Publication Rassismus / Neonazismus - International / Transnational - Globale Solidarität - Autoritarismus Aufstieg des globalen Autoritarismus

19 Thesen zu Ursachen und Bestimmungsmomenten von Mario Candeias

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Studien

Author

Mario Candeias,

Published

July 2019

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Bolsonaro meeting Donald Trump, Washington DC, 19 March 2019 CC BY 2.0, Foto: Alan Santos/PR

Es ist die Zeit der Monster. In der organischen Krise des alten neoliberalen Projekts der Globalisierung erleben wir fast überall in Europa, aber auch in den USA, Lateinamerika, Asien und Afrika den Aufstieg einer autoritären und radikalen Rechten. Die Monster sind jedoch recht unterschiedlich: Da gibt es „starke Männer“ wie Trump, Kurz, Duterte oder auch Macron, politische Unternehmer*innen, die aus der Regierung heraus, einen neuen Autoritarismus prägen. Gemein ist ihnen allen ein Diskurs des Anti-Establishments von „oben“, gestützt auf mächtige Kapitalfraktionen. Davon abzugrenzen wären die autoritär-nationalistischen Regime in Polen oder Ungarn oder auch religiös-nationalistische wie in der Türkei oder Indien. Diese wiederum sind abzugrenzen von einer radikalen Rechten wie dem Front National in Frankreich, der PVV von Geerd Wilders oder der AfD in Deutschland, der – aus der Regierung agierenden – FPÖ in Österreich oder nun der Lega in Italien. Ganz anders wieder die Fünf-Sterne-Bewegung Italiens. Wieder anders die Militärregierungen in Thailand oder sich auf das Militär stützende Regierungen wie in Brasilien unter Bolsonaro. Die Liste der Beispiele wäre fortzusetzen. Die autoritäre und radikale Rechte ist vielfältig. Sonderfälle sind die großen Mächte China und Russland, die hier nicht behandelt werden können.

Nun, wie lässt sich der Aufstieg der radikalen Rechten begreifen? Dazu einige (Forschungs-)Thesen, die nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend aus Analysen zu den USA und Europa gespeist und nur vorsichtig und fragend auf andere Länder zu übertragen sind. (Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat dazu ein globales Post-doc-Programm aufgesetzt.)

1. Nichts gemeinsam?: Die Frage ist nicht, ob es einen globalen Autoritarismus gibt oder nicht. Der Gegenstand ist komplex und heterogen, hoch dynamisch und entzieht sich eindeutigen Erklärungen oder gar Definitionen. Dennoch wäre es unzureichend, nur von einem Nebeneinander ganz unzusammenhängender spezifischer Einzelfälle auszugehen. Sind die Ultra-Liberalen (Österreich), die Rassisten (Italien), die sozialen Nationalisten (Polen, teilw. Ungarn), die Hyper-Autoritären (Türkei), die für Ordnung sorgenden Militärs (Ägypten und Thailand), die demokratisch-ummantelte Militärregierung (Brasilien), die Regierung im Ausnahmezustand (Äthiopien ohne Opposition im Parlament, evtl. Frankreich?), die religiös-nationalistischen Regierungen (Indien) alles unterschiedliche Fälle, die sonst nichts gemein haben? Vielmehr wäre zu klären, was das jeweils Spezifische und was das Übergreifende ist, als Grundlage für vorsichtige Verallgemeinerung.

2. Warum jetzt?: Natürlich gab es immer schon Formen autoritärer Herrschaft (vgl. etwa Marx im 18. Brumaire), die auch von der Linken reich theoretisiert wurde. Autoritarismus ist kein neues Phänomen, es gab ihn immer. Zu fragen ist deshalb, welches die spezifischen Bedingungen sind, die ihm heute global soziale Bedeutung und historische Wirksamkeit verleihen. Warum konnte er gerade jetzt so bedeutsam werden?

