Das Brandenburger Paritätsgesetz gilt ab 2020 und ist ein wichtiger Meilenstein für die Geschlechtergerechtigkeit. Kritiker*innen zweifeln die Verfassungsmäßigkeit an – aus meiner Sicht zu Unrecht.
Mit dem Paritätsgesetz hat Brandenburg die geschlechterparitätische Besetzung der Landeslisten für die Wahlen zum Brandenburger Landtag vorgeschrieben. Nach dem sogenannten Reißverschlussprinzip müssen künftig auf den Listen abwechselnd Männer und Frauen stehen. Für Personen, die nach dem Personenstandsgesetz dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden, gibt es eine gesonderte Regelung. Sie entscheiden für die Dauer der Aufstellungsversammlung, ob sie auf der weiblichen oder der männlichen Liste kandidieren wollen. Eine weitere Ausnahme sieht das Gesetz für Parteien vor, die qua Satzung lediglich für ein Geschlecht offen sind.
Eingriff in die Wahlrechtsgrundsätze und die Parteienfreiheit
Bereits die Gesetzesinitiative hatte Gegner unterschiedlicher Couleur auf den Plan gerufen. Hauptvorwurf: Ein Paritätsgesetz greife in die Wahlrechtsgrundsätze und die Parteienfreiheit ein.
Diese Eingriffe gibt es aber bereits jenseits des Paritätsgesetzes. Drei Beispiele:
- Erstens: Es gilt die Allgemeinheit der Wahl, das heißt niemand soll vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen werden. Dennoch geschieht dies in diversen Fällen: Unter Freiheit der Wahl wird das Recht verstanden, die Wahl ohne Zwang und sonstige unzulässige Beeinflussung von außen ausüben zu können. Wählende können in den meisten Ländern und im Bund aber nur vorausgewählten Listen ihre Stimme geben.
- Zweitens bedeutet Gleichheit der Wahl, dass jede*r in möglichst formal gleicher Weise sein/ihr aktives und passives Wahlrecht wahrnehmen kann und jede Stimme den gleichen Einfluss hat.[1] Scheitert eine Partei aber etwa an der Sperrklausel, kommen ihre Stimmen am Ende sogar anderen Parteien bei der Sitzverteilung zugute.
- Drittens schließlich normiert die Parteienfreiheit des Art. 21 Abs.1 S. 2 Grundgesetz zunächst die Gründungsfreiheit.[2] Darüber hinaus gibt es aber auch die Betätigungsfreiheit als Grundrecht der Partei.[3] Diese umfasst die Programmfreiheit, Wettbewerbsfreiheit und Finanzierungsfreiheit.[4] Unter die Betätigungsfreiheit der Parteien fallen alle Maßnahmen, die deren innere Ordnung betreffen.[5] Dennoch gibt es Regelungen im Parteiengesetz, die Parteien vorschreiben, wen sie nicht als Mitglieder aufnehmen dürfen und wie sie ihre finanziellen Angelegenheiten zu regeln haben.
Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze und die Parteienfreiheit sind also keine Seltenheit. Ein Paritätsgesetz mit seinen Eingriffen ist daher nicht gleich verfassungswidrig. Entscheidend ist vielmehr, ob diese Eingriffe durch ein Paritätsgesetz gerechtfertigt sind. Es gibt gute Argumente, warum dies der Fall ist.
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat eine umfassende Rechtsprechung zur Einschränkung der Wahlrechtsgrundsätze und ihrer Rechtfertigung. Im Jahr 1976 beispielsweise formulierte es: «Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl bezieht sich auch auf das passive Wahlrecht. Neben den Parteien untereinander (…) haben auch alle Aktivbürger, denen Art. 38 Abs. 2 GG die Wählbarkeit ausdrücklich garantiert, als Wahlbewerber ein Recht auf Chancengleichheit (...), das eine Differenzierung nur aus zwingenden Gründen zulässt.»[6] An anderer Stelle hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: «Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl unterliegt aber keinem absoluten Differenzierungsverbot. Aus Art. 38 Abs. 2 GG (…) ergibt sich nicht, dass der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Regelungsbefugnis gemäß Art. 38 Abs. 3 GG nicht weitere Bestimmungen über die Zulassung zur Wahl treffen dürfte. (…) Bei der Prüfung, ob eine Beschränkung gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (…). Sie können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind (…).»[7]
Bei der Verfassungsmäßigkeit eines Paritätsgesetzes geht es folglich darum, ob ein zwingender Grund für Differenzierungen besteht und ob von der Verfassung legitimierte Gründe für eine Differenzierung vorliegen, die von mindestens gleichem Gewicht wie die Wahlrechtsgrundsätze sind.
