Publication Staat / Demokratie - Globalisierung Alphabetisierung in Wirtschaftsfragen

Interview mit Ulrich Duchrow. aus der Beilage der Ost-West-Wochenzeitung "Freitag" zum Kirchentag 2005

Information

Series

Online-Publ.

Author

Ulrich Duchrow,

Published

May 2005

Ordering advice

Only available online

„Wenn es nur zwei Alternativen gibt – wähle  die Dritte“ – hast Du dieses optimistische antike Sprichwort mit „Leben ist mehr als Kapital – Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums“ eingelöst?

Ulrich  Duchrow:

 Dieses Sprichwort haben Franz Hinkelammert und ich als Antwort auf das Zitat aus einer Rede von George W. Bush. jr. an den Anfang unseres Buches gesetzt. Bush hatte gesagt: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Das Sprichwort heißt also im Kontext: wir lehnen die Wahl zwischen totalem Markt und Imperium auf der einen und Gegenterrorismus auf der anderen Seite ab. Aber nicht nur dies. Wir wollen damit Menschen ermutigen, sich aus dem Zwang dieser barbarischen Alternative zu befreien. Voraussetzung dafür ist der Nachweis, dass eine politische Ökonomie im Dienst des Lebens real möglich ist und auch durchgesetzt werden kann, wenn sich die betroffenen Menschen zum Widerstand und zur Durchsetzung von Alternativen verbünden. Das Echo auf unser Buch, das inzwischen neben der deutschen Ausgabe in englischer und spanischer Sprache vorliegt und gerade ins Chinesische übersetzt wird, läßt mich hoffen, dass wir das Versprechen des antiken Sprichworts eingelöst haben.

Die bekannte Theologin Dorothee Sölle hat gesagt, dass angesichts der sich alternativlos gebenden Terrorökonomie wirtschaftliche Alphabetisierung von dringlichem Interesse zur Erhaltung der Erde sei. Teilst Du ihre Meinung?

Ulrich  Duchrow:

Die Frage kann ich rundheraus bejahen, da meines Wissens ein brasilianischer Pfarrer, mit dem ich 1984 zusammenarbeitete, und ich den Begriff „Alphabetisierung in Wirtschaftsfragen“ in die Diskussion eingeführt haben. Außerdem haben wir in Heidelberg in jener Zeit die Werkstatt Ökonomie Heidelberg und ab 1989 Kairos Europa gegründet, die nicht nur über diese Formel reden, sondern sie durch Materialerarbeitung, Vorträge, Seminare und die Organisation zivilgesellschaftlicher Prozesse in die Tat umsetzen.

Ist es „selbstverschuldete Unmündigkeit“, wenn man 2005 „freie“ Marktwirtschaft immer noch für einen demokratischen Fortschritt hält und über alle Anzeichen von Barbarei hinwegsieht?

Ulrich  Duchrow:

Ja, genau dies. Der südafrikanische Theologe Alan Boesack hat in der Apartheidzeit ein Buch mit dem Titel geschrieben „Unschuld, die schuldig macht“. Ich habe diesen Ausdruck oft benutzt. Ein Beispiel: Um 1984 herum wurde ich in meiner Landeskirche in Baden heftig attackiert wegen meiner kritischen Äußerungen und Arbeiten zur kapitalistischen Weltwirtschaft. Wir einigten uns schließlich darauf, 1987 eine Schwerpunktsynode zum Thema Gerechtigkeit zu organisieren. Doch die Vorbereitungsgruppe beschloss: „Wir wollen nicht über weltwirtschaftliche Gerechtigkeit reden, sondern über die Gerechtigkeit Gottes“. Man lud Herrn Jüngel zu einem gelehrten Vortrag ein und verabschiedete sich damit bis zum heutigen Tag von der Lebensfrage der heutigen Menschheit. Gleichzeitig hört man immer wieder, wie komplex doch die Frage sei, die deshalb besser von Fachleuten behandelt werden sollte. Das ist Unschuld, die schuldig macht.

Wie erklärst Du Dir (und Deinen Studenten), dass es dem globalisierten Markt augenscheinlich gelungen ist, sich den Mythos alternativer Notwendigkeit zu verschaffen?

Ulrich  Duchrow:

Zu dieser Frage gibt es neuerdings eine vorzügliche Studie: Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, 2004. Darin zeigt der Autor, wie sich nach der Katastrophe des klassischen Liberalismus in der Weltwirtschaftskrise von 1929 die versprengten Liberalen unter Führung von Ökonomen wie F.A. von Hayek u.a. weltweit unter dem Namen Neoliberalismus sammelten und vernetzten, um langfristig die ideologische Hegemonie wiederzugewinnen. Sie trafen sich regelmäßig in jener Society, gründeten Stiftungen, Zeitschriften und Think Tanks und zogen so zunehmend Akteure der Wissenschaften, der Medien, des Kapitals und der Politik an. Die Linke hingegen nahm dies nicht ernst und setzte dieser gezielten Strategie nichts Gleichwertiges entgegen.