3. Krise: Zentral ist dabei das Zusammenfallen von organischer Krise eines spezifischen globalen Vergesellschaftungsmodus (der sogenannten neoliberalen Globalisierung) und der Entstehung von Autoritarismen im Interregnum als spezifische Bearbeitungsformen der Krise und zur Rückgewinnung/Sicherung von Herrschaft. Zur Differenzierung stellt sich dabei die Frage nach der jeweiligen Stellung in den globalen Verwertungsstrukturen, nach den Entwicklungen von Kapital-Akkumulation bzw. den globalen Schwierigkeiten der Kapitalverwertung – die jeweilige Stellung einer Ökonomie (und ihrer Krise) gibt Hinweise auf spezifische Ursachen und Zusammenhänge bestimmter Formen des Autoritarismus in einem betreffenden Land bzw. auf einen Typus von Herrschaftsformen.

4. Vertane Chancen: Eine wichtige Ursache für den Aufstieg der autoritären und radikalen Rechten ist die Begrenzung sozialdemokratischer Projekte: a) post-neoliberaler Form, also der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, bei sehr begrenzter Demokratisierung, vor allem aber ohne Umbau der Basis von Produktion und Reproduktion (von Venezuela bis Brasilien), b) progressiv-neoliberaler Form, also der Gewährung von (begrenzten) Freiheitsrechten und emanzipatorischen Fortschritten ohne Eingriff in den rasanten Umbau der ökonomischen Struktur und ohne Umverteilung nach unten (Sozialdemokratie, Linksliberale und teilweise Christdemokratie im Norden). Die Enttäuschung über die Sozialdemokratie bzw. die postneoliberale Linke, aber auch die Wirkungslosigkeit und Erschöpfung radikaler Aufbrüche (diverse Befreiungsbewegungen) und verlorene Revolutionen (Nordafrika) führen vielerorts zur Abwendung mancher Teile der Subalternen hin zu den Rechten, noch häufiger jedoch zu einer klassenpolitischen asymmetrischen Demobilisierung und Wahlenthaltung (sofern Wahlen noch stattfinden).

5. Reorganisierung der Herrschaft: Hilfreich ist bei der Analyse, den Autoritarismus nicht einfach als Rückgewinnung oder Sicherung von Macht im Moment der Krise zu betrachten, sondern als Kampf um die Neuzusammensetzung und Führung des herrschenden Machtblocks. Daher auch Anti-Establishment-Diskurse gegen die etablierten bürgerlichen Eliten. Deshalb ist auch ein Autoritarismus, wie er etwa von den europäischen Institutionen vorangetrieben wurde, etwas anderes, als der (vermeintlich) anti-elitäre Autoritarismus der radikalen Rechten. Angesichts krisenhafter Entwicklungen, einer Veränderung der Klassenstruktur und der Krise der Repräsentation sind zahlreiche politische (Parteien-)Systeme im Umbruch. Die autoritäre und radikale Rechte profitiert dabei von einer zunächst links artikulierten Haltung des „sie repräsentieren uns nicht“. Zu untersuchen wäre: Wer sind jeweils die Träger, gesellschaftlichen Gruppen und Klassenfraktionen des neuen Autoritarismus (in den jeweiligen Ländern und transnational)?

6. Wer sind die Träger?: Mit Blick auf die Klassenbasis des neuen Autoritarismus ist die These der Bedeutung der „Zwischenklassen“ (Balibar) zu prüfen, der relativ auf- bzw. absteigenden Klassenfraktionen, die sich in ein solches Projekt einschreiben. Wenn es zutrifft, dass die radikal rechte und „rassistische Ideologie im Wesentlichen eine Ideologie der Zwischenklassen ist“, nicht nur im Sinne relativ ab- oder aufsteigender Klassensegmente, sondern in Verbindung mit „einer aktiven Negation der Klassensolidarität“ (Balibar/Wallerstein 1990, 263), wird auch die radikale Rechte (oder bspw. die AfD im Speziellen) als übergreifendes Klassenbündnis verständlich: von absteigenden Teilen der Lohnabhängigen, vom Abstieg bedrohter Teile des ins Kleinbürgertum gewechselter Facharbeiter*innen (die ihr Eigenheim und erreichtes Konsumniveau verteidigen), von aufsteigenden Leistungsindividualist*innen, durch Globalisierung unter Druck stehender mittelständischer Unternehmerfamilien, durch Umbrüche in der Produktionsweise etwa durch Digitalisierung oder durch die ökologische Krise bedrohte (fossilistische) Industrien, ja auch jener bürgerlichen Intellektuellen, die eine mangelnde Anerkennung und Marginialisierung ihrer Positionen erfahren haben (von Professor von Lucke bis zu Gauland) oder auch in demokratischen Gemeinwesen in ihrer Bedeutung geminderter Militärs und Mitglieder der repressiven Staatsapparate (Polizei und Verfassungsschutz). Bei den absteigenden Klassenfraktionen kann sogar von einem Übergang von der Verunsicherung hin zur manifesten bzw. drohender Deklassierung gesprochen werden. Um welche auf- oder absteigenden Zwischenklassen ginge es in Brasilien, Indien oder auf den Philippinen?

