Publication Soziale Bewegungen / Organisierung - Arbeit / Gewerkschaften - Mexiko / Mittelamerika / Kuba - Corona-Krise Maquila-Industrie als Gesundheitsrisiko in Zeiten von Covid-19

Arbeiterinnen in Ciudad Juárez wehren sich

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Published

August 2020

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Beschäftigte des US-Konzerns Regal protestieren in Mexiko
Beschäftigte des US-Konzerns Regal protestieren gegen die unzureichende Umsetzung der Corona-Präventionsmaßnahmen durch das Unternehmen. Auf ihren Plakaten steht: «Gerechtigkeit für die Beschäftigten von Regal», «Regal. Nicht ein Waise, nicht eine Witwe mehr!!!» «Regal verstößt gegen Kontingenzdekret». Foto: Favia Lucero/YoCiudadano

Die Corona-Krise hat Lateinamerika fest im Griff. Die Arbeiter*innen in der Maquila-Industrie im Norden Mexikos gehören dabei zu denen, die der Pandemie besonders ausgesetzt sind. Die Situation in den Betrieben offenbart grundlegende arbeitsrechtliche Mängel und vielschichtige Gewaltstrukturen – Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie gibt es kaum. Arbeiter*innen werden gezwungen, weiterhin in den Fabriken zu arbeiten, Löhne werden gekürzt und Kolleg*innen wurden entlassen, weil sie sich an Streiks beteiligt hatten. Die Anwältin, Arbeitsrechtlerin und Gründerin der Bewegung 20/32 Susana Prieto wurde vorübergehend verhaftet. Zwar ist sie wieder auf freiem Fuß, befindet sich allerdings nach wie vor in einer bedrohlichen Situation. Die Autorin Clara Meyra Segura hat mit der Anwältin sowie Mónica,[1] Fabrikarbeiterin beim Unternehmen Regal Beloit, und Favia Lucero, Journalistin und Fotografin des Onlineportals YoCiudadano,[2] zur aktuellen Lage in den Maquila-Betrieben gesprochen.
 

«Wir und nicht irgendein willkürlich gesetzter Termin der [mexikanischen] Regierung bestimmen die Rückkehr an den Arbeitsplatz», verkündete im Mai 2020 der Montagebetrieb Regal Beloit seinen Angestellten in Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua per WhatsApp-Sprachnachricht. Zu diesem Zeitpunkt stiegen die Fälle von Covid-19 in Mexiko exponentiell an. Das Personal hatte Angst, die Beschäftigung wiederaufzunehmen. Denn die Fabrik garantierte keine notwendigen Schutzmaßnahmen, um Ansteckungen zu verhindern.

Clara G. Meyra Segura ist Projektkoordinatorin im Auslandsbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko und engagiert sich darüber hinaus für Menschen- und Frauenrechte.

In Ciudad Juárez arbeitet mindestens ein Mitglied pro Haushalt in der sogenannten Maquila – das sind Montagebetriebe oftmals transnationaler Großkonzerne in zollfreien Produktionszonen, in denen Einzelteile und Halbfertigwaren für den Export weiterverarbeitet werden.[3] Durch die expandierende Manufakturindustrie nehmen seit mehr als sechs Jahrzehnten Gewalt, Migration, Vertreibungen und die per se schon hohen Zahlen der Feminizide und prekären Beschäftigungsverhältnisse stetig zu. Juárez, wie viele die Stadt einfach nennen, ist durch zahllose Schlagzeilen zum Sinnbild der allgegenwärtigen Gewalt geworden. In diesem Jahr bestimmen die Bedingungen für die Arbeiter*innen aufgrund von Covid-19 die Berichterstattung.

Die Maquila-Industrie siedelte sich in Ciudad Juárez und an anderen mexikanischen Standorten ab den 1960er Jahren an. Nachdem Ende der 1960er Jahre das Modell der Importsubstitution ausgedient und der Neoliberalismus in den 1980er Jahren Einzug gehalten hatte, gewann die Fertigungsindustrie für die internationale Arbeitsteilung immer mehr an Bedeutung. Die neu entstehenden Maquilas versprachen wirtschaftliche Entwicklung, mehr Wohlstand und bessere Arbeitsbedingungen.