Du hast darauf hingewiesen, dass seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder der Kapitalismus dabei ist, in brutaler Form den Erdball zu unterwerfen. Bedingt der politische Sieg der Demokratie über totalitäre Systeme nun die uneingeschränkte Machtergreifung des totalen Marktes? Sollte das eine „Entweder-oder-Falle sein?

Ulrich  Duchrow:

Ja, in mehrfacher Hinsicht. Dabei ist entscheidend wichtig zu sehen, dass diese Alternative bereits als Lüge formuliert ist. Der neoliberale totale Markt wurde außer durch die genannten ideologischen Strategien vor allem durch die Einsetzung von Diktaturen durch die geheimdienstlichen und militärischen Interventionen der USA, nicht durch Demokratie eingeführt (seit 1953 in Persien, Brasilien, Indonesien, Kongo, Chile Argentinien usw.). Die Diktatoren öffneten die Märkte für das transnationale Kapital und verschuldeten ihre Länder durch Kredite für Importe aus den Industrieländern. Ab Ende der 80er Jahre wurden dann „Demokratien niedriger Intensität“ unter Herrschaft der Finanzmärkte eingeführt. Wie das Santa Fe Dokument II ( für Bush sen.) zeigt, wird Demokratie definiert als Freiheit des Kapitals, die durch die „permanenten Regierungsstrukturen“ zu schützen ist (durch Militär, Justiz und Administration). Ich habe das in dem Buch „Totaler Krieg gegen die Armen“ näher belegt und ausgeführt.

Dienen dabei Begriffe, wie Freiheit – Wettbewerb – Erschließung neuer Märkte, Menschenrechte und Mobilmachung gegen weltweiten Terror der Verschleierung ebenfalls weltweit fortschreitender Verelendung, die –angesichts höchstentwickelter Technik – wohl Barbarei genannt werden müsste?

Ulrich  Duchrow:

Da gibt es nichts mehr zu verschleiern. Die Verelendung ist vor aller Augen. Freilich werden z.Zt. von der politischen Klasse aller Couleur nur die Symptome angesprochen wie in Münteferings Kapitalismuskritik. Da soll die Unmoral einiger Unternehmer für die katastrophale Situation verantwortlich sein. Dass man diese Unmoral durch Abbau von Sozialstaat und Abbau von Steuern auf Gewinne aus Unternehmertätigkeit und Vermögen jahrelang und anderem mehr gefördert hat, wird verschwiegen. Die Barbarei hat und ist System.

Könnte man die in allen Kontinenten erstarkende Globalisierungskritik, die in sozialen Bewegungen Gerechtigkeit fordert und einklagt, dass nicht nur Kapitaleigentum sozialpflichtig werden muss – eine Alphabetisierungskampagne in Sachen Menschenrechte nennen?

Ulrich  Duchrow:

Ich habe kürzlich einen Artikel über Kapitalismus und Menschenrechte für ein englisches Handbuch geschrieben. Die These in Kurzfassung lautet: Der Kapitalismus hat moderne Menschenrechte hervorgebracht, allerdings nur die auf Freiheit eingeschränkte sogenannte erste Generation. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte sind auf dieser Basis durch die Arbeiterbewegung und die sozialistischen und Dritte-Welt-Staaten zusätzlich erkämpft worden. Jetzt zerstört der Kapitalismus durch seine Globalisierung nicht nur diese kollektiven Rechte, sondern auch die politischen und bürgerlichen Freiheitsrechte. Wer deshalb für Menschenrechte kämpfen will, muß gegen den neoliberalen Kapitalismus kämpfen.

Und zum Schluss: Ist mein Eindruck richtig, dass 2004 erstmalig in der Kirchengeschichte ein internationaler Kirchenbund sich unmissverständlich kritisch öffentlich zur Wirtschaftssituation geäußert hat? Im Bekenntnis von Accra ist zu lesen: „ … dass die gegenwärtige Welt-(Un)ordnung auf einem extrem komplizierten und unmoralischen Wirtschaftssystem beruht, … wobei die Mehrheit der Menschen (vom Gewinn) ausgeschlossen und die Schöpfung geplündert wird.“ Welche Reaktionen hat dieses Bekenntnis ausgelöst?

Ulrich  Duchrow:

Ja, das Bekenntnis von Accra ist ein kirchengeschichtliches Ereignis. Die Reaktionen darauf waren im Süden durch große Freude gekennzeichnet. In Westeuropa dagegen wird es in verschiedenen Regionen reserviert bis feindlich aufgenommen. Das wird aber nichts nützen. Der nächste Schritt und die nächste Herausforderung haben bereits begonnen. Gerade erschien das Hintergrundsdokument des Ökumenischen Rates der Kirchen zur Vollversammlung 2006 in Porto Alegre. Es trägt den Namen AGAPE – Alternative Globalisation Addressing People and Earth (Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde). Darin ist Accra aufgenommen und weitergeführt. Und die ökumenische Basis wird in unseren Kirchen keine Ruhe geben. Denn die (immer barbarischere) Realität holt immer mehr Menschen ein.