Was tun die Rechten und wie?

Gibt es einen gemeinsamen ideologischen Kern oder handelt es sich  nur um eine Methodik der Regierung? Mithin geht es mir hier nur um den Autoritarismus einer autoritären und radikalen Rechten – nicht um linke oder andere Autoritarismen, die anders strukturiert sind. Der Begriff des Faschismus (so etwa Walden Bello) ist sicher zu groß, voll entfaltete faschistische Regime sind wahrscheinlich noch nicht zu erkennen. Dennoch muss man seit einigen Jahren von zunehmenden Tendenzen der Faschisierung ausgehen. Elemente sind:

7. Populismus: Das strategische Aufgreifen und Verstärken einer jeweils spezifischen Kombination von antiliberalen, antimuslimischen (hier bei uns, andernorts gegen andere religiöse Minderheiten), antifeministischen, homophoben, anti-ökologischen und gegen weitere Minderheiten (der „umgekehrte Regenbogen“, wie es in Brasilien hieß) gerichteten – und auch explizit rassistischen – Positionen ermöglichten es der autoritären und radikalen Rechten entgegen ihrer Klassenzusammensetzung auch Missstimmung ‚von unten‘ in populare Zustimmung zu verwandeln (vgl. Hall 1982, 114). Generell geht es um gruppenbezogene Abwertung – bis hin zur (erst diskursiven und dann realen) Entrechtung.

8. Gegen „das Andere“: Es geht dabei immer um eine spezifische Verbindung von neuen Formen des KlassismusRassismusund des Machismus/Patriarchalismus, gegen das Andere, „Faule und Arme“, „die gefährlichen Klassen“, „Asylanten und Ausländer“, „Emanzen und Genderwahn“ etc. (Ausnahme Duterte mit seiner pro-LGBT-Haltung). Als ob die chauvinistische Rechte noch einmal bestätigen wollte, wie bedeutsam ein Verständnis von Class, Race and Gender ist.

9. Akkumuliert, akkumuliert: Mit Macht wird gegen alle oppositionellen und emanzipatorischen Kräfte vorgegangen, dabei immer gezielt gegen den „Kollektivismus“ und „Liberalismus“, also gegen kollektive wie individuelle soziale Rechte. Dies richtet sich insbesondere gegen Gewerkschaften und Arbeitsrechte zur Verschiebung der Kräfteverhältnisse von Kapital und Arbeit, sowie auch gegen gemeinschaftliche Landrechte, Commons, gegen das Öffentliche – zur Enteignung gesellschaftlicher Ressourcen. Minderheitenrechte, Frauenrechte, Gewerkschaftsrechte werden von der autoritären und radikalen Rechten als erste angegriffen. Der Angriff auf Gewerkschafts- und Arbeitsrechte ist dabei auch eine sich durchziehende polit-ökonomische Komponente der autoritären und radikalen Rechten, quer zu ihren sonstigen Differenzierungen (Ausnahme evtl. Polen). Insgesamt geht es um die Beseitigung von Hindernissen der Kapitalakkumulation in ihrer schärfsten Form (von Extreme Energy und verschärfter Ökonomie der Enteignung über Rieseninfrastrukturen bis hin zur klassischen Erhöhung der Ausbeutungsraten und Auspressung aller gesellschaftlichen und natürlichen Ressourcen).

