Publication Parteien / Wahlanalysen - International / Transnational - Amerikas Kommunalwahlen in Brasilien: Etwas mehr des Gleichen

Die Wahlen brachten keine nennenswerten Verschiebungen der Kräfteverhältnisse. Linke sprechen von einer Entpolitisierung der Kommunalpolitik.

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Ana Garcia, Kathrin Buhl,

Published

October 2008

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Kommunalwahlen folgen auch in Brasilien zumindest teilweise anderen Logiken als nationale Wahlen. Die alltäglichen Probleme und lokalen Themen wie Kindergartenplätze, Gesundheitswesen, Straßenbau oder Abwasserentsorgung spielen in der Regel eine größere Rolle als nationale oder gar internationale Fragen wie etwa die Wirtschaftspolitik oder die Finanzkrise. Dennoch wurden die im Oktober 2008 abgehaltenen Wahlen auf kommunaler Ebene als eine Art Zwischenbilanz der zweiten Amtszeit der Regierung Lulas und als kleiner Ausblick auf die 2010 anstehenden nationalen Wahlen bewertet.

Es gab nicht sehr viele Überraschungen: insgesamt sprechen die Wahlergebnisse für eine deutliche Unterstützung der regierenden Koalition aus PT, PMDB und einer Reihe kleinerer Parteien. Weder die Opposition von rechts (DEM), noch die Opposition von links (PSOL, PSTU) konnten dem etwas entgegen setzen. Das Ergebnis der Wahlen sieht nach dem ersten Wahlgang[1] wie folgt aus[2]:

Partei

Wählerstimmen 2004

Wählerstimmen 2008

Bisherige Bürgermeister

Im 1. Wahlgang gewonnene Bürgermeister

PT

16.326.047

16.486.025

391

548

PSDB

15.747.592

14.454.949

889

780

PMDB

14.249.339

18.422.732

1.212

1.194

DEM

11.238.408

9.291.086

670

494

PP

6.103.294

6.090.402

529

547

PDT

5.566.971

5.964.424

311

344

PTB

5.255.238

5.034.676

377

412

PR

5.022.323

4.263.372

444

382

PPS

4.947.853

2.802.667

202

132

PSB

4.475.295

5.682.411

214

309

PV

1.368.696

2.941.264

56

77

PC do B

889.065

1.757.101

19

40

Andere

4.000.775

5.862.422

248

256

Gesamt

95.192.900

99.053.531

5.562

5.515

 

Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs am 5. Oktober ließen einen deutlichen Trend zur Wiederwahl der amtierenden PolitikerInnen erkennen. In den Hauptstädten der 26 Bundesländer erreichten 15 BürgermeisterInnen über 50% der Stimmen, 13 davon wurden in ihrem Amt bestätigt. Diese Tendenz scheint pateienunabhängig zu sein: wiedergewählt wurden 4 Bürgermeister der PT, und jeweils zwei der PMDB, PSDB und PSB. Seit dem Demokratisierungsprozeß und der Einführung der Wiederwahlklausel ist das die höchste Zahl. Fraglich ist, ob die Wiederwahlen tatsächlich auf die hohe Akzeptanz der amtierenden BürgermeisterInnen zurückzuführen sind – oder eher darauf, dass die lokalen Regierungen ihre Macht auch für die eigenen Wahlkampagnen nutzen konnten.

Auch in vielen mittleren und kleinen Städten und Kommunen wurde bereits im ersten Wahlgang entschieden. Insgesamt wird eingeschätzt, dass vor allem die PMDB und die PT (zwei Parteien der Lula-Koalition auf föderaler Ebene) gestärkt aus den Kommunalwahlen hervorgingen. Im Vergleich zur letzten Wahl im Jahr 2004 gelang es der PMDB, die Anzahl der von ihr gestellten Bürgermeister in Städten mit über 200.000 Einwohnern zu vervierfachen, die PT konnte ihre Anteile auf das Dreifache erhöhen.

Betrachtet man die Ergebnisse der Bürgermeister- und der Stadtverordneten, erreichte die PMDB mit 18,6 % der gültigen Stimmen den höchsten Anteil und konnte damit den seit 20 Jahren herrschenden Abwärtstrend umkehren. Mit 16,6 % folgt die PT an zweiter Stelle (2004 erreichte sie noch die höchste Stimmanzahl)[3], danach kommen PSDB (14,6%), und DEM (9,4%). Der Erfolg der PMDB, die im Vergleich zur Kommunalwahl 2004 ihre Stimmenanzahl um 13,8% erhöhen konnte, wird von vielen Beobachtern auf die Koalition mit Lula und die Besetzung hoher Posten auf nationaler Ebene zurückgeführt[4].

