Die gegenwärtigen autokratischen Tendenzen in Tansania sind vielfach beschrieben worden, die Hintergründe für diese Entwicklungen werden jedoch weitaus seltener analysiert.
Wer sich über die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Tansania ein Bild machen möchte, wird in erster Linie mit Darstellungen schwindender demokratischer Räume und vermehrter Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Wir lesen von Einschüchterung, einem Klima der Angst, öffentlicher Beschädigung (Abwertung) von Personen des öffentlichen Lebens, von Einschränkungen bürgerlicher und politischer Rechte, von Militarisierung der Gesellschaft und massivem Ausbau der Überwachung. Auch Schikanen sind an der Tagesordnung bis hin zu vereinzelten Morden und Mordversuchen. Im Fokus stehen dabei zumeist die Machtposition und Praxis des derzeitigen Präsidenten. Sucht man jedoch nach möglichen Beweggründen sowie nach Antworten auf die Frage, wie es dem Machtapparat gelingt, progressive Errungenschaften nicht nur zurückzunehmen, sondern politische und gesellschaftliche Institutionen machtpolitisch zu durchsetzen, fällt das Ergebnis eher mager aus. Auch wird meist vergessen, dass die Regierung, entgegen aller diktatorisch beschriebenen Tendenzen durchaus regressive Verordnungen ihrer Vorgänger widerrufen hat. So ist es beispielsweise Straßenhändler*innen nicht länger untersagt, ihren Lebensunterhalt selbst in den Zentren der Städte zu bestreiten.
Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg stellte in seinem Vortrag «The Implicated Subject: Rethinking Political Responsibility», den er im Dezember 2018 im Rahmen des Kongresses «Recognition, Reparation, Reconciliation» an der Universität Stellenbosch hielt, seine aktuellen Studien vor. In seinem Buch «The Implicated Subject», das im August 2019 erscheinen wird, widmet er sich der Frage, auf welche Weise wir alle in Geschehnisse, die auf den ersten Blick außerhalb unseres individuellen Handlungsrahmens stehen, verwickelt sind und als Nutznießer zu Unrecht, Ausbeutung und Herrschaftsverhältnissen beitragen. Wir sind auch dann angesprochen, wenn wir nicht direkt für historisch begangenes Unrecht verantwortlich sind, und können uns von einer kollektiven Verantwortung nicht frei machen. Unter dieser Prämisse stellen sich neue Fragen nach Diskursen, Narrativen und manipulativen Elementen, nach Privilegien, nach Fragmentierung sowie nach den indirekten, strukturellen und historischen Voraussetzungen. Aber auch Formen von Solidarität und Widerstand müssen neu hinterfragt werden. «The Implicated Subject» motiviert zur Beschäftigung mit unterschiedlichen Dimensionen und Zeitlichkeiten (temporalities) von Unrecht, gerade dort, wo historisches Unrecht weiter fortbesteht oder der Gegenwart seinen Stempel aufdrückt.
Die Grundlagen der aktuellen Politik in Tansania wurden bereits vor der Amtsübernahme von Präsident John P. Magufulis gelegt. Ursachen dieser Entwicklung sind schon im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2015 als geprägt von erodierender Legitimität der Regierungspartei, der alle Sektoren des Landes zerfressenden Korruption und der Konzentration von politischer und ökonomischer Macht beschrieben worden. Welche Gruppen heute aufgrund ihrer Privilegien und Machtpositionen in der Gesellschaft von der jetzigen Politik profitieren, ist schwer auszumachen, denn der Präsident enttäuscht sowohl Bereicherungsinteressen innerhalb der Partei als auch die nationaler wie internationaler Wirtschaftseliten. Ein Beispiel dafür ist der Mindestgarantiepreis für Cashewnüsse, der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern gezahlt wurde, obgleich die Absatzmärkte rar sind, ein weiteres ist die Entscheidung, sämtliche Feldversuche zur Risikoabschätzung bei der Einführung gentechnisch veränderten Saatguts zu beenden.