Dieser zwingende Grund ist die strukturelle Diskriminierung von Frauen in der Politik. Auch 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts entspricht der Anteil von Frauen in Gesetzgebungsorganen nicht annähernd dem Anteil von Frauen an der Bevölkerung. Die zentrale Rechtfertigungsnorm von Verfassungsrang ist der Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz, der die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Beseitigung bestehender Nachteile festschreibt. Eine derartige Norm existiert für keine andere gesellschaftliche Gruppe. Daraus resultiert ein Handlungsauftrag.
Ausgangspunkt: strukturelle Diskriminierung von Frauen in der Politik
Es wird kaum bestritten, dass Frauen in der Politik strukturell diskriminiert sind. Unter struktureller Diskriminierung wird eine Benachteiligung einzelner Gruppen in der Organisation der Gesellschaft verstanden, deren entscheidende Faktoren über Jahrhunderte gewachsene Zuschreibungen und Rollen sind. Der § 3 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sieht eine mittelbare Diskriminierung als gegeben an, wenn vorgeblich neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen zum Beispiel wegen des Geschlechts benachteiligen.
Frauen stellen in Deutschland mehr als die Hälfte der Bevölkerung[8], keine der im Bundestag vertretenen Parteien hat aber einen Frauenanteil von mehr als 40 Prozent. Die Parteien sind jedoch das Nadelöhr bei der Auswahl von Abgeordneten. Das politische Partizipationsverhalten von Frauen wird ganz erheblich von institutionellen, sozialstrukturellen und kulturellen Faktoren beeinflusst.[9]
Hier lohnt ein Blick zurück. Wegen des preußischen Vereinsgesetzes von 1850 konnten sich Frauen erst 50 Jahre später als Männer am politischen Prozess beteiligen. Es galt bis 1908 und verbot Frauen politischen Vereinen beizutreten oder auch nur an politischen Veranstaltungen teilzunehmen. Politisch aktive Frauen trafen daher immer auf männlich vorgeprägte Organisationsstrukturen und bis heute existierende «Spielregeln», die im Kern Frauen benachteiligen. Beispiele sind: ausweislich mit männlichen Politikern geführte Interviews, kämpferisches Verhalten auf offener Bühne (mit anschließendem gemeinsamen Biertrinken), Selbstdarstellung, Rationalität und Abstraktion von konkreten Bedürfnissen/Problemen und weitgehende Befreiung von Hausarbeit und Kindererziehung zur Sicherstellung ständiger Präsenz.[10] Die benannten «Spielregeln» weisen «eine große Nähe zu Werten und Verhaltensweisen auf, die in unserer Kultur mit Männlichkeit verbunden sind[11]». Zu den Erfahrungen von Frauen in der Politik gehört ihre «Einstufung» als nicht ausreichend «politikfähig», ihre Belehrung, die Nachprüfung ihrer inhaltlichen Arbeit und das Überhören ihrer Redebeiträge.[12] Die Politik in ihrer institutionellen Form bietet «Frauen kaum geeignete Voraussetzungen für ihr politisches Engagement[13]». So erweckt die zeitliche Struktur von Politik den Anschein, «als ob kein Parteimitglied neben beruflicher und politischer Tätigkeit auch noch Familienaufgaben zu erfüllen hätte[14]». Hinzu kommen die gängigen Rekrutierungsmuster für politische Ämter und Mandate. Diese setzen im Regelfall auf «ständige Verfügbarkeit», um sich über die Arbeit in lokalen Parteizusammenhängen oder in Verbänden für Mandate «zu qualifizieren». Es ist weitgehend unbekannt, dass Sorgearbeit als ein Qualifikationsmerkmal für Ämter und Mandate bewertet wird.
Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern
Die zentrale Rechtfertigungsnorm für Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze und die Parteienfreiheit ist Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz. Dieser wurde im Jahr 1994 in das Grundgesetz eingeführt und beinhaltet, dass der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern fördert und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt. Bei dieser Verfassungsnorm handelt es sich um einen über ein Staatsziel hinausgehenden Handlungsauftrag des Staates. In der Begründung zur Änderung des Grundgesetzes[15] wird explizit auf eine «Verpflichtung des Staates» hingewiesen.[16] In der Einzelbegründung wird sogar von einem «verbindlichen Förderauftrag»[17] gesprochen. 2005 stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz den Gesetzgeber berechtigt, faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, durch begünstigende Regelungen auszugleichen.[18]
Der Bezugnahme auf Art. 3 Abs. 2 S.2 Grundgesetz wird häufig mit dem Hinweis auf den Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1) und das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 2) begegnet. Auch hier hilft ein Blick in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Im Jahr 1985 entschied es: «Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonst wie einleuchtender Grund für die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt (...).»[19] Beim Paritätsgesetz ist der «einleuchtende Grund» die strukturelle Diskriminierung von Frauen in der Politik. Und nicht zuletzt darf «die Frau nicht deswegen, weil sie Frau ist, benachteiligt werden»[20]. (Art. 3 Abs. 2)
Parteien sind grundsätzlich privatrechtlich organisiert, haben aber als Wahlvorbereitungsorganisationen in den meisten Bundesländern und im Bund eine Monopolstellung im Hinblick auf die Aufstellung von Wahlbewerber*innen. Das Bundesverfassungsgericht hat den Parteien den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution zugesprochen.[21] Auch wenn Parteien nicht unmittelbar Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz unterworfen sein sollten, dürften Parteien durch ihre Stellung als Wahlvorbereitungsorganisationen mittelbar dem darin enthaltenen Handlungsauftrag unterliegen. Zumindest dann, wenn sie sich - wie hier durch die Aufstellung von Wahlbewerber*innen - unmittelbar am öffentlichen politischen Prozess beteiligen.