10. „Wird man doch mal sagen dürfen“: Der Angriff richtet sich meist auch gegen eine vermeintliche linke, liberale „Elite“, „verkommene 68er“ etc. Eng damit verbunden ist der Kampf gegen „Political Correctness“ als Relativierung von Wahrheit. Dabei werden auch fake-news und Verschwörungstheorien eingesetzt, es gebe eben ganz viele Wahrheiten, deshalb sei der demokratische Anspruch des Ringens um die Wahrheit abzulehnen. Daher der Kampf gegen die Presse(freiheit), gegen die Aufklärung und Wissenschaft(sfreiheit) – aber auch gegen eine unabhängige Justiz, als Ausdruck einer kodifizierten Form von Wahrheitssätzen. Häufig ist dies verbunden mit einem groben Geschichtsrevisionismus (insbesondere in Osteuropa, aber auch Brasilien oder der Türkei). Ergebnis ist eine – mit gezielt inszenierten „Tabu-Brüchen“ – Erweiterung des Raumes des Sagbaren.

11. Vom Reden zur Gewalt: Die autoritäre und radikale Rechte hegt eine offene Gegnerschaft zu Parlamentarismus und Parteien, die demokratische Verfahren verunglimpft und das Parlament nur (voller Missachtung) als Bühne nutzt. Der Anspruch führt jedoch weiter, richtet sich gegen eine demokratische und solidarische Lebensweise auch im Alltag – denn die Erweiterung des Sagbaren führt unmittelbar zur Erweiterung des Raumes des Handels, von Hassäußerungen auf Social Media und im Alltag bis hin zu Gewalttaten (von ‚unten‘) und schließlich offener Repression (von ‚oben‘).

12. Das Arsenal der Monster: Die Anrufung einer jeweils spezifischen Kombination folgender Ideologeme konstituiert ihr jeweiliges politisches Projekt: Nationalismus, Volk (in der völkischen, weniger der popularen Form) und/oder Rasse, traditionelle Familie, Religion, traditionelle Formen der Identität, aber auch der Arbeit, Pflicht, Ordnung, negative Freiheit. Der neue Autoritarismus kann als Bemühen gelesen werden, “ein Bündnis von oben her mit Gruppen des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse herzustellen, ohne dass die bürgerliche Klasse Zugeständnisse machen müsste. Er funktioniert wie eine Art Kurzschluss zwischen Kräften der Bourgeoise und den Subalternen“ (Demirović 2018, 34). Dabei kommt es nicht zu einer Ablehnung, sondern zu ihrer reaktionären Umarbeitung – was Victor Orban ‚illiberale Demokratie’ nennt –, „eine plebiszitäre Strategie, die entlang rassistischer, nationalistischer, religiöser, sexistischer oder naturausbeuterischer Linien spaltet und mobilisiert, den bizarren Alltagsverstand reproduziert und die Subjekte neurotisiert“ (ebd.). Diese Arte der Mobilisierung ist mit einer Art imaginierter Ermächtigung der Subalternen verbunden. Sie operiert angesichts der verbreiteten Ohnmachtserfahrungen mit dem Versprechen einer Rückgewinnung der ‚Kontrolle‘ gegen und der ‚Sicherheit’ vor der äußeren und inneren Bedrohung. Sind die verschiedenen Elemente einmal in dieser Weise artikuliert und verknüpft, ist es ungleich schwieriger sie wieder zu lösen.

13. Oh Gott: Unterschätzt wurde vielfach die Rolle der politischen Religion: die Evangelikalen (USA/Brasilien), die islamischen oder Hindu-Fundamentalisten (Türkei/Indien), die Katholische Kirche (Polen). Die Wiederkehr des Verdrängten gilt es genauer in den Blick zu nehmen, um zu klären, welche unabgegoltenen Bedürfnisse und Sehnsüchte hier mobilisiert werden (vgl. LuXemburg 2/2014).

