von Jean-Yves Camus[1]
Die Wahl von Nicolas Sarkozy zum Präsidenten der Republik im Mai 2007 hat bis jetzt nur wenig Analysen zur ideologischen Natur des politischen Projektes hervorgebracht, unter dessen Zeichen er gewählt wurde, und dies obwohl eine Neugründung der Linken sich ein Nachdenken über die Identität ihres Gegners auf keinen Fall sparen kann. Die Mehrzahl der Beobachter haben dem neuen Staatschef und der Partei, die ihn an die Macht gebracht hat, der Union pour un Mouvement Populaire/Union für eine Volksbewegung (UMP) verschiedene ideologische Kategorien zugeschrieben, die entweder vage sind, oder nur teilweise zutreffen („neogaullistisch“; „ultraliberal“, „neokonservativ“), oder zu polemischen und, offen gesagt, spinnerischen Zwecken genutzt werden („faschistisch“). Die Analyse muss daher verfeinert werden und es muss beschrieben werden, wie sich die französische Rechte, die gerade eine Veränderung erlebt hat, wie sie sie vielleicht seit dem Beginn der 5. Republik in 1958 noch nicht gesehen hatte, heute darstellt.
Man kann zunächst einmal damit angefangen zu sagen, was das Phänomen Sarkozy nicht ist. Dies ist nicht mehr der Gaullismus, der an eine gewisse politische Form gebunden war, an einen gegebenen Moment, an eine Rechte, die die Interessen eines in seiner Struktur noch nationalen Kapitalismus vertrat, der sich auf die staatliche Intervention noch mehr stützte, als dass er sie verwarf, sowie auf eine Wirtschaft, die zu jener Zeit ein Wachstum erfuhr, das seinen Impuls weitgehend durch ein gemischt öffentlich-privates Wirtschaftssystem erhielt. Von den letzten Schrullen des Gaullismus befreit, den Jacques Chiracs Stil noch an sich hatte, ist Nicolas Sarkozy dennoch kein Ultraliberaler, denn die französische Rechte hat in ihrer Gesamtheit nie einer den Markt von Vornherein heilig sprechenden Konzeption angehangen. Sarkozy ausschließlich als Konservativen einzuschätzen, wäre ebenso absurd. Obwohl die UMP mit den beiden größten europäischen konservativen Formationen verbündet ist, der CDU und den britischen Tories, handhabt Sarkozy sehr viel geschickter als Merkel oder Cameron das Thema des „Bruches“ mit seinen konservativen Vorgängern, insbesondere was die Fragen der institutionellen Praxis angeht, der Beziehung zu den Bürgern, der Verpflichtung der Mandatsträger und Funktionäre, Resultate vorzuweisen, und im Allgemeinen und obwohl dies sehr vage erscheint, der Notwendigkeit, kein „Tabu“ hinsichtlich auch nur irgendeiner wirtschaftlichen, sozialen oder gesellschaftlichen Frage zu haben. Er scheint auch sehr viel zugänglicher als diese für Ideen des Multikulturalismus, der positiven Diskriminierung oder des Ausländerwahlrechts, die – in Frankreich zumindest – der Kultur der Rechten sonst fremd sind. Tatsächlich inspirieren sich weder die CDU noch die britischen Konservativen ideologisch von Sarkozy: er ist es, der sich an ihnen ein strategisches Beispiel genommen hat, indem er zum ersten Mal eine gemeinsame rechte Formation zustande gebracht hat, die alle ideologischen Traditionen der Rechten vereint.
Dennoch haben sich einige europäische Parteien schon vor den Präsidentschaftswahlen in einer Art „Sarkomanie“ ergangen. Was haben sie gefunden, was ihnen als Modell dienen könnte? Zunächst einmal, ein Stil: der des betonten Präsidentialismus, des Führers, der versucht, sein Charisma in Szene zu setzen, des Effizienzkultes und des überdimensionierten Egos. Was diese Punkte angeht, ist es Silvio Berlusconi, der Dirigent von Forza Italia, der dem französischen Präsidenten am meisten ähnelt, dessen Ergebnis bei der 1. Wahlrunde er mit den Worten begrüßt hatte: „Wir unterstützen Sarkozy. Wenn er gewählt wird, wird seine mit der von Merkel assoziierte Präsidentschaft Europa westlicher (sic) und atlantischer machen.“[2] Was durchaus beweist, dass sich der Kavalier mehr in der Form als in der Substanz wieder erkennt. Außerdem haben einige europäische Rechtsparteien die Tatsache gelobt, dass die französische Rechte unter Sarkozy sich endlich als solche anzeigt, in einem klaren Bruch mit der ständigen Tendenz der europäischen Rechten, sich „liberal“, „gemäßigt“ oder „zentristisch“ zu nennen.