Auffällig ist auch, dass so manches Argument, das jüngst die internationale Öffentlichkeit empörte, in Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung stößt. Beispielhaft sei hier auf das Verbot des Schulbesuchs für schwangere Mädchen oder die Hatz auf vorwiegend homosexuelle Männer verwiesen. Damit verbunden ist die Frage, inwieweit der sichtbare Rückgriff auf sogenannte traditionelle Sicht- und Lebensweisen, die immer auch durch koloniale Moral und Gesetzgebungen überformt oder zementiert worden sind – was sich gerade im Fall der Homosexualität gut nachzeichnen lässt –, als Reaktion auf ein zunehmend regressives und repressives Systems zu verstehen ist.
Anhand dreier, etwa zeitgleich stattfindender Prozesse, die von der Öffentlichkeit aufmerksam begleitet wurden, versuche ich eine Annäherung an herrschende Narrative vorzunehmen. Dabei suche ich die Antworten zivilgesellschaftlicher Organisationen, des Parlaments und der Justiz auf einschneidende Reglementierungen durch die Regierung nachzuzeichnen. Grundlage dieser Annäherung sind Ausschnitte aus Reden von Personen des öffentlichen Lebens, Zeitungsartikel sowie Hintergrundgespräche.
Herrschende Narrative
Der (rhetorische) Bezug auf die Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus, die Befreiung und die darauf folgende kontinuierliche Fortsetzung der Plünderung bzw. eines asymmetrischen Wirtschaftssystems sind in Tansania zu einem vorherrschenden Narrativ geworden, um politische Entscheidungen zu begründen. Auf die Fehlversuche von außen implementierter Entwicklungskonzepte durch internationale, westliche Geberländer oder -organisationen, die sich vielfach im institutionellen Rahmen, in der Sektorstrategie wie auch in den Umsetzungsmechanismen wiederfinden, gründet sich eine (berechtigte) Kritik an der neoliberalen Ideologie, die als Angriff auf eigene Vorstellungen von kollektivem Eigentum, nationaler Entwicklung oder Solidarität verstanden wird. Als beispielhaft für ein Hinterfragen solcher Entwicklungskonzepte kann die in öffentlichen Reden des Generalsekretärs der Regierungspartei angekündigte Überprüfung des Entwurfs der Landpolitiknovelle angeführt werden – ein Entwurf, der unter anderem durch die Privatisierung des Zugangs und der Nutzung von Land der Kommodifizierung Vorschub leistet. Land als Kreditsicherheit soll, so die Entwicklungslogik des Westens, den Zugang zu Krediten ermöglichen, führt jedoch in der Umsetzung sehr häufig zum Verlust des Produktionsmittels Boden, von dem weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung abhängig ist.
Die in den letzten Jahren zunehmende staatliche Kontrolle öffentlicher Diskursräume und der Ausbau der Kommunikationsüberwachung haben jedoch eine Verflachung der Debatten zur Folge. Das Artikulieren eines gut begründeten, kritischen Standpunkts wird zunehmend zu einem persönlichen Risiko. Entscheidungsträger*innen scheinen kaum mehr einer differenzierten Argumentation zugänglich zu sein. Wo eine solche versucht wird, wird sie entweder als unpatriotisch und gegen das Entwicklungsinteresse des Landes gerichtet interpretiert oder als Instrumentalisierung der aktuellen Politik und der Entwicklungsambitionen westlicher bzw. privatwirtschaftlicher Interessen gewertet. Ein markantes Beispiel ist die Antwort des Präsidenten auf das nationale Umweltgutachten zum geplanten Bau des Megastaudammes Stieglers Gorge. Der Staudamm soll in einem großräumigen Gebiet gebaut werden, das zum UNESCO-Weltnaturerbe gehört und dessen Erhalt auch durch deutsche Entwicklungsgelder gefördert wird. In einer öffentlichen Rede stellte der Präsident nicht nur die Kompetenz des für das Gutachten verantwortlichen lokalen Expert*innen infrage, sondern sah diesen auch durch internationale Interessen manipuliert. Den vornehmlich westlichen Bedenkenträger*innen wird in erster Linie vorgeworfen, sie seien am Naturschutz und der Fortsetzung der privatwirtschaftlich organisierten Stromversorgung interessiert, die dem Land viel zu hohe Kosten aufbürde und letztlich der Bevölkerung den Weg aus der Knechtschaft verwehre. Tansania macht seit Mitte der 1990er Jahre bittere Erfahrungen mit privatwirtschaftlich unabhängigen Energieversorgern, die sich unter dem Deckmantel, in Zeiten von Energiekrisen Lösungen anbieten zu können, Eintritt in die Energieproduktion des Landes verschafften. Sie wussten dabei, einer rabiaten Verwertungslogik folgend, fehlende Regulierung, intransparente Energieplanung sowie die Unerfahrenheit der tansanischen Verhandlungspartner*innen zu ihren Gunsten auszunutzen. Und noch heute ist nach bereits erfolgten Korrekturen der Energiepreis nach wie vor zu hoch. In einer öffentlichen Rede an der Universität Dar es Salaam Ende Oktober 2018 nannte der Präsident einen Preis von durchschnittlich elf US-Cents, die dem Staat pro Ankauf einer Energieeinheit abverlangt werden.