14. Diskursmächtig: Es gelingt der autoritären und radikalen Rechten dabei, Diskurse wirksam auf den Kopf zu stellen. So bringen sie mit Macht die soziale Frage zurück auf die politische Agenda, als exklusive Solidarität nur für Deutsche, Brasilianer, Hindus etc., greifen dabei aber gezielt Gewerkschaften (kollektive Rechte) und soziale/Arbeitsrechte an. Oder sie konstruieren einen umgekehrten, rechten Regenbogen: gegen lila, rosa, grün und bunt – als Widerstand gegen die „moralisierende Umerziehung“ durch die 68er, die ja real an viele der Machtpositionen in Politik, Erziehungswesen, Medien, Universitäten, NGOs gekommen waren. Sie zielen dabei auf Spaltung der Subalternen, restriktive Handlungsfähigkeit für einzelne Gruppen von Subalternen und ihre reaktionäre Selbstermächtigung (vgl. Candeias 2018). Hier droht der Übergang zu einer offen gewaltförmigen und faschistischen Kultur.

15. Hegemonie oder Diktatur: In den Punkten 3–6 oder 12 wurde bereits auf Momente der Differenzierung hingewiesen. Ein weiterer Punkt wäre folgende Frage: Zielt ein spezifisches Regime auf ein hegemoniales Projekt, welches (populistisch) auch auf den Konsens der Beherrschten setzt, oder auf eine brutale Diktatur einer Minderheit über die Mehrheit (inklusive Übergängen und Grauzonen)? Dies würde etwa erklären, ob z.B. gewisse soziale Konzessionen vorgenommen werden oder eine ultra-liberale Wirtschaftspolitik verfolgt wird, ob eine Modernisierung zur Schaffung von Möglichkeiten erweiterter Akkumulation (mit den fortgeschrittenen Kapitalfraktionen) angestrebt wird oder nur eine kleptokratische Umverteilung und Aneignung (mit den rückständigen oder rücksichtslosen Kapitalfraktionen). Dies gäbe auch Hinweise auf die wahrscheinliche Beständigkeit eines Regimes – ein gelingendes autoritäres Hegemonieprojekt wäre vielleicht weniger brutal als eine kleptokratische Gewaltherrschaft, aber auch wesentlich langlebiger, mit tiefgreifenderen strukturellen Umbauten verbunden.

16. Rebellische Aufbrüche: Die Halbwertszeit autoritärer Regime hängt natürlich auch ab von Widerstand und Neuformierung emanzipativer Projekte. Kurzfristig ist die autoritäre und radikale Rechte kaum zurückzudrängen. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die politischen Umwälzungen in Folge der großen Krise etwa um 2011 (schon deutlich früher in Lateinamerika) zunächst ein hoffnungsvoller Aufbruch aufseiten der Linken war, transnational. Doch jeder dieser Versuche stieß an die Mauern solider Institutionen der Herrschaft und/oder der Transnationalisierung von Kapital. Erstaunlich ist weniger die Niederlage zahlreicher Protestbewegungen und neuer linker Parteien gegenüber dem neuen Autoritarismus der Herrschenden als vielmehr, dass an unterschiedlichen Stellen die Dynamik neuer Mobilisierungen immer wieder aufbricht. In vielen Ländern formieren sich wieder starke Gegenbewegungen, teilweise auch transnational, oft deutlich radikalisiert.

17. Global gegen Austerität und Autoritarismus: Eine der sichtbarsten Gegenbewegung zur autoritären und radikalen Rechten, gegen Autoritarismus und Austerität ist eine im Entstehen begriffene neue feministische Internationale. Sie entwickelt sich transeuropäisch, quer durch Europa wenn auch in unterschiedlicher lokaler Ausprägung, international – insbesondere in den USA und Lateinamerika, Indien –, und sie hat ein hohes Potenzial für linke Organisierung (vgl. Wischnewski/Wolter 2019). So beteiligten sich etwa am Frauenstreik in Spanien 2018 mehr als sechs Millionen Menschen und dieses Jahr auch gezielt gegen die radikale Rechte. Auch in Polen gingen zur Verteidigung von Frauenrechten, wie das Recht auf Abtreibung, in den vergangenen Jahren Hunderttausende auf die Straße. In Indien streikten und protestierten gar 200 Millionen Frauen – der größte Streik aller Zeiten. Lasst uns viele solcher neuen Internationalen bilden. Die Erfahrungen zu teilen, die Sichtbarkeit zu erhöhen, Solidarität zu erfahren, ganz praktisch, stärkt insbesondere jene, die in den „shrinking spaces“ eines autoritär und gewaltförmig geprägten Alltages politisch arbeiten und überleben müssen.