Das Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsvertrags (NAFTA) im Januar 1994 sowie des Freihandelsabkommens zwischen Mexiko und der Europäischen Union im Oktober 2000 markierte einen Wendepunkt für die Maquila. Zwar wurden neue Arbeitsplätze im Bereich der Fertigungsindustrie geschaffen, jedoch wurden durch die Freihandelsabkommen auch viele nationale Arbeitsrechte ausgehöhlt bzw. außer Kraft gesetzt. Im Ergebnis garantieren die beiden Abkommen einerseits den mehrheitlich aus den USA, Kanada, Frankreich und Deutschland stammenden Unternehmen billige Arbeitskräfte und schützen die Investitionen des Auslandskapitals, andererseits führen sie dazu, dass zunehmend ausländische Montagebetriebe mexikanisches Territorium und die Arbeitsbedingungen für die Mexikaner*innen kontrollieren. Außerdem werden die internationalen Unternehmen durch Steuerbefreiungen, laxe Umweltstandards und niedrige Produktionskosten angelockt. Heute arbeiten circa eine Million Arbeiter*innen, mehrheitlich Frauen, im Maquila-Sektor.

Der Arbeitsvertrag bietet überhaupt keinen Schutz

Unternehmer*innen begründen die millionenschweren ausländischen Investitionen in die Maquila der Stadt Ciudad Juárez mit ihrer geografischen Lage, der Größe ihrer Fabrikhallen und den allgemein niedrigen Löhnen für Arbeiter*innen. Die Anwältin Susana Prieto weist jedoch darauf hin, dass «der Maquila-Sektor für die ausländischen Firmen attraktiv ist, weil die Regierungen ihn als eine gewerkschaftsfreie Zone anpreisen und darum die Unternehmensinteressen mehr Gewicht haben, als die Interessen der arbeitenden Klasse». Sie fügt hinzu: «Das Tal von Juárez war ein für die Landwirtschaft bestimmtes Gebiet. Dieses ist verschwunden, weil die urbane Zone das Land verschlungen hat. Folglich ist die Nahrungsmittelversorgung unsicher geworden und die Leute essen schlecht. In der Maquila zu arbeiten erhöht die Sterblichkeit […], beendet all deine Träume […]. Die Mehrheit der Arbeiter*innen hat mehr als einen Job. Der einzige Vorteil in der Maquila ist die Festanstellung. Doch dieser Vorteil […] führt zu schlechter Ernährung, Krankheit und im schlimmsten Fall zum Tod.»

Mónica, Arbeiterin bei Regal Beloit, einem US-Unternehmen, in dem Elektromotoren hergestellt werden, teilt dazu ihre Einschätzung mit: «Ciudad Juárez ist riesig. Die Menschen, die hier leben, kommen aus allen Ecken des Landes. Vor allem aus marginalisierten Orten der Bundesstaaten Veracruz, Oaxaca, Chiapas, Tabasco und Guerrero. Viele Leute können weder lesen noch schreiben, kennen ihre Rechte und die Gesetze nicht. Die Rechte dieser Menschen werden häufig verletzt. Es fällt ihnen schwer, sich zu Wort zu melden, auszudrücken, was sie fühlen. Sie beschweren sich nicht, sie fragen nicht. Wenn sie gesundheitliche Probleme haben, wird über ihren Kopf hinweg entschieden.[4] Du hast ja schon einen Vertrag. Auch wenn du ihn nicht verstanden hast, du hast ihn schon unterschrieben. Diese Verträge schützen das Unternehmen. Wenn sie jemanden entlassen, werden weder Entschädigung noch Abfindung gezahlt. Und wenn du dich verteidigen willst, merkst du, dass du einen Arbeitsvertrag unterschrieben hast, der dir überhaupt keinen Schutz bietet.[5] Ganz zu schweigen von einer Gewerkschaft, so etwas kennen viele hier nicht. Oder sie haben kein Vertrauen in Gewerkschaften, weil viele nicht die Interessen der Arbeiter*innen vertreten.»