In öffentlichen Stellungnahmen wird darüber hinaus sichtbar, dass Autoritarismus zum Aufbau von Institutionen und zur Durchsetzung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung – zum Beispiel die Regulierung der «politischen Bildung» als staatliche Aufgabe – als notwendig erachtet wird. Bezug genommen wird dabei auf die Interessen privatwirtschaftlicher Unternehmen wie internationaler Geberorganisationen, die sich ganz unterschiedlich in die Politikgestaltung des Landes einzumischen wissen und so zur Entwicklung von Ambivalenzen, divergierenden Interessen und Positionierungen sowie zu Konflikten innerhalb der Regierung beitragen. Zudem wird das Ausmaß einer beschädigten Kommunikation zwischen Regierungspartei und Opposition offenbar. Entscheidungsträger*innen klagen die Opposition an, undifferenziert zu argumentieren, nicht zu einer Lösung beizutragen und die Öffentlichkeit falsch zu informieren.
Vordergründig lassen sich zwei Bewegungen ausmachen. Während der Generalsekretär der Regierungspartei zu Beginn seiner Amtszeit im Juni 2018 auf Basis der Arusha Declaration – dem Manifest des tansanischen Sozialismus und der Selbstbestimmung, das von 1967 bis Mitte der 1980er Jahre die Leitlinie der tansanischen Politik bildete – sowohl der Korruption innerhalb der Partei den Kampf ansagte als auch eine ideologische Neuausrichtung der Regierungspartei anstrebte, scheint das Erbe Nyereres nun mehr und mehr instrumentalisiert und widersprüchlich angewendet zu werden: Es wird gerade da zur Legitimation von Entscheidungen herangezogen, wo die Durchsetzung dieser Entscheidungen den Handlungsauftrag des Gründungsvaters der Nation aushöhlen oder gefährden könnte. So sah Nyerere beispielsweise eine bezahlbare, flächendeckende Energieversorgung als Voraussetzung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Bevölkerung an. Auch er nahm sich des Baus des Wasserkraftwerks Stieglers Gorge an, den er aus verschiedenen Gründen, unter anderem aus finanziellen, aber nie ausführte. In der politischen Entscheidung für den Bau des Megastaudamms im Rufiji-Flusssystem scheinen in erster Linie das historische Argument und die sozioökonomische Notwendigkeit vorherrschend zu sein. Eine Diskussion um ökonomische, soziale und ökologische Kosten auf der Grundlage wissenschaftlicher Erhebungen findet in der Öffentlichkeit nicht statt. Es bleibt nebulös, ob eine ausreichende geologische wie hydrologische Datenlage vorhanden ist, um ökonomische, ökologische und soziale Risiken, wie das Risiko eines Dammbruchs, zu verhindern.
In offiziellen Verlautbarungen hat sich eine auffällige Lobkultur über die positive Entwicklung des Landes entwickelt. Ob hochrangige Beamte, die nicht selten in ihrem früheren Leben Hochschuldozent*innen waren, Parlamentarier*innen der Regierungspartei, Mitglieder in Nichtregierungsorganisationen, mitunter auch in Freikirchen, oder Unternehmer, sie alle stimmen in den Chor ein; wo sich ein Anlass bietet, wird das Loblied auf den Präsidenten gesungen – häufig substanzlos und offenkundig dem eigenen Interesse dienend.
