Text der Woche 20/2002Zur Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen am 4. und 5. Mai 2002 in Wiesbaden
Wer das beschlossene Wahlprogramm der Grünen mit dem Entwurf vergleicht, glaubt seinen Augen kaum zu trauen. Von den Parteitags-Teilnehmern in Wiesbaden eher unbemerkt, ist durch die Übernahme bzw. "modifizierte Übernahme" einer Vielzahl der über 550 Anträge zum Entwurf des Bundestagswahlprogramms in den Text, über den die Delegierten in der Schlussabstimmung zu befinden hatten, eine deutliche Akzentverschiebung eingetreten: weg von neoliberalen Positionen - hin zu den Standpunkten der Parteilinken. Globalisierungskritische Aussagen sind ebenso ins Programm aufgenommen worden wie konkrete Ziele im Umweltschutz. Die Parteilinken können nun durchaus den beschlossenen Text auch als "ihr" Programm ansehen.
Der Parteiführung scheint diese Verschiebung der politischen Achse des Wahlprogramms gar nicht so ungelegen zu kommen. Offenbar hat man begriffen, dass die Grünen mit neoliberalen Themen kaum eine Chance haben, Wähler aus der umkämpften Mitte der Gesellschaft für sich zu gewinnen. Wohl vor allem so sind die Abgrenzung und die scharfen Attacken der Grünen-Führung auf CDU/CSU und FDP, auf Edmund Stoiber und Guido Westerwelle zu erklären. Nur so bekommt die deutlichere Artikulierung des Themas Soziale Gerechtigkeit durch Joschka Fischer, Claudia Roth oder Fritz Kuhn ihren Sinn.
Außenminister Fischer unterstrich, dass die Gerechtigkeitsfrage über den Frieden im 21. Jahrhundert entscheiden werde. "Die Gerechtigkeitsfrage kann nicht mehr national beantwortet werden", betonte er. Die klassischen Nationalstaaten verlören angesichts der Globalisierung schleichend ihre Souveränität. Deshalb müssten sich die Grünen dafür einsetzen, die demokratischen Strukturen Europas zu verbessern. Die Debatte um das Kyoto-Protokoll habe gezeigt, dass die Europäische Union großen Einfluss ausüben könne. Der müsse eingesetzt werden, um die Globalisierung gerecht zu gestalten.
Parteichefin Claudia Roth hatte zuvor nicht nur den Parteitag mit einer kämpferischen Rede eröffnet, sondern zugleich den Bundestagswahlkampf. Sie wandte sich gegen Vorwürfe, die Grünen hätten an Profil verloren: Ihr Programm sei "alles andere als fad und alles andere als verwechselbar". Nach 16 Jahren Kohl hätten die Grünen ökologisch und gesellschaftspolitisch umgesteuert. Der konservative Gegenwind zeige, dass die Öko-Partei Deutschland in einer Weise verändert habe, die vielen viel zu weit gehe, erklärte Roth mit dem Blick auf CDU/CSU und FDP. Wer die ökologische Modernisierung, die soziale Erneuerung und die gesellschaftliche Demokratisierung voranbringen wolle, habe nur eine Wahl: "starke Grüne in einer rot-grünen Koalition". Die Alternative dazu sei "schwarzer Rückschritt, garniert mit gelber Rücksichtslosigkeit, oder großkoalitionärer Stillstand". Stoiber stehe für eine Renationalisierung der Politik und eine populistische Kritik an der Europäischen Union. Sein Weltbild orientiere sich gesellschaftspolitisch am Vorgestern. Roth forderte unter Verweis auf die bedrohliche Belebung des Rechtspopulismus in den Nachbarländern der Bundesrepublik, Europa dürfe am 22. September 2002 nicht nach rechts abrutschen.
Nicht zu Unrecht reklamieren die Grünen in der Regierung Schröder für sich, "der Reformmotor der letzten vier Jahre" gewesen zu sein. Und Claudia Roth betonte, die Partei wolle auch nach der Bundestagswahl der Reformmotor in der Koalition bleiben. Die Öko-Partei will in der nächsten Legislaturperiode acht Punkte in das Zentrum ihrer Politik stellen:
- Raus aus der Atomkraft und weg vom Öl durch Energie aus Sonne und Wind.