Unter hohem Ansteckungsrisiko arbeiten oder hungrig zu Hause bleiben

Als das Coronavirus bereits pandemische Ausmaße erlangt hatte, kam es in der Autobezüge-Herstellungsfabrik Río Bravo des US-amerikanischen Unternehmens Lear Corporation zu einem alarmierenden Vorkommnis. Die Arbeiter*innen berichten übereinstimmend über einen einwöchigen Besuch von mindestens vier Beschäftigten des Autokonzerns Mercedes Benz aus Deutschland ab dem 11. März 2020. Laut Aussagen der Belegschaft wurden die vier Besucher*innen nicht aufgefordert, während ihrer Anwesenheit das Schutzprotokoll einzuhalten. Dabei war bekannt, dass in diesen Tagen die Zahl der Covid-19-Infizierungen in Europa bereits sehr hoch war.

Eine Woche später wiesen einige Arbeiter*innen erste Symptome von Covid-19 auf. Sie traten vor allem bei denjenigen auf, die in dem Bereich der Werkhalle arbeiten, in dem sich die Besucher*innen am meisten aufgehalten hatten. Das Unternehmen ignorierte die Meldungen derjenigen, die sich krank fühlten. Die Tage vergingen und immer mehr Arbeiter*innen zeigten Krankheitssymptome. Am 23. April waren bereits 13 Beschäftigte der Lear Corporation in Juárez gestorben.

Am 24. März 2020 verabschiedete die mexikanische Regierung ein Präsidialdekret, um die Pandemie einzudämmen. Explizit wurden rechtlich bindende Präventivmaßnahmen für die Unternehmen erlassen. Zudem wurden der öffentliche, soziale und private Sektor dazu aufgerufen, Aktivitäten, die Menschenansammlungen sowie Personentransporte oder das Pendeln zwischen Wohnsitz und Arbeitsplatz erforderten, zu unterlassen und ihre Tätigkeiten im Allgemeinen auf Notbetrieb herunterzufahren.[6] Die Maßnahmen mit vorläufiger Gültigkeit bis zum 19. April 2020 wurden jedoch von zahlreichen Maquila-Betrieben nicht befolgt.[7] Mónica erzählt von den unzulänglichen Schutzmaßnahmen bei Regal Beloit: «Erst Tage später wurden nur schwangere Frauen und Diabetiker*innen nach Hause geschickt. Wochen später folgten übergewichtige Personen. Am 14. April gab es noch keinen Mundschutz für uns, auch kein Desinfektionsgel. Es gab keine Seife, unsere Temperatur wurde erst recht nicht gemessen. Tage danach bekamen wir einen einfachen Mundschutz, der uns vor nichts schützte.» Als über diese Zustände in den sozialen Medien berichtet wurde, reagierte das Unternehmen mit der Bereitstellung von Desinfektionsmittel und einem weiteren Mundschutz pro Mitarbeiter*in.

Am 30. März kommunizierte die mexikanische Regierung verschärfte Vorsichtsmaßnahmen zur Eindämmung des Virus. Nicht systemrelevante Betriebe sollten ihre Beschäftigten vorläufig bis zum 30. April unter Fortzahlung der Löhne nach Hause schicken. Der sehr unterschiedliche und in den meisten Fällen völlig unzureichende Umgang mit der Bedrohungslage sprach sich schnell herum, da in Juárez in vielen Haushalten zwei oder drei Personen leben, die in unterschiedlichen Maquila-Betrieben arbeiten. Mónica berichtet, wie das Personal zu Beginn der Quarantäne sowohl in ihrer Fabrik als auch in anderen Unternehmen aufgrund der Covid-19-Pandemie gezwungen wurde, Zusatzverträge zu unterzeichnen. Diese Verträge schrieben noch prekärere Arbeitsbedingungen vor. «Wenn wir unsere Arbeit behalten wollten, lassen sie uns ein Dokument unterschreiben, das einen geringeren Lohnanteil sowie eine reduzierte Arbeitszeit vorsieht. Das heißt unter anderem weniger Lohnnebenleistungen. Es macht unsere wirtschaftliche Situation noch prekärer. In Regal [Beloit] werden Elektromotoren und Teile für Elektrohaushaltsgeräte gefertigt. Wir sind kein systemrelevanter Betrieb. Das Unternehmen setzte aber kein einziges Regierungsdekret um. Uns wurde gesagt, wir seien systemrelevant, doch wurde dies in keinem Dokument gerechtfertigt.[8] Darum gingen wir Arbeiter*innen am 15. April in den Streik. Am selben Tag erfuhren wir, dass der erste unserer Kolleg*innen an Covid-19 gestorben war. Das Unternehmen leugnete dies.»