Das heißt nicht, dass die eigene Bewertung der Situation nicht ganz anders ausfallen kann. Wem gegenüber und in welchem Kontext die persönliche Einschätzung geäußert wird, ist eine andere Frage. Soziale Medien sind hier freier und bieten für den Austausch von Informationen und in gewissem Maße auch für deren Interpretation einen bestimmten Raum. Künstler*innen beziehen nach wie vor kritisch und mutig Stellung in den ihnen verbliebenen Räumen; in der Alltagssprache findet Widerstand in Form von neuen Wortschöpfungen oder Metaphern seinen Ausdruck.
Anhand von drei aktuellen Entwicklungen im Ringen um Definitionsmacht und Kontrolle möchte ich kurz Hintergründe und Antworten zivilgesellschaftlicher Organisationen, des Parlaments und der Justiz auf einschneidende Reglementierungen nachzeichnen. Dabei handelt es sich um
- die Verschärfung der Transparenzpflichten für zivilgesellschaftliche Organisationen im Zuge der Überarbeitung der NGO-Richtlinie aus dem Jahr 2001,
- den Entwurf der Novelle des Parteiengesetzes aus dem Jahr 2002 sowie
- die Einberufung des Rechnungshofpräsidenten (Controller und Auditor General, CAG) Professor Mussa Assad durch den Parlamentspräsidenten Rt. Hon. Job Ndugai vor den Disziplinarausschuss, das sogenannte Privileges, Ethics and Powers Committee, des tansanischen Parlaments.
Die Fragmentierung zivilgesellschaftlicher Organisationen
Im September 2018 forderte die Regierung zivilgesellschaftliche Organisationen auf, ihren Offenlegungspflichten umgehend nachzukommen. Diese Pflichten gehen weit über Tätigkeitsberichte, Finanzierungsvereinbarungen oder Rechenschaftslegung hinaus, denn für jede einzelne Maßnahme und jeden Veranstaltungsort muss eine Erlaubnis durch das Ministerium für regionale und lokale Verwaltung eingeholt werden. Es wird argumentiert, dass auf diese Weise eine bessere Steuerung in der Art und Verteilung der Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen erzielt werden solle. Zudem gehe es darum, das bislang bestehende Sammelsurium unterschiedlicher Registrierungsformen von NGOs unter einem Ministerium zusammenzuführen, um die damit verbundenen, jeweils unterschiedlichen Auflagen wie Berichts- und Steuerpflichten zu vereinheitlichen. Die Regierung kündigte an, einen entsprechenden Gesetzesentwurf zu erarbeiten und die NGO-Richtlinie zu überarbeiten. Insbesondere Registrierungsfragen werfen komplexe rechtliche Fragen auf.
Der öffentliche Diskurs zur Reglementierung zivilgesellschaftlicher Organisationen konzentrierte sich in erster Linie auf das Ansinnen des Staates, eine Praxis zu etablieren, um entgangene Steuereinnahmen einzunehmen sowie Bereicherungstaktiken beispielsweise von Briefkasten-NGOs das Handwerk zu legen. Als hinter der Maßnahme liegendes strategisches Ziel, so Stimmen in der öffentlichen Diskussion, richte sich der Wind gegen die NGOs, deren Arbeit als regierungskritisch eingestuft wird. Hier wird als weiteres Unbehagen formuliert, dass sich die Arbeitsweisen und Forderungen von NGOs zunehmend von den eigentlichen Belangen ihrer Zielgruppen entkoppeln.
Im Vorfeld der angekündigten Überarbeitung der NGO-Richtlinie beauftragte die Regierung den National Council of NGOs (NaConGO), dem nationale wie internationale NGOs angehören, einen Entwurf einer überarbeiteten Richtlinie vorzubereiten. NaConGO initiierte daraufhin einen breit angelegten Beteiligungsprozess, der unter anderem durch die schwedische Behörde zur internationalen Entwicklungsarbeit (SIDA) und die Europäische Union (EU) finanziert wurde. Obgleich NaConGO in der Kommunikation zwischen lokalen und internationalen NGOs sowie zwischen Regierung und NGOs eine wichtige Mittlerrolle einnimmt, führte die Debatte um die Durchsetzung der Transparenzpflichten und Steuernachforderungen sowie der angekündigten Regulierungspraxis zur Selbstbeschäftigung zivilgesellschaftlicher Organisationen. Die Möglichkeit, sich auf ein politisches Vorgehen zu einigen und ein strategisches, konzertiertes Vorgehen zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen zu organisieren, wurde vor dem Hintergrund bisweilen entgegengesetzter, vielfach durch die Agenden der von Geberorganisationen definierten Themen und Entwicklungsideologien wie durch die staatlich eingeforderte Rechenschaftslegung und die unklaren Registrierungsfragen geschwächt.