- Gesundes Essen - mehr Verbraucherschutz und Neue Landwirtschaft.
- Die Stellung der Kinder in der Gesellschaft stärken - Kindergrundsicherung gegen die Kinderarmut und bessere Kinderbetreuung - sowie durch eine Bildung, die Selbstbestimmung ermöglicht.
- Mehr Arbeitsplätze - Ökologisches Wirtschaften, Reform der sozialen Sicherungssysteme und neue Arbeitsmarktpolitik.
- Das Einwanderungsland gestalten - Integration fördern und BürgerInnenrechte sichern.
- Die Hälfte der Macht für Frauen.
- Die Globalisierung gerecht gestalten - weltweit ökologische und soziale Regeln setzen.
- Mehr Mitbestimmung für die BürgerInnen - Stärkung der europäischen Demokratie.
"Wir verbinden Ökologie, Selbstbestimmung, erweiterte Gerechtigkeit und lebendige Demokratie. Mit gleicher Intensität treten wir ein für Gewaltfreiheit und Menschenrechte", postulieren die Grünen in der Präambel ihres Wahlprogramms. Als eine dem Wert der Gerechtigkeit verpflichtete Partei würden die Grünen für die sozialen Rechte der Schwächsten und eine gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Güter kämpfen, wobei jedoch ihre Vorstellung von erweiterter Gerechtigkeit über traditionelle Verteilungspolitik hinausgehe. Grüne Politik stehe auch für Teilhabe an Arbeit, Bildung und Demokratie, für Generationengerechtigkeit, für Geschlechtergerechtigkeit und für Internationale Gerechtigkeit.
Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung plädieren die Grünen für die Fortsetzung des in dieser Legislaturperiode begonnenen Kurses der Energiewende, der ökologischen Verkehrspolitik und der ökologischen Finanzreform. Sie betonen mit dem Blick auf die Ökosteuer, es sei nach wie vor richtig, den Faktor Umwelt zu belasten und den Faktor Arbeit zu entlasten. Sie gehen jedoch ohne eine konkrete Aussage über die Höhe der Öko-Steuer in den Bundestagswahlkampf. Die Entscheidung über weitere Erhöhungsschritte soll "die soziale Verträglichkeit insbesondere für Menschen ohne Erwerbseinkommen und die dann geltende Höhe der Energiepreise berücksichtigen". Damit setzte sich die Parteiführung mit ihrer Linie gegen weitergehende Forderungen aus der Parteibasis bereits bei den Verhandlungen mit den Antragstellern im Vorfeld und am Rande des Parteitages durch. Die Veränderungen zwischen dem Entwurf und dem beschlossenen Programmtext fallen besonders im sozial- und wirtschaftspolitischen Teil des Wahlprogramms ins Auge. Hier erklären die Grünen nun, dass die wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit für sie höchste Priorität habe und sie weiter auf einer gerechten Reform des Arbeitsmarktes beharren würden. Eingefügt wurde der Satz: "Im Zentrum einer solidarischen Reformpolitik muss die Orientierung am Ziel einer Vollbeschäftigung neuen Typs stehen, die für alle die Teilhabe an existenzsichernder Erwerbsarbeit und anderen gesellschaftlich sinnvollen Tätigkeiten ermöglicht." Dafür entfiel die neoliberal geprägte Aussage: "Wir müssen den Mut zur Eigeninitiative erhöhen und gleichzeitig nachhaltige Formen der sozialen Sicherung finden."
Mit gezielten Lohnkostenzuschüssen und einem befristeten Einstiegsgeld für Langzeitarbeitslose will die Öko-Partei Brücken in den ersten Arbeitsmarkt schlagen. War im Entwurf des Wahlprogramms noch eine Bezuschussung der Sozialversicherungsbeiträge im Bereich zwischen 326 und 870 Euro vorgesehen, wendet sich das beschlossene Programm gegen eine flächendeckende Subventionierung des Niedriglohnbereichs.