Die konservativ-liberale DEM (ehemalige PFL), die in heftiger Opposition zur Regierung Lulas steht, verlor ca. 2 Millionen Stimmen im Vergleich zur letzten Kommunalwahl. In der DEM-Hochburg Salvador da Bahia schied der Enkel des berühmten „Coronel“ Antonio Carlos Magalhaes bereits im ersten Wahlgang aus, im zweiten stehen sich die Kandidaten der PT und PMDB gegenüber. Grosse Stimmverluste erlitt der DEM vor allem im Nordosten. Eine Ausnahme, die angesichts der hohen Anzahl der Wählerstimmen besonders ins Gewicht fällt – gleichzeitig aber auch auf den enormen Machtverlust im restlichen Brasilien hindeutet – stellt das Wahlergebnis in São Paulo dar: hier gelang es dem amtierende Bürgermeister Kassab im ersten Wahlgang, die meisten Stimmer auf sich zu vereinigen, und Marta Suplicy, Kandidatin der PT, die in Umfragen lange Zeit als sichere Siegerin gehandelt wurde, belegte nur Platz zwei.

Der PT gelang es, sich in ganz Brasilien – neben PMDB und PSDB - als eine der drei wichtigsten Parteien zu etablieren. Die Partei Lulas regiert in 17 Großstädten der so genannten G 79 (26 Hauptstädte und 53 Städte mit über zweihunderttausend Wahlberechtigten). Zudem konkurriert sie im zweiten Wahlgang in weiteren 15 Großstädten. Nach Meinung des Nationaldirektoriums der PT hatte die Präsenz von Lula im Wahlkampf eine große Bedeutung, doch die Unterstützung des Präsidenten bedeutet nicht automatisch die Stimmabgabe für PT-Kanditatinnen auf lokaler Ebene[5]. Dies zeigte sich besonders klar in Natal und São Paulo: in beiden Städten konnten die Kandidatinnen auf die unmittelbare und symbolische Unterstützung von Lula zählen, dennoch erhielten sie weit weniger Stimmen als erwartet. In Natal verlor Fatima Bezerra gegen die Kandidatin der rechtsliberalen Opposition. In São Paulo erreichte Marta Suplicy statt der in Prognosen ermittelten 40 % letztlich nur 33%[6].

Auch wenn die große Zustimmung für Lula in der Bevölkerung (ca. 80%) nicht automatisch den PT-KandidatInnen zugute kommt, spielte anderseits das von der Bundesregierung initiierte und stark mit Lula verbundene Sozialprogramm „Bolsa Familia“ eine wichtige Rolle bei der Wahl der BürgermeisterInnen. Die (Bundes)-Mittel dieses Programmes werden dezentral von den Städten und Gemeinden verwaltet. In den 100 Städten im Norden und Nordosten Brasiliens, in die die meisten Gelder fliessen, sind 70% der Bürgermeister wiedergewählt worden. Mit anderen Worten – dort hat nicht die PT gewonnen, sondern die bisher an der Macht befindlichen Parteien: die PMDB in 24, die PTB in 23 und die PSDB in 11 Städten. Die PT bleibt mit sechs BürgermeisterInnen dahinter deutlich zurück[7]. Das Sozialprogramm bringt lokale Regierungen und ärmere Bevölkerungsschichten näher zueinander, und die Präsenz des Staats wird sichtbarer – und davon scheinen vor allem die in Regierungsverantwortung stehenden Parteien zu profitieren.

In Rio de Janeiro wurden die Grenzen der brasiliansichen Demokratie deutlich: militärische Kräfte garantierten friedliche Wahlen, oder sollten dies zumindest tun. 3.500 Soldaten besetzten für ca. drei Wochen Favelas wie Rocinha, Vidigal, Maré und Complexo do Alemao, sowie Teile der westlichen Region (Zona Oeste), um irreguläre Wahlwerbung und Einschüchterungs- und Erpressungsversuche von Drogenkartellen und paramilitärischen Milizen zu verhindern.

