Wie schätzen Sie die Situation ein, die sich aus der Selbstausrufung von Juan Guaidó als Interimspräsident am 23. Januar ergeben hat?
Um das einzuordnen, muss man sich die Geschehnisse der vergangenen Monate vor Augen führen. Seit den letzten großen Protesten gegen die Regierung Maduro im Jahr 2017 hat sich die wirtschaftliche Lage derart verschlechtert, dass wir von einem gesellschaftlichen Zusammenbruch sprechen müssen. Die Regierung ist mittlerweile weitgehend diskreditiert. Auch wenn es seit 2017 keine Großdemonstrationen mehr gab, finden regelmäßig kleinere Proteste verschiedener oppositioneller Akteure statt. Die Opposition ist fragmentiert und umfasst moderatere und extremistische Sektoren. Letztere agieren seit Beginn der Proteste sehr gewalttätig und setzen auf Maßnahmen der Einschränkung des alltäglichen Lebens (wie Straßenblockaden, Anm. d.Red.). Beide Sektoren folgen weiterhin einer jeweils eigenen Agenda.
Guaidós Partei Voluntad Popular repräsentiert die extreme Rechte und hat die moderaten Sektoren der Opposition beiseite gedrängt. Guaidó konnte nur deshalb als «neue Führungsfigur» etabliert werden, weil die anderen Oppositionspolitiker sich untereinander aufgerieben hatten. Nun versucht dieser radikale Flügel gemeinsam mit der Trump-Regierung Parallelinstitutionen aufzubauen und übt einen enormen Druck auf das Militär aus, um es zu spalten.
Sie sind einer der Mitinitiatoren einer internationalen Erklärung zu Venezuela, die bisher etwa 400 Intellektuelle aus aller Welt unterzeichnet haben. Darin kritisieren Sie sowohl die Regierung Maduro als auch Guaidó und schlagen unter anderem einen Dialog sowie ein Referendum über die Neubesetzung aller staatlichen Gewalten vor. Wie soll es in der derzeitigen Lage dazu kommen?
Wir haben gar keine andere Option, denn die Alternative wäre Krieg. Und die Mehrheit der Bevölkerung will keinen Krieg, sondern einen fairen Wahlprozess. Auf nationaler und internationaler Ebene gibt es Akteure, die eine Verhandlungslösung unterstützen, wie der UNO-Generalsekretär oder die Regierungen Mexikos und Uruguays. Es muss Druck für eine friedliche Lösung geben. Ansonsten droht Venezuela in der Barbarei zu versinken.
Was macht die Situation so gefährlich?
Die Menschen leben so prekär wie nie zuvor in den zwanzig Jahren der Bolivarianischen Revolution. Die Lage ist also weniger kalkulierbar als zum Beispiel bei den Protesten 2017. Das zeigt sich nicht nur in der Hyperinflation, sondern im Kollaps der Erdölindustrie und der sozialen Dienstleistungen sowie der Migration von Millionen Venezolaner*innen. In diesem Kontext hat sich der Parlamentsvorsitzende Juan Guaidó am 23. Januar 2019 selbst als Interimspräsident eingesetzt, um unter dem Schutz der USA einen Parallelstaat zu errichten. Es ist ein Schachzug, der mit internationaler Unterstützung geplant wurde. Dies versetzt uns in das gefährliche Szenario eines Bürgerkriegs mit internationaler Beteiligung, unter anderem der USA und Russlands. Auf beiden Seiten gibt es Sektoren, die bereit sind, bis zum Letzten zu gehen. Schon heute gibt es in Venezuela zahlreiche Auseinandersetzungen irregulärer, bewaffneter Gruppen. Wenn die Geschwindigkeit, mit der die Gegner aufeinander zu rasen, nicht gedrosselt wird, kann es jederzeit zu einem Zusammenstoß kommen. Die Aussichten sind sehr ungewiss.
Die Regierungen, die sich hinter Guaidó gestellt haben, argumentieren, dass die Nationalversammlung die einzige demokratisch legitimierte Institution in Venezuela sei. Ist das so?
Tatsächlich ist die Situation komplexer. Der Konflikt spielt sich auf dem Feld der Politik und Geopolitik ab und nicht so sehr im Rahmen der Verfassung, die allein nach Zweckmäßigkeit interpretiert wird. Regierung und Opposition beharren jeweils auf ihre Legitimität, doch im Kampf um die Macht haben sie spätestens ab 2015 den Rechtsstaat, die Institutionen und den Rahmen des Zusammenlebens zerstört. Denn beide Seiten haben Parallelstrukturen geschaffen und die Verfassung verletzt.