Divers ist kein Argument gegen Parität
Bundesverfassungsgericht und Personenstandsgesetz haben diverse Personen anerkannt.
Auch hier hat das Bundesverfassungsgericht aber eine klare Aussage getroffen: «Das Grundgesetz gebietet nicht, den Personenstand hinsichtlich des Geschlechtes ausschließlich binär zur regeln. (…) Zwar spricht Art. 3 Abs. 1 S. 1 GG von ‹Männern› und ‹Frauen›. Eine abschließende begriffliche Festlegung des Geschlechts allein auf Männer und Frauen ergibt sich daraus jedoch nicht. Aus dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG folgt, dass bestehende gesellschaftliche Nachteile zwischen Männern und Frauen beseitigt werden sollen. Stoßrichtung der Norm ist vor allem, geschlechtsbezogenen Diskriminierung zu Lasten von Frauen zu beseitigen (…).»[22] Damit sind zwei Dinge klar: Zum einen geht es vor allem darum, Diskriminierungen von Frauen zu beseitigen. Zum anderen widerspricht eine Regelung für diverse Personen nicht diesem Handlungsauftrag.
Gesetzgeberisch tätig werden
Die Debatte um ein Paritätsgesetz hat gerade erst begonnen. Es gibt durchaus auch juristische Meinungen, die spätestens bei der sogenannten Angemessenheit im engeren Sinne eine Paritätsregelung als nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar ansehen. Am Ende wird wohl das Bundesverfassungsgericht den Streit endgültig entscheiden.
Bis dahin können die Landesgesetzgeber und der Bundesgesetzgeber aber auf gute juristische Argumente gestützt mutig den Handlungsauftrag zur Gleichstellung von Frauen und Männern umsetzen und Paritätsgesetze verabschieden. Und sie sollten es auch tun.
Halina Wawzyniak war Bundestagsabgeordnete von 2009 bis 2017. Die Volljuristin arbeitet zur Zeit an einer Dissertation zum Thema Paritätsgesetz.
[1] vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952, 2 BvH 1/52; BVerfGE 1, 208, Rdn. 119; http://www.servat.unibe.ch
[2] vgl. Sachs-Ipsen, GG, Art. 21, Rdn. 28
[3] vgl. Sachs-Ipsen, GG, Art. 21, Rdn. 30
[4] vgl. Sachs-Ipsen, GG, Art. 21, Rdn. 32
[5] vgl. BeckOK-Kluth, GG, Art. 21, Rdn. 111
[6] BVerfG, Beschluss vom 09. März 1976, 2 BvR 89/74; BVerfGE 41, 399, Rdn. 39; http://www.servat.unibe.ch
[7] BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Juli 2012, 2 BvC 1/11, 2 BvC 2/11, Rdn. 25; https://www.bundesverfassungsgericht.de
[8] vgl. https://de.statista.com, abgerufen am 12.08.2018
[9] vgl. Hoecker, ZParl 2011, S. 58 f.
[10] vgl. Schöler-Macher, Elite ohne Frauen, S. 409
[11] Schöler-Macher, Elite ohne Frauen., S. 413
[12] vgl. Schöler-Macher, Informationsdienst des Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft, Heft 1/1991, S. 101
[13] Hoecker, APuZ 2008, S. 10 ff.
[14] Hoecker, Frauen in der Politik, S. 110
[15] vgl. Bundestagsdrucksache 12/6633; http://dipbt.bundestag.de
[16] vgl. Bundestagsdrucksache 12/6633; http://dipbt.bundestag.de S. 5/6
[17] Bundestagsdrucksache 12/6633; http://dipbt.bundestag.de, S. 6
[18] vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 2005, 2 BvR 524/01; BVerfG, BVerfGE 114, 357, Rdn. 42; http://www.servat.unibe.ch
[19] BVerfG, Urteil vom 10. Dezember 1985, 2 BvL 18/8; BVerfGE 71, 255, Rdn. 51;
[20] Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 5/I, Nr. 7, S. 145
[21] vgl. BVerfG, Urteil vom 23. Oktober 1952, 1 BvB 1/51; BVerfGE 2, 1, Rdn. 331; http://www.servat.unibe.ch
[22] BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017, 1 BvR 2019/16, Rdn. 50; https://www.bundesverfassungsgericht.de