Angriffe auf die Verfassung – Entwurf der Novelle des Parteiengesetzes
Tansania führte 1992 das Mehrparteiensystem ein, nach dem alle fünf Jahre gewählt wird. Erstmalig veränderten die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2015 das Kräfteverhältnis zwischen Regierung (58%) und Opposition (42%), die Machtverhältnisse waren nicht mehr so eindeutig. Seitdem wurden der parlamentarischen Befassung, Positionen auszuhandeln und Parteien zu organisieren, zunehmend Grenzen gesetzt. Die Strategien zur Schwächung der Oppositionsparteien sind dabei sehr unterschiedlich: interne Spaltungen, Angriffe auf die unternehmerische Basis von Parteikadern, Gerichtsverfahren, Inhaftierung oder Abwerbung. Obgleich Übertritte aus der Regierungspartei in die Opposition und umgekehrt gerade im Vorfeld von Wahlen in Tansania keine Seltenheit waren, haben nun Übertritte aus der Opposition in die Regierungspartei neue Züge angenommen. Wo sie nicht aus Überzeugung geschehen, sind sie erzwungen. Dass die Mitgliedschaft in einer Partei in erster Linie mit Macht und Privilegien verknüpft und selten ideologisch begründet ist, spielt einer auf die Schwächung der Opposition abzielenden Strategie in die Hände.
Der Entwurf der Überarbeitung des Parteiengesetzes greift laut Analysen der Opposition nicht nur massiv in die Organisations- und Versammlungsrechte politischer Parteien ein, sondern untergräbt zudem die Verfassung, indem sie dem Parlament mehr gesetzgeberische Kompetenzen zur Regulierung politischer Parteien an die Hand gibt, als die Verfassung erlaubt. Die Opposition bemühte sich im Vorfeld der Parlamentsdebatte um eine differenzierte rechtliche Analyse des Entwurfs, in der positive Änderungen honoriert, Streichungen von Passagen mit vermeintlich verfassungsfeindlichen Bestrebungen empfohlen und Vorschläge für deren Umarbeitung unterbreitet wurden.
Im Parlament, im Plenum wie im zuständigen Fachausschuss, fand eine ausführliche Debatte zur Novellierung des Parteiengesetzes statt. Die Beratungen im Fachausschuss führten im Ergebnis zu einem engen Schulterschluss aller darin vertretenen Parteien. Jedoch erklärte der leitende juristische Berater der Regierung (Attorney General) die strittigen Passagen für verfassungskonform. Das entzog der Kritik der Mitglieder des Fachausschusses die Grundlage und sie folgten trotz des Einwands einzelner Parlamentarier der Entscheidung des höchsten Regierungsberaters in Verfassungsfragen.
Das Schweigen des Parlaments
Der Nationale Rechnungshof hat die Aufgabe, die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Sektors, dessen Rechenschaftslegung und Transparenz im Management öffentlicher Mittel zu verbessern. Der gegenwärtige Rechnungshofpräsident (CAG), Professor Assad, wurde 2014 durch den damaligen Präsidenten Kikwete berufen. Die Verfassung sieht eine fünfjährige Amtszeit mit der Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung vor. Im März 2018 legte der Rechnungshof seinen jährlichen Prüfungsbericht aus dem Haushaltsjahr 2016/17 vor, der unbelegte Ausgaben öffentlicher Mittel in Höhe zwischen 640 Millionen und einer Milliarde US-Dollar aufweisen soll. Stimmen aus Parlament und Presse zufolge betraute das Parlament den Rechnungshof mit einer Untersuchung dieser offenen Frage, deren Ergebnisse dem Parlament im Januar 2019 vorgelegt werden sollten. Etwa zeitgleich strahlte das UN-Radio Swahili Programm in den USA ein Interview mit dem Präsidenten des Rechnungshofs aus, in dem der CAG eine stärkere Kontrolle über die Umsetzung der Empfehlungen seiner Berichte durch das Parlament wünschte. Der Parlamentssprecher reagierte scharf und zitierte ihn vor den parlamentarischen Disziplinarausschuss. Die sich daran entzündende öffentliche Debatte kreiste vorwiegend um die Frage der Verfassungskonformität: Ist eine solche Einberufung rechtmäßig? Wie steht es um das Kräfteverhältnis zwischen einerseits dem Mandat und der Macht des Parlamentspräsidenten und andererseits dem Schutz, den die Verfassung dem Rechnungshofpräsidenten gewährt?