Wird die rechte Opposition den Druck der Straße aufrechterhalten können?
Das eine sind die Demonstrationen. Deren Beteiligung kann variieren, je nachdem welche Fortschritte die Leute bei Guaidós Plänen erkennen. Wenn sich der Konflikt erneut in die Länge zieht oder es Anzeichen für einen «Pakt» mit der Regierung gibt, wird dies Auswirkungen auf die Demonstrationen haben. Doch im Gegensatz zu vorangegangenen Protestzyklen fanden die Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften dieses Mal in den barrios statt, wo es bisher mindestens 40 Tote gab. Ich würde das zwar nicht als blinde Unterstützung für Guaidó interpretieren. Vielen Analysen unterschätzen aber, dass es in den ärmeren Vierteln zunehmend Proteste gibt. Wenn diese größer werden, könnte es zu einer Kettenreaktion kommen.
Die USA scheinen sich entschieden zu haben, unter allen Umständen einen Regierungswechsel herbeizuführen. Was würde der für die Zukunft Venezuelas bedeuten?
Wenn Trump eine neue venezolanische Regierung einsetzt, wäre das eine Katastrophe. Es würde eine intensive neoliberale Umgestaltung mit schmerzhaften Reformen folgen, die Plünderung der Rohstoffe, die Verfolgung der sozialen Bewegungen und der Linken, denen die ganze Schuld für die Misere zugeschoben würde. Dies alles muss im Kontext des Rechtsrucks betrachtet werden, der in Lateinamerika gerade stattfindet und der die pro-US-amerikanische Achse in Südamerika stärkt. Der Widerstand und die sozialen Kämpfe im Land würden in eine schwierige neue Phase eintreten.
Die kritische, chavistische Linke in Venezuela kann sich inmitten der Polarisierung kaum Gehör verschaffen. Wie könnte sich das ändern?
Es ist nicht einfach, weil die Regierungen Chávez und Maduro allen Positionen, die von der ideologischen Linie der Regierung abwichen, mit enormem Argwohn begegnet sind. Das ist über die Jahre immer schlimmer geworden. Wer kritisch denkt, hat mit Repression und/oder Kriminalisierung zu rechnen. Es ist wichtig, Streitpunkten mit Argumenten zu begegnen und natürlich auch, mehr auf die Basis zugehen.
Einige internationalistische Linke wenden sich nicht nur gegen den US-Interventionismus, sondern beziehen sich noch immer positiv auf die Regierung Maduro. Ist es angesichts der Gefahr, die von einer rechten Regierung ausginge, nicht doch sinnvoll, Maduro zu stützen und sich intern für Veränderungen einzusetzen?
Das ist eine ziemlich bequeme Position. Zu glauben, mit der Regierung Maduro würde sich noch irgendetwas ändern, klingt fast zynisch. Venezuela erlebt die schlimmste Krise seiner republikanischen Geschichte und es ist unmöglich, dafür allein externe Gründe verantwortlich zu machen. Die Regierung hat ein wirtschaftliches System geschaffen, in dem Milliardensummen veruntreut werden. Alle wissen das, auch die Regierung selbst. So beschuldigt sie Leute, die zuvor im engsten Machtzirkel waren, wie den früheren PDVSA-Vorsitzenden Rafael Ramírez und weitere hohe Erdöl-Funktionäre, immense Summen veruntreut zu haben. Der ganze Grenzschmuggel wird durch die Korruption innerhalb des Militärs angetrieben, genauso wie der illegale Gold-Bergbau im Süden des Landes.
Die Ökonomie ist im Erdöl-Staat traditionell stark zentralisiert und um einen Wirtschaftskrieg zu führen, benötigt man die Komplizenschaft wichtiger Teile der staatlichen Struktur. Wenn wir die Ineffizienz und die fatale Wirtschaftspolitik zusammennehmen, gäbe es wohl kein Land der Welt, in dem in einer solchen Situation nicht der Rücktritt des Präsidenten gefordert würde.
Zudem macht die Regierung selbst längst einen Rechtsruck durch und hat der Bevölkerung den Rücken zugekehrt. Sie verfolgt Arbeiter*innen, unterdrückt Protestierende und baut repressive Strukturen auf. Einen Ausweg über Wahlen hat sie eingeschränkt, indem sie sich blind an die Macht klammert. Die Verfassunggebende Versammlung (ANC) ist Ausdruck dieser autoritären Mechanismen. Eine kleine Gruppe trifft nun alle Entscheidungen des Landes im Geheimen.
