die sozialen und politischen Herausforderungen annehmen müssen und nicht neue vermeintliche Lichtgestalten oder unabhängige Nichtregierungsorganisationen. Nur die seit Generationen etablierten fortschrittlichen Kräfte sind in Palästina die nachhaltige Garantie für soziale Vielfalt und kreative Entwicklung. Ihre von der internationalen Gebergemeinschaft mitverursachte momentane schwache Stellung spiegelt sich direkt in den trüben Zuständen der palästinensischen Gesellschaft und Politik, im Zurückdrängen der Frauen in ihre „traditionelle Rolle“, der Stigmatisierung von Menschen, die nicht den enger werdenden gesellschaftlichen Normen entsprechen. Wir wollen diejenigen unterstützen, die diese Entwicklung umzukehren bereit sind.

 


[i]     Augenzeugenberichte von Siedlerübergriffen auf der Website der israelischen Menschenrechtsorganisation B´tselem, http://www.btselem.org/english/Testimonies/index.asp.

 

[ii]     Nach Zählung der Vereinten Nationen: The Humanitarian Monitor. occupied Palestinian territory, Number 27, July 2008, http://www.ochaopt.org/documents/Humanitarian_Monitor_July_2008.pdf.

 

[iii]    Nakhleh, Khalil: The New Mercenaries. Consolidation of an Ancient Model, in: Ibrahim Abu-Lughod Institute of International Studies: The New Palestine, The New Europe, Birzeit 2003, S. 7-12.

 

[iv]    Internationale Entwicklungshilfe pro Kopf/Land: http://earthtrends.wri.org/searchable_db/index.php?action=select_countries&theme=5&variable_ID=655 (5.5.08). Die internationale Finanzhilfe für Palästina ist nach dem Wahlsieg der Hamas-Bewegung Anfang 2006 noch gestiegen, da die internationale Gemeinschaft die von Israel illegal einbehaltenen Mehrwertsteuer und Zollgebühren, die der PA zustehen, ausglich.

 

[v]     Zahlen zu US-Hilfe an Israel: http://www.wrmea.com/html/us_aid_to_israel.htm (5.5.08)

 

 

[vii]    Siehe zum Beispiel United Nations-OCHA: Implementation of the Agreement on Movement and Access and Update on Gaza Crossings, Report No. 69, http://www.ochaopt.org/documents/Movement_Access_Agreement_69_8_July_2008.pdf.

 

[viii]   Jerusalem Media and Communication Center, http://www.jmcc.org/publicpoll/results/2008/no64-eng.pdf, Frage 29.

 

[ix]    Nabulsi, Karma: The State-Building Project: What Went Wrong?, in: Keating/Le More/Lowe (Ed.): Aid, Diplomacy and Facts on the Ground. The Case of Palestine, London 2005, S. 131.

 

[x]     Zusammenfassung des Urteils unter: http://stopthewall.org/internationallaw/653.shtml.

 

[xi]    Siehe Präsentation der israelischen Friedensbewegung Peace Now, http://www.peacenow.org.il/data/SIP_STORAGE/files/2/3662.ppt

 

[xii]    Rabbani, Mouin: Can Fatah Survive?, in: Arab Reform Bulletin, March 2008, Vol. 6/2, http://www.carnegieendowment.org/files/rabbani-march2008.pdf.

 

[xiii]   FAFO Press Release: Failed aid policy? A majority of Palestinians believe international donor aid to the PA is contributing to the political paralysis, 14 March 2008, http://www.fafo.no/Fafo-frokost/080327/pm-080314-engelsk.pdf (8.5.2008).

 

[xiv]      Siehe Grinberg, Lev: Israels wirtschaftlicher Würgegriff, in: INAMO 52, S. 38-45.

 

[xv]    Jad, Islah: NGOs: Between buzzwords and social movements, in: Development in Practice, 17:4 (online publiziert am 01.08.2007, S. 628, http://dx.doi.org/10.1080/09614520701469781.

 

[xvi]   Zur Geschichte der palästinensischen Massenorganisationen und ihrer Strukturen im sozialen Bereich siehe Robinson, Glenn E.: Building a Palestinian State. The Incomplete Revolution, Bloomington and Indianapolis 1997, insbesondere Kapitel 3: The Professional Middle Class.

 

[xvii]   Hanafi, Sari/Tabar, Linda: The Emergence of a Palestinian Globalized Elite. Donors, International Organizations and Local NGOs, Jerusalem 2005, S. 196.

 

[xviii]  Hammami, Rema: Palestinian NGOs since Oslo: From NGO Politics to Social Movements?, in: Middle East Report, No. 214, S. 16.

 

[xix]   Hanafi/Tabar, S. 240.

 

[xx]    Die Fatah-Bewegung ist im sozialen Bereich und im sonstigen NGO-Sektor weniger aktiv.

 

[xxi]   BMZ-Website, Naher Osten/Mittelmeerraum: http://www.bmz.de/de/laender/regionen/naher_osten_mittelmeer/index.html (2.5.08).