Man muss dabei in Erinnerung behalten, dass angesichts seines Alters und dessen seiner Umgebung, Nicolas Sarkozy nicht von zwei großen epochalen Zäsuren geprägt ist, die dazu geführt hatten, dass sich die Rechte früher eher hinter anderen Vokabeln versteckt hat: die collaboration und, in geringerem Maße, der Algerienkrieg und die Kolonialkriege im Ganzen. Das Schlüsselereignis, dass ihm zum polischen Bewusstsein verhalf, war die rechte Reaktion auf die Ideen des Mais 68, die so anstatt des 2. Weltkriegs zu dem Hauptereignis wurde, um das sich die ideologischen Positionen gruppierten. Und das kann ihm bei den deutschen Christdemokraten oder bei David Cameron, der sehr konservativ ist, was die Fragen der Moral angeht, eine gewisse Sympathie eintragen, selbst wenn sie in anderen Fragen sehr weit voneinander abweichen: Sarkozy symbolisiert den Erfolg des Versuchs der Wiedereroberung der kulturellen Hegemonie, den die Rechte ins Rollen gebracht hat, was Sarkozy dazu brachte, mit einer gewissen Glaubwürdigkeit zu kokettieren, auch er sei ein „Leser von Gramsci“[3]. In Portugal und in Spanien schätzen die Partido Populares einen anderen Aspekt der Sarkozyschen Taktik: seine Fähigkeit, mit dem Streit der „zwei Frankreichs“ umzugehen, der bis vor kurzem einen linken Block, Erben der französischen Revolution, und einen rechten Block gegeneinander aufbrachte, wobei letzterer eigentlich nie weder den Sieg der republikanischen Verfassung, noch die Laizität, noch die Menschen- und Bürgerrechte angenommen hatte. Paulo Portas ließ sich in Portugal genau zu dem Zeitpunkt direkt von den Parteimitgliedern an die Spitze des CDS-PP wählen, als Sarkozy seinen Sieg errang. Man versteht so besser, dass einer seiner Vertrauten sich davon beeindruckt zeigte, wie „Sarkozy es geschafft [habe], sich zum Führer der Synthese der verschiedenen Tendenzen seiner Partei zu machen“[4], aber man sieht auch, wie Portas, auch ohne der Vertreter irgendeines „Sarkozysmusses“, wie ihn Charlie Hebdo[5] zu entdecken glaubt, zu sein, Interesse daran haben könnte, sich als den Vereiniger einer noch zwischen ehemaligen Opponenten des Estado Novo und alten Salazaristen gespaltenen Rechten darzustellen.
Die Pose des Versammlers einer von ihren Komplexen befreiten Rechten, die gleichzeitig die Öffnung gegenüber der liberalen Linken und die Aggressivität gegenüber der wirklich überzeugten Linken überbringen kann, interessiert in hohem Maße auch Mariano Rajoy, Alberto Ruiz Gallardon und die spanische PP im Allgemeinen. Tatsächlich hat die Partido Popular die Verquickung einer Reihe ihrer Funktionäre mit der Francoperiode auch noch nicht gänzlich überwunden und ist außerstande, das Blatt des Bürgerkrieges endgültig zu wenden. Seiner Meinung nach stellt das Modell Sarkozy die Route der notwendigen Überholung der gestrigen Klüfte dar, so wie auch das Beispiel des charismatischen Chefs, das diese noch benötigte und der diese Veränderung durchsetzen könnte. In Italien ist die Partei, die sich Sarkozys Sieg am Meisten zunutze gemacht hat, die italienische Nationale Allianz, unter der Führung von Gianfranco Fini. Dieser hatte eine Polemik ausgelöst, indem er ein Vorwort zur italienischen Ausgabe eines kürzlich erschienenen Werkes des französischen Präsidenten verfasste, „Testimonianza“ [6], in der Übersetzung des alten Monarchisten Fabio Torriero und durch den Verlag „Nuove Idee“ herausgegeben, der auch Alain de Benoist und Alexander Dugin sowie italienische neofaschistische Autoren herausgibt.[7] Einige Beobachter haben daraus geschlossen, dass Sarkozy eine faschistoide Partei begünstigte. Aber im Gegenteil, indem die Nationale Allianz dem Phänomen Sarkozy das zentrale Dossier der ersten Nummer ihrer theoretischen Zeitschrift unter dem Namen „Con(servateur)“ widmet, und dann, weil sie sich ganz, und zu gutem Recht, in ihm wieder erkennt, zeigt diese Verknüpfung die erfolgreiche Vollendung ihrer Überwindung des Neofaschismus an. Eine Überwindung, die – zumindest wenn man die oberen Etagen der Partei betrachtet – sehr real ist, aber die Fini an der Basis noch nicht ganz übergebracht hat. Es ist jedoch klar, dass wenn man den Parteimitgliedern Sarkozy als Modell vorschlägt, man sie dazu bringen will, sich Richtung eines reellen rechten Konservatismus zu bewegen, der sich in das demokratische politische System einpasst.