Im Verlauf der hitzigen Debatte sagte Professor Assad seine Kooperation zu, ohne allerdings sein Statement zurückzunehmen. Ihm war an der reibungslosen Zusammenarbeit zwischen Rechnungshof und Parlament gelegen. Die Presse kommentierte diese Entscheidung vorwiegend mit Aussagen von Abgeordneten der Regierungspartei, die sein Entgegenkommen begrüßten. Neben der Rückendeckung, die der Parlamentspräsident durch Abgeordnete aus der eigenen Partei erfuhr, gab es jedoch keine Befassung des Parlaments mit diesen Vorgängen, die der Öffentlichkeit zugänglich gewesen wären. Auch die weitere Verfahrensweise im Hinblick auf die Analyse der unbelegten Ausgaben bleibt spekulativ, angeblich soll der CAG mit einer weiteren Haushaltsprüfung beauftragt worden sein.
Formen und Grenzen des Widerspruchs
Beide Entwicklungen lösten öffentliche Debatten aus. Im Fall des CAG meldeten sich kritische Stimmen aus dem Obersten Gerichtshof, der Universität und der Institution zur Verteidigung der Menschenrechte (Human Rights Defender Coalition) zu Wort. Die Novelle des Parteiengesetzes wurde hingegen in der öffentlichen Debatte weit weniger differenziert begleitet. Die tansanische Anwaltskammer (Tanganyika Law Society) richtete eine öffentliche Debatte zum Entwurf der Novelle aus. Die Regierungspartei indes wies den Vorwurf zurück, das Vielparteiensystem zerschlagen zu wollen, und legte die Argumentation der Opposition als Schwäche der Oppositionsparteien aus.
In beiden Fällen gelang der Opposition bei der Organisation des Widerspruchs ein Schulterschluss, zehn Oppositionsparteien (ACT Wazalendo, CUF, Chadema, NLD, DP, CCK, NCCR-M, ADC, CHAUMMA, UFDP) reichten eine Verfassungsklage beim Obersten Gericht zum Entwurf der Parteiengesetznovelle ein. Das Gericht gab dem Antrag auf Eilverfahren statt, um im Falle einer Verfassungswidrigkeit die Anhörung des Entwurfs im Parlament unterbinden zu können. Dabei soll es die aufgeführten Rechtsverstöße überwiegend anerkannt haben, stellte aber das Verfahren wegen eines technischen Fehlers ein. Dennoch sollte aus Sicht der Opposition die symbolische Bedeutung des gerichtlichen Vorgehens nicht unterschätzt werden, denn es eröffnete einen Raum, in dem Argumente und Gegenargumente ausgetauscht werden konnten, Gehör fanden und einer Überprüfung unterzogen wurden. Eine juristische Prüfung des Gesetzesentwurfes wird zudem weiterhin angestrebt.
Anders verlief der Fall des CAG. Auch hier schlossen sich zunächst drei Oppositionsparteien (ACT, Chadema, CUF) zusammen, um eine Verfassungsbeschwerde einzureichen. Jedoch nahm das Gericht die Beschwerde anfänglich nicht offiziell an, erst im Anschluss an die erfolgte Aussprache zwischen CAG und Parlament wurde das Verfahren aufgenommen und der Parlamentssprecher zur Aussage einbestellt.
