Die Diskussionen und zum Teil kontroversen Debatten um den EU-Beitrittsprozess haben in der Türkei eine Dynamik ausgelöst, die alle politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereiche stark beeinflusst. Sowohl die EU-Reformpakete als auch die Fragen der Achtung der Menschenrechte, der Akzeptanz von ethnischen Minoritäten, der Organisations- und Versammlungsfreiheit, des Schutzes von gewerkschaftlichen Rechten u.a. stellen die Türkei vor schwere Herausforderungen. Mit ihnen sollten sich gesellschaftliche Institutionen, soziale Bewegungen und nicht zuletzt auch linke Organisationen und Parteien kritisch auseinandersetzen. Der EU-Beitritt der Türkei erscheint derzeit vor allem als eine »Elitendiskussion«, während die unterschiedlichen Positionen der sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und fortschrittlichen sowie linksdemokratischen Organisationen im europäischen Raum kaum bekannt sind.
In Deutschland und anderen europäischen Ländern wird der EU-Beitrittsprozess der Türkei sehr kontrovers diskutiert. Gerade auch im Rahmen der starken sozialen Bewegungen gegen die EU-Verfassung in Ländern wie Frankreich und den Niederlanden wurde erneut darüber diskutiert, dass die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (3. Oktober 2005) die EU vor schwierige Entscheidungen stellt. Die Verhandlungen über insgesamt dreißig Sachgebiete wie Binnenmarkt, Umwelt- und Agrarpolitik, Menschenrechte, Minderheitenrechte, Arbeitsrecht, Freizügigkeit u.ä. werden nicht konfliktfrei verlaufen. Zum Integrationsprozess der Türkei wurden zwar auf dem EU-Gipfeltreffen in Brüssel im Dezember 2004 positive Signale gesetzt, eine Mitgliedschaft liegt derzeit jedoch in weiter Ferne.
Dabei spielen vielfältige Faktoren eine Rolle. Man sollte sie kritisch beleuchten. Zugleich geht es darum, neue Impulse in diesen Prozess hineinzutragen und die Positionen der sozialen Bewegungen sowie der fortschrittlichen Kräfte aufzugreifen. Die unterschiedlichen Positionen sind hier thesenhaft beschrieben.
August 2005