Insbesondere für die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen, aber auch anderer am Arbeitsmarkt benachteiligter Gruppen blieben öffentlich geförderte Beschäftigungen aus sozialpolitischen Gründen unabdingbar. Die Grünen wollen die individuellen Eingliederungspläne mit den Arbeitssuchenden nach dem Konzept Fördern und Fordern ausbauen. Während im Programmentwurf Arbeitsuchende noch im neoliberalen Geiste zur Teilnahme an den Angeboten der Arbeitsverwaltung verpflichtet werden sollten, heißt es im beschlossenen Text nun: "Eine Verschärfung der Sanktionen lehnen wir ab."
Die Grünen erklären den Einstieg in eine steuerfinanzierte und bedarfsorientierte soziale Grundsicherung zu einem ihrer zentralen Reformprojekte für die nächsten vier Jahre. In diesem Kontext sollen die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zusammengeführt werden. Die durch die Zusammenlegung eingesparten Mittel sollen im Grundsicherungssystem bleiben und damit den Beziehern zugute kommen. "ArbeitslosenhilfebezieherInnen sollen nicht schlechter gestellt werden als bisher", versprechen die Grünen, um damit der noch am Grundsatzprogramm geübten Kritik zu begegnen. Die soziale Grundsicherung würde unbürokratisch Hilfe aus einer Hand bieten. Alle Berechtigten würden Zugang zu den Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung erhalten.
Durch ein gerechteres Steuersystem sollen Privathaushalte und Mittelstand weiter entlastet werden. In diesem Kontext wollen die Grünen den Eingangssteuersatz bis 2005 auf 15 Prozent ermäßigen. Auch um Schwarzarbeit zurückzudrängen, sollen nicht nur die Lohnnebenkosten gesenkt, sondern auch der Grundfreibetrag zur Steuerfreistellung des Existenzminimums auf 7.664 Euro angehoben werden. Darüber hinaus streben die Grünen eine Reform der Erbschafts- und der Schenkungsteuer an. War im Programmentwurf noch eine Senkung des Spitzensteuersatzes auf 42 Prozent bis 2005 geplant, wird im angenommenen Programm "eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes über das beschlossene Recht hinaus nicht für geboten" gehalten. Dagegen ist nun die Forderung nach einer verfassungskonformen Wiedereinführung der Vermögenssteuer aufgenommen worden.
Die Grünen wollen das solidarisch finanzierte Gesundheitswesen im Interessen der Versicherten und Patienten beibehalten und lehnen den Weg in eine Zweiklassenmedizin ab. Hieß es noch mit Anklängen an die Sprache des Neoliberalismus im Programmentwurf: "Wir brauchen eine neue Balance zwischen Markt, Selbstverwaltung und Staat im Gesundheitswesen", wird nun im beschlossenen Text festgestellt: "Mit den Grünen ist eine Aufteilung in Grund- und Zusatzleistungen nicht zu machen." Der Kreis der Versicherten müsse verbreitert werden. Die finanziell Leistungsstarken müssten sich an der solidarischen Krankenversicherung beteiligen. Die solidarische Krankenversicherung solle mittelfristig zu einer echten beitragsgerechten Bürger- und Bürgerinnenversicherung werden, in der alle versichert sind. Zur finanziellen Entlastung der Krankenkassen schlagen die Grünen vor, vorrangig gesellschaftliche Aufgaben, die bisher von der Gesetzlichen Krankenversicherung getragen wurden, über eine Steuerfinanzierung zu sichern. Ein Antrag, der mit verkappter neoliberaler Tendenz für mehr Eigenverantwortung in der Gesundheitspolitik plädierte, wurde von den Delegierten deutlich abgelehnt.
Bei der Formulierung der Haushaltspolitik ist allerdings die Handschrift der grünen Neoliberalen unverkennbar. Die Haushaltskonsolidierung bleibe eine Daueraufgabe, heißt es. Und es findet sich jener Satz wieder, der schon im zweiten Entwurf des Grundsatzprogramms zu finden war, aber von den Delegierten der Berliner BDK deutlich relativiert wurde: "Ausgaben und Einnahmen müssen auf allen staatlichen Ebenen ins Gleichgewicht gebracht werden." So sollen die Kosten von 2,5 Milliarden Euro für die Einführung einer Kindergrundsicherung durch ein konsequentes Abschmelzen des Ehegattensplittings im oberen Einkommensbereich finanziert werden.