Drogenhändler und Milizen erlaubten in ihrern„Burgen“ nur Wahlwerbung ihrer Kandidaten[8]. Die Bevölkerung in diesen Orten war eingeschüchtert und wurde bedroht, sie sollte die Kandidaten der Bezirksmiliz wählen, und zum Beweis mit dem Handy die elektronischen Wahlbildschirme fotografieren. Daraufhin verbot der regionale Wahlgerichtshof die Benutzung von Handys in Wahllokalen. Nach dem Handyverbot sollten dann Kinder in Wahllokalen die Bildschirme bespitzeln[9]. Die Bevölkerung der Favelas und der ärmeren westlichen Region Rios wurde somit von Drogenhändler, Milizen und Militärs eingekreist. Die westliche Region wird als ein „Konzentrationslager ohne Stracheldraht“ bezeichnet[10]. Zwei Kandidaten, die auf einer „schwarzen Liste“ wegen Beziehungen zu den Milizen stehen, sind unter diesen Umständen gewählt worden. Eine der beiden, Carminha Jerominho (PT do B), sitzt tatsächlich wegen der Involvierung mit der Miliz in der westlichen Region im Gefängnis. Ihr Vater und ihr Onkel, beide ehemalige Stadtverordnete, sind als Führungspersonen einer Miliz in der Region ebenfalls inhaftiert[11].

Kontinuität und Entpolitisierung lokaler Politik: So sehen linke Kräften außerhalb der PT das Ergebnis der Wahl. Laut Ricardo Gebrim und Plinio de Arruda Sampaio ging es in den Wahlkämpfen um administrative Fragen und unmittelbare Problemlösungen, vermieden wurde aber eine Debatte um ein politisches Projekt. Die Kanditaten und Sektoren, die gewonnen haben, repräsentieren die konservative Basis der Lula-Regierung, und nicht den linke Flügel der PT. Den Parteien, die sich als linke Opposition zur Lula-Regierung verstehen, gelang es nicht, eine über administrative Diskurse hinausgehende politische Debatte zu führen. Sie wurden damit zwischen den großen Parteien zerrieben. Weder PSOL, PSTU, noch andere linke Parteien konnten ernsthaft in den Kampf um die Bürgermeister eingreifen, und auch bei der Wahl der Stadtverordneten erreichten sie landesweit nur 25 Sitze. Laut Gebrim müssten diese linken Kräfte zunächst in der Bevölkerung Rückhalt erzielen und eine eigene Basis außerhalb der „klientelistischen Politik“ aufbauen[12]. Der Soziologe Ricardo Antunes konstatierte Apathie und Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber den Wahlen[13]. Die Menschen spürten, dass sich die Wahlprozesse der letzten Jahren zu einer Auseinandersetzung zwischen einigen wenigen traditionellen Politikern und deren Parteien entwickelt haben, der letzlich keine wesentlichen programmatischen Unterschiede zugrunde liegen, so der Wissenschaftler.

Die linken Parteien haben Schwierigkeiten, über die Wahlkämpfe hinausgehend eine außerparlamentarische Opposition aufzubauen. Seiner Auffassung nach muss die Linke aus der „institutionellen Wahlfalle“ herauskommen: sie sollte an Wahlen teilnehmen, doch mit einem anderen Diskurs, anderer Substanz und Dichte, die nur aus den Impulsen sozialer und politischer Basisarbeit kommen können.[14]. Wahlen, so Antunes, können auf dem Weg zu einer radikalen politischen Transformation nur eines der politischen Instrumente sein.


[1] Der zweite Wahlgang findet am 26.10. statt. An den hier eingeschätzten Tendenzen werden die Stichwahlen wenig ändern, auch wenn nicht unerheblich ist, wer z.B. die Wahlen in São Paulo gewinnenen wird.

[2] Folha de São Paulo, 7.10.2008

[3] www.tse.gov.br, 7.10.2008

[4] “PMDB volta a crescer depois de 20 anos de recuo”, Valor Econômico, 7.10.2008

[5] “Não há transferência de voto no Brasil, diz presidente do PT”, Valor Econômico, 8.10.2008

[6] “Popularidade de Lula não transfere voto para aliados”, Agencia Estado, 6.10.2008

[7] “Campeãs do Bolsa Família reelegem 70% dos prefeitos”, Folha de São Paulo, 13.10.2008

[8] “Tropas ocupam currais do crime”, O Globo, 11.09.2008

[9] Folha de São Paulo, Especial 10, Eleições 2008

[10] “Um campo de concentração na Zona Oeste”, O Globo, 16.09.2008.

[11] “Carioca elege até candidato preso”, www.oglobo.com.br, 6.10.2008

[12] “Esquerda sai enfraquecida das eleições”, www.brasildefato.com.br, 6.10.2008

[13] In Brasilien herrscht Wahlpflicht, daher ist die Wahlbeteiligung als solche kein Indiz fuer das Interesse der Bevoelkerung.

[14] “Abandonar armadilha institucional eleitoral é o desafio da esquerda”, Correio da Cidadania, 20.09.2008