Inzwischen hat das Ringen um Definitions- und Entscheidungsmacht einen neuen Höhepunkt erreicht. Denn dem Schulterschluss, der den Oppositionsparteien nicht nur im Gerichtssaal, sondern – trotz aller ideologischen Fragen – nun auch in der Parteiorganisation gelungen ist, droht nunmehr das Aus. Ohne auf Einzelheiten eingehen zu wollen, findet mit dem Übertritt des ehemaligen Generalsekretärs der liberalen Partei CUF, die auf Sansibar eine breite Mitgliederbasis hat, zu der eher sozialistisch verorteten, kleinen Partei ACT eine Machtverschiebung zwischen den Oppositionsparteien statt. Ob die Ankündigung des Registrars für politische Parteien, ACT die dauerhafte Registrierung entziehen zu wollen, darin begründet liegt, bleibt spekulativ. Jedoch entbehren die in seinem Schreiben aufgeführten Verfehlungen jeglicher Grundlage für eine Deregistrierung. Der Partei bleiben noch wenige Tage, um zu den Vorwürfen schriftlich Stellung zu beziehen. Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens drängen sich unmittelbar zwei Fragen auf:
- Wie ist es um die Organisationsfähigkeit von politischen Parteien bestellt, ihre Mitgliederbasis zu vergrößern – und das jenseits der durch starke politische Figuren motivierten Übertritte von Parteimitgliedern aus anderen Parteien?
- Welche internen Mechanismen entwickeln Parteien, um, wie im Fall von ACT, ideologische Unterschiede und Interessen zu verhandeln und ihre politische Leitlinie weiterzuentwickeln?
Der Gründungsvater Tansanias, Mwalimu Nyerere, beschrieb als eine der wesentlichen Aufgaben der Parlamentarier*innen Tansanias, die Positionen der Einwohner*innen des Landes zu repräsentieren. Die öffentliche Debatte, so lässt sich schlussfolgern, findet ihren Weg in die Befassung des Parlaments und kann auch heute noch einen nicht unerheblichen Einfluss haben, doch sind ihr enge Grenzen gesetzt. Das zeigt sich in dem Misstrauensantrag, den der Disziplinarausschuss gegen Professor Assad stellte und der am 2. April 2019 vom Parlament angenommen wurde. Dies ist insofern überraschend, als der CAG eine Woche zuvor dem Präsidenten seinen jährlichen Prüfungsbericht aus dem Haushaltsjahr 2017/18 vorgelegt und dieser die weitere Zusammenarbeit zugesagt hatte. Er soll die Diskussion des Parlamentes gemäß der Verfassung binnen einer Woche angeordnet haben. Kritiker*innen aus der Opposition zufolge soll der Misstrauensantrag seinen Grund nicht im mangelnden Respekt gegenüber Parlament und Regierung haben, sondern in den unbelegten Ausgaben für das Haushaltsjahr 2016/17. Auch der Vorgänger Professor Assads, Ludovick Utouh, meldete sich zu Wort. Seiner Meinung nach verletzt der Misstrauensantrag Verfassung, Rechenschaftspflicht und Transparenz. Das Social-Media-Netzwerk/Bewegung Change Tanzania hat eine entsprechende, an den Präsidenten und den Parlamentssprecher gerichtete Online-Petition gestartet, die mit mehr als 15.000 Unterschriften dem Parlament zur Befassung vorgelegt wurde. Sie spricht sich für die Rücknahme des Misstrauensantrags aus. Nun liegt die Entscheidung in den Händen des tansanischen Präsidenten. Dabei gibt ihm die Verfassung klare Regeln vor.
Wir, die wir in diesem Kontext Außenseiter sind und bleiben und auf der Suche nach neuen Formen der Zusammenarbeit in einer solch krisenhaften Situation sind, sind aufgerufen, uns mit der «Gewordenheit» dieser Prozesse auseinanderzusetzen und uns an die individuellen wie institutionellen Entscheidungslogiken anzunähern. Hier kann die Theorie des «Implicated Subjects» einen Analyserahmen bieten. Ich habe diesen Rahmen in einem ersten Schritt genutzt, um meine Fragen an die gesellschaftlichen Diskurse zu strukturieren: Wer ist aktiv beteiligt, wer ist Nutznießer, wer ist implizit beteiligt? Die Theorie ruft uns aber darüber hinaus zur Beschäftigung mit der eigenen Verantwortung auf, auch da, wo wir zwar für vergangenes Unrecht nicht zur Verantwortung gezogen werden, uns diesem jedoch nicht entziehen können. Mit Blick auf die Kolonialgeschichte, auf entwicklungskonzeptionelle Fehlschläge, auf geopolitische wie kapital- und privatwirtschaftliche Eigeninteressen könnte eine solche Introspektion womöglich zu einer konstruktiven gegenseitigen Annäherung beitragen.