Nach dem Willen der Grünen soll Ostdeutschland zum Vorreiter bei ökologischen Zukunftstechnologien und Pioniermärkten werden. Unter dem Motto "Ideen und Wissen schaffen Arbeitsplätze und Märkte" will man mit der Einführung einer Innovationszulage ein neues Instrument der Förderpolitik einführen. Um mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland zu schaffen, soll die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur verbessert werden. "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und andere Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik sind besonders in Ostdeutschland weiterhin notwendig", unterstreichen die Grünen im beschlossenen Programmtext und setzen sich damit bewusst von Gedankenspielen nicht nur in den Reihen der Union und der Freidemokraten ab, ABM und SAM zu liquidieren. Ein Antrag allerdings, für Langzeitarbeitslose über 55 Jahre in Ostdeutschland die Möglichkeit einzuräumen, sich auf freiwilliger Basis vom Arbeitsmarkt zurückzuziehen, zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Rente zu gehen und bis zur Rente ein Altersübergangsgeld in Höhe des Arbeitslosengeldes zu erhalten, fand in den Augen der Delegierten keine Gnade.
Außerhalb der Debatte zum Bundestagswahlprogramm befassten sich die rund 750 Delegierten mit der Lage im Nahen Osten. Außenminister Fischer unterstrich ebenso wie Kerstin Müller, die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, dass der Nahost-Konflikt nur durch einen politischen Kompromiss zu lösen sei. Das Existenzrecht Israels sei unverzichtbar, aber auch die Palästinenser hätten das Recht auf einen eigenen Staat. Israel müsse sich auf die Grenzen von 1967 zurückziehen, hob Müller hervor. Beide Redner betonten, dass es einer dritten Partei von außen (USA, Russland, UNO, EU) bedürfe, um zu einer Friedenslösung zu kommen. Man dürfe dabei die Fehler von Oslo nicht wiederholen. Ganz am Anfang der Wiederaufnahme von Verhandlungen müsse daher der Rückzug des israelischen Militärs aus den besetzten Gebieten, der Abbau der Siedlungen, die Absage an Terror und Gewalt und die Erklärung eines unabhängigen palästinensischen Staates stehen, um Vertrauen zurückzugewinnen.
Während sich Joschka Fischer gegen wirtschaftliche Sanktionen aussprach, hatte der Kreisverband Hochsauerland in einem Antrag einen Stopp der Rüstungslieferungen an Israel gefordert. Doch die unter Medienvertretern kursierende Vermutung (oder besser: Erwartung), dass sich hier ein handfester Konflikt aufbauen würde, erfüllte sich nicht. Noch vor der Behandlung des Nahost-Themas im Plenum hatte sich die Parteiführung hinter den Kulissen mit den Antragstellern auf eine Kompromissformulierung geeinigt: "Wir sehen die große Gefahr, dass durch Waffenlieferungen in dieses Krisengebiet der gewaltförmige Konflikt noch angestachelt wird. Wir begrüßen, das die Bundesregierung sich diesbezüglich in der jetzigen Situation zurückhaltend gezeigt hat."
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Insgesamt war die Führungsriege der Grünen bestrebt, mit dem Wahlprogramm zum einen dem politischen Gegner möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten und zum anderen im Sinne der Glaubwürdigkeit den potentiellen Wählern nicht mehr zu versprechen, als wahrscheinlich gehalten werden kann. Bereits der Titel "Vierjahresprogramm 2002-2006" sollte deutlich machen, dass es nicht um gesellschaftliche Visionen, nicht um einen Aufbruch zu neuen Ufern gehen sollte, sondern um ein nüchtern umsetzbares Regierungsprogramm für die nächsten vier Jahre.
Die Parteiführung setzte alles daran, sowohl durch eine geschickte Regie im Vorfeld der BDK als auch auf dem Parteitag selbst innerparteilichen Streit zu vermeiden und mit einem klaren Signal der Geschlossenheit in den Wahlkampf zu ziehen. Dies dürfte gelungen sein. Die Angst vor einem neuen Fünf-Mark-Beschluss ließ die Parteiführung in fast allen kontroversen Fragen nach einem tragfähigen Kompromiss insbesondere mit der Parteilinken suchen. Durch die Übernahme bzw. modifizierte Übernahme der überwiegenden Mehrheit der Anträge betrafen die wenigen noch erfolgten Abstimmungen eher unspektakuläre Detailfragen, die - egal wie die Abstimmung ausfiel - nichts an der Grundlinie des Wahlprogramms änderten.