Im Ausland vergöttert und zum Teil nachgeahmt ist Sarkozy dennoch kein leicht zu exportierendes Modell, da er nach Schemata agiert, die der französischen Rechten eigen sind. Zum Beispiel besitzt die Rechte der Rückkehr zu den Werten, die er verkörpert, die Eigenschaft, die Dreiteilung der französischen Rechten, wie sie René Rémond in seinem Klassiker beschrieben hat,[8] zwischen Konterrevolution (d.h. monarchistisch, katholisch und mit Leidenschaft etatistisch, die außer Frankreich fast nur in Spanien existiert hat), Orléanismus (d.h. klassische liberale Rechte, die zunächst monarchistisch war, sich dann an die Republik anschloss, dabei der religiösen Frage gegenüber ziemlich gleichgültig war und die Interessen der Wirtschaft in die Politik umsetzt) und Bonapartismus (autoritäre Rechte, die einem charismatischen Führer folgt und nach einer starken Staatsgewalt strebt, die auf der direkten Beziehung zwischen Volk und Führer beruht) fast gänzlich aufzuheben und ihre Synthese herzustellen.
Jedoch gibt es die konterrevolutionäre Rechte nicht mehr, denn Christine Boutin und Philippe Villiers sind nur Reaktionäre, die eine moralisch orientierte Rechte verkörpern, die sich, was die Bewegung für Frankreich/Mouvement pour la France von Villiers angeht, an die Parteien von Geert Wilders in den Niederlanden und Jean-Marie Dedecker im niederländisch-sprachigen Belgien anschließen können.[9] Und weil es sie nicht mehr gibt, weil die Republik und die Laizität als formelle Werte Frankreich nicht mehr teilen, wie sie das vor 1905 taten[10], könnte Nicolas Sarkozy sich erlauben, die Institutionen in Richtung einer Akzentuierung des Präsidentialismus umzugestalten und das Gesetz von 1905 an die Situation von 2007 anzupassen, um den Religionen mehr Sichtbarkeit im sozialen Raum zu verschaffen. Die orleanistische Rechte, die anti-gaullistisch war, scheint sich zu spalten, um sich entweder in Richtung Sozialdemokratie/soziale Christdemokratie hinzuorientieren, die sich mit dem Ehrgeiz des Mouvement Républicain Populaire/Republikanische Volksbewegung (deren Nachleben sich im Mouvement démocrate/Demokratische Bewegung von François Bayrou verkörpert), die „dritte Kraft“ zu werden, bestens vermählt oder einen klassischen Liberalismus anzuvisieren, der sich jedoch vom klassischen Orleanismus insofern unterscheidet, dass er nicht so sehr wie vorher die Interessen der Bourgeoisie und der großen Firmendynastien verkörpert, sondern mehr die einer Mittelschicht der Freiberufler, der kleinen Unternehmer und der Gehaltsempfänger (die „Neue Mitte“, die aus ehemaligen Unterstützern von Bayrou besteht, die sich jetzt an Sarkozy angeschlossen haben). Heute ist die rechte Synthese, die Sarkozy aufbaut, vor allem eine bonapartistische und populistische Rechte, ohne dass man bis jetzt weiß, ob es sich hier nur um eine ideologische Sequenz handelt, die sich wieder ändern kann, oder um die grundsätzliche Natur des Systems.
Dieser plebiszitäre Populismus, der von der massiven Popularität des Präsidenten in der direkten Nachwahlperiode noch verstärkt wurde[11], verkörpert sich vor allem in seinem präsidentialen Stil: Ablehnung des traditionellen intellektuellen Minderwertigkeitskomplexes des Rechten; Bestätigung einer überzeugten Rechten im Gegensatz zu reiner Interessenvertretung; Personalisierung der Macht und Intervention in die öffentliche Debatte zu einem Breitestmöglichen Themenspektrum, einschließlich als „sekundär“ eingeschätzter Themen; konstante Inszenesetzung des Präsidenten und der ihm Nahestehenden durch ein gefügiges bzw. zur Gefolgschaft gezwungenes Mediensystem. Man erkennt in Sarkozys Stil vor allem vier Hauptkomponenten des Populismus: den angenommenen ideologischen Widerspruch (europäisierten Liberalismus/Protektionismus; Atlantismus/nationale Unabhängigkeit; Hochschätzung des Geldes/Verteidigung der „Kleinen“); den Willen, mit der Vergangenheit zu brechen („ab jetzt wird alles möglich“, das Wahlkampfmotto des Kandidaten Sarkozy) und Hochschätzung der Modernisierung, was rechte Vorgänger und Gegner auf ihren angeblichen „Archaismus“ zurückweist. Schließlich und vor allem, den Willen, durch eine Öffnung der Regierung Richtung „Linke“, eine simulierte nationale Einheit zu erreichen, die wie in allen plebiszitären Regimes zum Ziel hat, die Ideologie zu entwerten und die soziale Frage hintanzustellen. Man sieht auch sehr gut, was die europäische Rechte am Modell Sarkozy verführen kann, als da ist, seine anscheinende Fähigkeit, die liberale Ordnung durch gerade die sozialen Kategorien zu legitimieren, deren objektives Interesse es eigentlich ist, diese Ordnung zu bekämpfen, dann – auf allgemeinere Weise – in der Gesellschaft einer Repräsentationskonstellation zur Hegemonie zu verhelfen, die der Kritik an dieser Ordnung und den Mobilisierungen zu ihrer Veränderung Handschellen anlegt.
