Text der Woche 7/2002Soziologie gehört zu den Zulieferindustrien, die das Material her- und bereitstellen, aus dem in Werkstätten abseits von Öffentlichkeit Herrschaftswissen und Deutungsmacht produziert werden. Die akademische Würde, in der sich das Fach in den Tempeln der offiziellen Wissenschaft so gern selbst zelebriert, ist eine Hülle. Auf spezifische Weise war der Soziologe Pierre Bourdieu, der am 24. Januar in Paris starb, Personifizierung dieses Widerspruchs. Sein Werk und Werdegang hatten ihn auf eine herausragende Stellung in einem der feinsten Tempel der Wissenschaft befördert, den Lehrstuhl Soziologie im College de France. Er war ein exzellenter Zelebrant eben jener Würde, und er hat die daraus erschließbaren Möglichkeiten radikal genutzt, den Mainstream der herrschenden Gesellschaftspolitik, den Mißbrauch ökonomischer Übermacht, die Instrumentalisierung von Herrschaftswissen und den verdummenden Gebrauch von Deutungsmacht in zahlreichen öffentlichen und medialen Auftritten zu kritisieren.
In der Zunft der Soziologen, in der die Ränge fein verteilt sind zwischen den Überfliegern der großen Theorien, den Designern der modischen Überwürfe à la Spaßgesellschaft und den unscheinbaren Arbeitern der empirischen Aneignung der vielfältigen Welt des Sozialen, bildete Bourdieu einen Sonderfall. Zum einen war er ein Mann der Reflexionen, er hat die soziologische Theorie bereichert - mit "Habitus", "symbolischem Kapital" oder "Distinktionsgewinn" sind einige seiner Denkzeuge sogar bis ins Alltagsbewußtsein vorgedrungen. Zum anderen war er sich nie zu schade, selbst in die Niederungen der Empirie herabzusteigen, allerdings reflexiv und kritisch, die strenge Systematik der Analyse sozialer Realität wurde ihm zugleich zu einer heuristischen Quelle theoretischer Ideen. Sein Hauptwerk Die feinen Unterschiede ist unter diesem Gesichtspunkt zugleich ein Forschungstagebuch.
Das ist der Stoff, aus dem am Ende des 20. Jahrhunderts die großen Kritiker der herrschenden Eliten und ihrer neoliberalen Praxis gemacht sind. Dabei hatte er aus deren Sicht durchaus vielversprechend begonnen, als Schüler von Raymond Aron, einem der Schöpfer der "Theorie der Industriegesellschaft", und in der Tradition des französischen Strukturalismus. Das Gesellschaftsbild dieser Richtung kann man sich so vorstellen, daß das Soziale ein Netz struktureller Abhängigkeiten ist, gewissermaßen eine riesige und vieldimensionale Kombination von Marionetten, die sich gegenseitig selbst spielen. Bourdieus Kritik kam nicht mit dem Gehabe des Götzensturzes und Schulenstreites daher, sie war subversiv und blieb zunächst richtungsimmanent, wenngleich folgenreich. Er nimmt die Strukturierung an und hinterfragt deren Objektivismus - der Beobachtung folgend, daß in der Gesellschaft Regeln existieren, die den handelnden Individuen vorgegeben sind, ihnen aber gleichzeitig Freiräume in der Auslegung und Handhabung dieser Regeln lassen, die wiederum eine Vielfalt von Lebensformen ermöglichen. Das ist mit Sprache vergleichbar, auch hier sind Wortschatz und Grammatik vorgegeben, und gleichzeitig ist eine unendliche Zahl von sprachlichen Kombinationen und Aussagen möglich. In der gesellschaftlichen Realität hängen die Nutzungsmöglichkeiten dieser Freiräume von einer weiteren Art von Faktoren ab, eben den "feinen Unterschieden". Von frühester Kindheit an eignen sich Menschen Geschmacksurteile, Lebensstile und kulturelle Praktiken an, wie man Besteck handhabt, welchen Wein man zu welchem Gericht auswählt, wie man sich bei welcher Gelegenheit kleidet, welche Bilder an die Wände sollen, welche Gebärden in der sozialen Kommunikation eingesetzt werden usw. Das alles ist verinnerlicht und kommt im alltäglichen Sozialverhalten weitgehend automatisiert zum Einsatz. Damit werden im sozialen Umgang der Menschen untereinander "Duftmarken" versendet, kulturelle Codes, die über die jeweils erworbenen kulturellen Eigenschaften einschließlich ihrer feinen Unterschieden informieren und darüber bestimmen, zu welchen Kreisen, Zirkeln und Szenen man Zugang haben kann und zu welchen nicht, welche Karrieren offenstehen und welche verschlossen sind.