Verglichen mit dem Grundsatzprogramm sind im Wahlprogramm das Thema Soziale Gerechtigkeit stärker akzentuiert und neoliberale Tendenzen weiter zurückgedrängt worden. Das betrifft vor allem zum einen die Frage der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in einer Sozialen Grundsicherung und zum anderen die Weiterführung der ökologisch-sozialen Steuerreform. In beiden Fragen wurde versucht, Befürchtungen in breiten Kreisen der Bevölkerung, bei der praktischen Umsetzung dieser Vorstellungen zur Kasse gebeten zu werden, zu zerstreuen. Im Gegensatz zu früheren Äußerungen grüner Haushälter versicherte Parteichef Fritz Kuhn auf der BDK ausdrücklich, die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe solle ohne Kürzung der Arbeitslosenhilfe erfolgen. Schließlich wurde mehrfach im Zusammenhang mit der grünen Frauenpolitik die Forderung nach gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit (für Frauen und Männer) erhoben und mit der Ankündigung eines Gleichstellungsgesetzes für die Privatwirtschaft in der nächsten Legislaturperiode zu einem zentralen Thema grüner Politik gekürt.
Der Wiesbadener Parteitag hat deutlich gemacht, dass die Grünen im Bundestagswahlkampf nicht nur gegen die Unionsparteien kämpfen, sondern auch alles daransetzen werden, den dritten Platz im Parteienspektrum zu erobern. Sie konkurrieren dabei nicht nur mit der FDP, der sie zu Recht "neoliberale Ellenbogenpolitik" vorwerfen, sondern auch ganz bewusst mit der PDS, die sie als "im Kern unökologische und strukturkonservative Partei" diffamieren. Dies sei beispielsweise deutlich geworden, als Mecklenburg-Vorpommern, wo die PDS den Umweltminister stellt, im Bundesrat gemeinsam mit Bayern gegen das neue Naturschutzgesetz gestimmt habe, weil ihr das darin verankerte Verbandsklagerecht zu weit gegangen sei.
Mit der Thematisierung der Sozialen Gerechtigkeit einerseits und dem Offerieren konkreter Politikangebote in der Friedensfrage (wie den Vorschlägen zur Lösung des Nahost-Konflikts) versuchen die Grünen, potentielle PDS-Wähler - vor allem unter jungen Menschen - für sich zu gewinnen. Schließlich wird - wie bereits in der Vergangenheit, aber nun unter Hinweis auf den ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen - das "Argument" der verlorenen Stimme bemüht: Wer am 22. September 2002 Gabi Zimmer und Roland Claus wähle, so Umweltminister Jürgen Trittin, werde anschließend von Edmund Stoiber und Guido Westerwelle regiert.
Vergleicht man das nun beschlossene Wahlprogramm mit dem zur Bundestagswahl 1998, wird deutlich, in welch starkem Maße sich die Schrägstrich-Partei gewandelt hat. Fanden sich 1998 Forderungen nach dem "sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie" und nach einem Benzinpreis von 5 DM je Liter, wurden "militärische Friedenserzwingung und Kampfeinsätze" der Bundeswehr abgelehnt und eine "radikale Abrüstung" der NATO verlangt, so ist heute nur noch von einer Weiterentwicklung der Ökosteuer die Rede, ist das "sofort" beim Atomausstieg entfallen, die NATO kein Thema mehr, und der Begriff "Kampfeinsätze" kommt nicht mehr vor. Wohl aber soll die Bundeswehr "zur Gewalteindämmung und -vorbeugung im Dienste gemeinsamer Sicherheit" beitragen. Der revolutionäre Impetus der Oppositionspartei, die Lust am Widerständigen ist dem Evolutionismus der Regierungspartei gewichen, die das Erreichte sichern und eher behutsam und maßvoll ausbauen will. Ob die Grünen damit ihre Stammwähler binden und neue Wählerschichten hinzugewinnen können, ist ungewiss.
Berlin, im Mai 2002