Aber es gehen dieser Tage auch Menschen zur Unterstützung der Regierung auf die Straße. Ist die Basis der Regierung noch groß genug, um sich einem Putsch entgegen zu stellen?
Ich fürchte nein. Die Regierung Maduro ist in sozialer Hinsicht stark delegitimiert und kann sich nur noch auf das Militär, eine geschrumpfte, aber sehr loyale Anhängerschaft sowie den Rückhalt einiger Länder wie Russland, China, der Türkei oder dem Iran stützen. Diese allerdings verfolgen ihre eigenen Interessen. Der Chavismus an der Basis leidet unter der Korruption, der Ineffizienz, der Überheblichkeit, dem Autoritarismus und einer Missachtung seitens der Regierung. Man denke nur daran, dass die Regierung einzelne chavistische Alternativkandidaten, die auf kommunaler Ebene Wahlen gewonnen hatten, nicht anerkannte. Stattdessen wurden die Kandidaten der Regierungspartei zum Sieger erklärt. Der Rückhalt der Regierung ist also nicht mehr so stark. Es gibt aber noch einen Chavismus, der an einem Großteil der früheren Ideale festhält.
Vielen halten den bolivarianischen Prozess mittlerweile für komplett gescheitert. Was gilt es am chavistischen Projekt zu retten?
Man müsste wieder an den konstituierenden Prozess der ersten Jahre anknüpfen, der sich auf eine breite Partizipation stützte und bei dem die Menschen sich für die Möglichkeiten einer sozialen Transformation begeisterten. Die politische Macht wurde sich damals durch die Besetzung der Straße angeeignet. Später sind daraus viele Vorschläge erwachsen, von denen ich etwa die Idee der Comuna [basisdemokratische Strukturen auf kommunaler Ebene, Anm. d.Red.] als wichtig erachte. Heute ist es aber schwierig, Debatten darüber zu führen. Viele Leute bringen das Thema allein mit der Zentralregierung in Verbindung, obwohl es dabei eigentlich um Selbstregierung von unten, um nachhaltige und endogene soziale Ökonomien geht. Es ist jedoch nie gelungen, die partizipativen Mechanismen vom herrschenden Wirtschaftsmodell des Extraktivismus und der Rentenökonomie zu lösen. Dabei wäre nichts revolutionärer gewesen als das. Stattdessen hat der sozialistische Petrostaat schließlich die soziale Organisierung vereinnahmt und die Basis des Chavismus demobilisiert. Die Krise, die wir heute erleben ist eine Folge der Richtung, die der bolivarianische Prozess ab 2004 und 2005 eingeschlagen hat, als die Hegemonie der Regierung Chávez ihren Höhepunkt erreichte.
Jenseits der politischen Krise müssen zeitnah Lösungen für die wirtschaftliche und soziale Krise gefunden werden. Was braucht Venezuela kurz- und mittelfristig?
Um die Wirtschaft wieder aufzubauen ist ein stabiler politischer Rahmen notwendig. Weiterhin muss die venezolanische Wirtschaft von ihrer totalen Fokussierung auf den Rohstoffexport befreit werden. Die Erdölproduktion muss zwar angekurbelt werden, doch andere, historisch vernachlässigte Bereiche wie die Landwirtschaft oder der Tourismus sollten Priorität genießen. Mir ist jedoch klar, dass die nächste Regierung wohl Hand in Hand mit den Großunternehmen arbeiten und eine Erholung der Wirtschaft zugunsten der Kapitalakkumulation vorantreiben wird. Das bedeutet, alte Kämpfe für soziale und auch ökologische Rechte müssen wieder aufgenommen werden. Angesichts der Katastrophe müssen wir erfinderisch sein.
Das Interview führte Tobias Lambert.
Emiliano Teran Mantovani ist venezolanischer Soziologe und arbeitet schwerpunktmäßig zu politischer Ökologie und Extraktivismus. Er ist Mitglied in den Arbeitsgruppen «Politische Ökologie» des Lateinamerikanischen Rats der Sozialwissenschaften (Clacso) und «Alternativen zur Entwicklung» der Rosa Luxemburg Stiftung.
Eine kürzere Version des Interviews erschien am 2. Februar in «nd - Die Woche».