Der Wahlsieg von Nicolas Sarkozy war nur möglich, weil er weit über die soziologische Basis der Rechten hinaus seine politische und ideologische Tagesordnung durchgesetzt hatte. Man würde jedoch falsch gehen, wenn man dächte, dass er nur aufgrund seiner unleugbaren Fähigkeit der Analyse des augenblicklichen politischen Moments Erfolg gehabt hat: die Linke, oder was sich so nennt, hatte ihm im Voraus aufs Beste den Boden bereitet. Es ist auch in dieser Hinsicht, dass die Wahl von Sarkozy die europäischen Rechten interessiert, denen es überall darum geht, die Hegemonie der rechten Werte zu konsolidieren, indem sie aus dem Verzicht eines Teiles der Linken auf das Ziel der sozialen Umgestaltung Profit ziehen. Eine Strategie, die, wenn sie Erfolg hat, ein politisches Leben vorbereitet, in dem, wie in der amerikanischen Politik, zwei große Formationen endlos um die Macht streiten, die aber letztendlich ziemlich ähnliche politische Konzepte vertreten und die aus der öffentlichen Debatte möglichst jede Dimension eines sozialen Konflikts und ideologischer Divergenz heraushalten.
[3] Sarkozys Bezug auf Gramsci bedeutet keinesfalls, dass er sich von jener „neuen“ differenzierten und organischen Rechten hat beeindrucken lassen, die schon seit Beginn der 70er durch eine „metapolitische“ Strategie versucht hat, der Rechten die intellektuelle Hegemonie zurückzuerobern. Klar gesagt hat Sarkozy nichts mit Alain de Benoist und dem GRECE zu tun, genau wie in Italien die „nuova destra“ Berlusconi nicht inspiriert hat und wie in Deutschland der Einfluss der Jungen Freiheit in der CDU randständig bleibt.
[6] Fini hatte schon zuvor die Einführung zu einem weiteren Buch von Sarkozy geschrieben: „Die Republik, die Religion und die Hoffnung“.
[7] Alain de Benoist ist der Haupttheoretiker der „neuen europäische Rechten“. Alexander Dugin ist ein russischer Denker, der „eurasische“ Thesen auf einer ethnonationalistischen Basis vertritt und der einen Großteil des russischen „patriotischen Lagers“ beeinflusst.
[8] René Rémond: Les droites en France (Die Rechten in Frankreich), Aubier_Montaigne, 1982. Die erste Ausgabe, die unter dem Titel La Droite en France (Die Rechte in Frankreich) erschienen ist, stammt aus dem Jahr 1954.
[9] Wir würden die Hypothese aufstellen, dass die vom MPF, der Lijst Dedecker und der Partei voor de Vrijheid von Wilders, genau wie die weniger bedeutenden Formationen wie das Mouvement Citoyens Genevois/Bewegung der Genfer Bürger in der Romanischen Schweiz eine neue politische Familie darstellen, die sich von der extremen Rechten durch ihre Eingliederung in den politischen „Mainstream“ unterscheidet, aber mehrere ihrer Themen nutzt (anti-Immigrantenressentiments; Islamophobie; Nationalismus souveränistischen Typs).
[10] Datum der Annahme der Gesetze, die die Trennung der Religionsgemeinschaften und des Staates in seiner augenblicklichen Form festschrieben und die in einem Klima intensiver Spaltung zwischen schlecht an die Republik angebundenen Katholiken und Republiktreuen verabschiedet wurden.
[11] Dieser Artikel ist Anfang August 2007 geschrieben. Im Juli erhielt Nicolas Sarkozy noch 66% positive Werte (+1% im Vergleich zum Juni). Zitiert nach IFOP-Umfrage für Le Journal du Dimanche.