18. An den Bedürfnissen ansetzen: Die Ansatzpunkte sind vielfältig, aber konkret, ob Mietenfrage, Frauenrechte, ökologische Frage oder gegen die Rechte, sie verbinden Massenmobilisierung mit alltäglicher Organisierung vor Ort und dem Aufbau solidarischer und politischer Strukturen. Das muss sichtbarer gemacht werden. Wir reden viel über die autoritäre und radikale Rechte, dies ist auch nötig, aber wir reden wenig über linke und emanzipative Potenziale. Lassen wir uns durch einseitige Perspektiven nicht selbst entmächtigen. Eine Geschichte ‘von unten’ kann dies verdeutlichen, Möglichkeiten zur Handlungsfähigkeit aufzeigen. Gegen rechts sind Slogans oder Bekenntnisse letztlich zu wenig, es braucht eine Praxis, die Schule macht.

19. Jetzt!: Wir stehen vor einer Entscheidungssituation: angesichts der Verdichtung von globaler Ungleichheit, ökologischer Krise, Migrationsbewegungen, globalem Autoritarismus und Faschisierung ist der „Mittelweg“ post-ideologischer Offenheit und links-liberaler Kritik nicht mehr gangbar. Kräfte, die sich für den Erhalt liberaler, bürgerlicher Freiheiten und minimaler Standards solidarischer Lebensweisen einsetzen wollen, müssen Partei ergreifen gegen Autoritarismus undNeoliberalismus, d.h. auch für einen radikaleren Kurs, nicht nur gegen rechts, sondern auch gegen die neoliberalen Politiken, die uns dorthin geführt haben. Jetzt ist der Moment der Entscheidung, in einer Phase in der noch unterschiedliche Möglichkeiten offen sind, sich aber bereits zu schließen beginnen.

Literatur

Balibar, Etienne/Wallerstein, Immanuel,1990: Klasse, Rasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg/Berlin.

Candeias, Mario, 2015: Gegenmittel gegen autoritären Neoliberalismus und Rechtspopulismus – Perspektiven einer verbindenden linken Partei, in: ders. (Hg.): Rechtspopulismus in Europa. Linke Gegenstrategien, Rosa-Luxemburg-Stiftung Materialien 12, Berlin, 55–73, www.rosalux.de/publikation/id/8340/rechtspopulismus-in-europa/

Ders. (Hg,), 2018: Rechtspopulismus, radikale Rechte, Faschisierung. Bestimmungsversuche, Erklärungsmuster und Gegenstrategien, Rosa-Luxemburg-Stiftung Materialien 24, Berlin, www.rosalux.de/publikation/id/39174/rechtspopulismus-radikale-rechte-faschisierung/

Demirović, Alex, 2018: Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie, in: PROKLA 190, 27–42

Garcia, Anna, 2019: Der Aufstieg Bolsonaros. Erfolgsbedingungen und Perspektiven der Rechtsregierung, in: LuXemburg Online, Mai, www.zeitschrift-luxemburg.de/brasilien-unter-bolsonarosoziale-basis-agenda-und-widerspruechliche-perspektiven/

Hall, Stuart, 1980: ›Rasse‹, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante, in: ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Hamburg, 89−136

Ders., 1982: Popular-demokratischer und autoritärer Populismus, in: Neue soziale Bewegungen und Marxismus, Argument-Sonderheft 78, Berlin, 104–124

LuXemburg 2/2014: Oh Gott, www.zeitschrift-luxemburg.de/oh-gott-luxemburg-22014-zu-politischer-religion/

Schaffar, Wolfram, 2019: »Wir sollten uns nichts vormachen! « Interview über autoritäre Entwicklungen, die Krise der Demokratie und den Zusammenhang von kritischer Analyse und politischer Veränderung, in: maldekstra, 2. Juli, www.rosalux.de/news/id/40622/wir-sollten-uns-nichts-vormachen/