Damit war nicht nur der Weg frei für eine neue, moderne Klassenanalyse jenseits von Erstarrungen orthodoxer marxistisch-leninistischer Lehre vom Klassenkampf, es waren auch neue Ansätze für wirkungsvolle Gesellschaftskritik geboren: Zum einen wurden die Unterschiede in den Ressourcen aufgedeckt, die bei gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und beim Kampf um Deutungsmacht eingesetzt werden, das ist ein Blick auf die Gesellschaft von "unten" und nimmt Partei für die "kleinen Leute". Zum anderen werden die Produktionsmechanismen offengelegt, in denen unter anderem soziologisches Wissen in Herrschaftswissen verwandelt und als solches eingesetzt wird. Das ist zugleich Konstitution von Gegenmachtwissen. Pierre Bourdieu hätte - wie andere auch - seine Theorien nicht leben müssen; aber er hat es getan. Er engagierte sich für Benachteiligte und Ausgegrenzte, für Wohlfahrt und Solidarität, für rechtlose Immigranten und Streikende. Seine Kritik konzentrierte sich auf das Weltmachtstreben der herrschenden Wirtschaftspolitik der kapitalistischen Metropolen und ihre desaströsen sozialen Folgen. Bourdieu hat Mitte der neunziger Jahre den Neoliberalismus nach dem früheren Präsidenten der Deutschen Bundesbank auch das "Modell Tietmeyer" genannt. Dieses Modell, so führte er aus, steht "... für einen neuen Glauben an die historische Unvermeidlichkeit, die auf dem Primat der Produktivkräfte (und jenem der Technik) gründet, also für eine neue Form des Ökonomismus". Es bringt "... eine normative Anschauung zum Ausdruck, wie sie den Interessen der Herrschenden entspricht, eine auf klassische Weise konservative Anschauung, legitimiert und rationalisiert durch Argumente oder Wortwahl mit ökonomischem Schwung". In einem Spiegel-Interview im Sommer des vergangenen Jahres wurde er noch schärfer: "Der Neoliberalismus ist eine Eroberungswaffe, er verkündet einen ökonomischen Fatalismus, gegen den jeder Widerstand zwecklos erscheint. Er ist wie Aids: Er greift das Abwehrsystem seiner Opfer an." Sensibel spürte er den wachsenden Willen zur Gegenwehr und das Entstehen von globalisierungskritischen Basisinitiativen. Er engagierte sich in und für neue Bewegungen. Ihren Charakter sah er so: "Es handelt sich eher um eine Gegenreformation: Die Menschen ertragen das Theater der Politik nicht mehr, so wie die Protestanten das Theater der Religion nicht mehr ertrugen. Man sehnt sich nach wahrer Politik - so wie damals nach wahrer Religion."
Als er im Jahr 2000 aufrief zur Einberufung der Europäischen Generalstände, war ihm die Paradoxie klar: Als Institution existieren diese Generalstände nicht, aber die Rückeroberung der Politik durch die Bewohner der Polis ist eine immer dringendere Aufgabe, um wirksamen Widerstand gegen neoliberale Politik zu leisten. Wir müssen diese Arbeit nun ohne ihn tun.