Die Tageszeitung La Jornada berichtete am 17. April 2020: «Beschäftigte aus sechs [Maquilas in Ciudad Juárez] legten die Arbeit nieder, um die Schließung durch die Unternehmensleitungen zu fordern, da sich bereits mehrere Personen […] infiziert hatten und um ihre Gesundheit und ihr Leben fürchteten.»[9] Unter den bestreikten Unternehmen befanden sich Regal Beloit, TPI Composites, Norma Group, Electrocomponentes, Syncreon und Honeywell.

Mónica fasst die Forderungen der Beschäftigten bei Regal Beloit zusammen: «Das Unternehmen sollte das Präsidentendekret befolgen und uns mit 100-prozentiger Lohnfortzahlung sowie den Nebenleistungen in die entsprechende 30-tägige Quarantäne nach Hause schicken, weil wir kein systemrelevanter Betrieb sind. Die Unternehmensführung antwortete uns, wir sollten unsere Urlaubstage dafür einsetzen. Unsere Antwort war ein klares Nein.»

Am Ende des ersten Streiktages teilte das Unternehmen den Streikenden mit, sie sollten zwei Ruhetage einlegen. Sie kündigten eine gründliche Reinigung der Fabrik an. Mónica berichtet, dass die Leitung von Regal Beloit dem Vertrauenspersonal[10] befahl, die Reinigung durchzuführen.

Wenige Tage später waren bereits vier Beschäftigte an den Folgen von Covid-19 gestorben. Das Unternehmen forderte die Arbeiter*innen in einer Mitteilung auf, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um Ansteckungen sowohl innerhalb des Betriebsgebäudes als auch auf dem Nachhauseweg zu vermeiden. Mónica zufolge gab es jedoch vom Unternehmen zu keinem Zeitpunkt Bemühungen, um Präventionsmaßnahmen bei den Arbeitsaktivitäten in der Fabrik zu garantieren. Die zur Verfügung gestellten Mittel waren unzureichend. Die Arbeiter*innen mussten ihre eigenen Schutzausrüstungen kaufen. Die Empörung wuchs. Doch das Unternehmen wusste sich durchzusetzen: Durch eine Bonuszahlung von 500 Pesos (das entspricht weniger als 20 Euro) konnte sie viele Angestellte zum Streickbrechen animieren. Diejenigen, die weiter streikten, wurden teilweise ohne Entschädigung gekündigt, andere haben gekündigt. 30 von ihnen haben inzwischen Anklage gegen Regal Beloit erhoben, um vom Unternehmen fehlende Lohnzahlungen einzufordern.

Das Krisenmanagement der Regierung: zum Wohle der Wirtschaft

Am 29. April kritisierte Chihuahuas Gesundheitsministerium, dass sich 57 nicht systemrelevante Unternehmen im Bundesstaat geweigert hätten zu schließen, und appellierte an sie, die staatlich angeordnete Quarantäne (die inzwischen bis zum 30. Mai verlängert worden war) umzusetzen. Zudem informierte das Ministerium darüber, dass bis zu diesem Zeitpunkt 17 Covid-19-Tote und 26 Ansteckungen unter den Beschäftigten der Maquila-Industrie in Ciudad Juárez bestätigt waren.[11] Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Dunkelziffer weit höher lag. Mónica erzählt, dass es in den Fabriken Informationen über sehr viel mehr Infektionen und Sterbefälle gebe, als das Gesundheitsministerium in seinen sehr niedrigen Fallschätzungen verlautbarte.

Nur wenige Wochen später beorderte die Lear Corporation inmitten der Pandemie ihre Beschäftigten zurück in die Fabrik Río Bravo. Das Unternehmen rechtfertigte die Wiederaufnahme des Betriebs mit einem neu erlassenen Dekret der mexikanischen Regierung vom 18. Mai, das «die Aktivitäten der Bauindustrie, des Bergbaus und der mit der Transportausrüstung verbundenen Industrie» für systemrelevant erklärte.[12]

Die Entscheidung der Regierung Andrés Manuel López Obrador, im Mai neue systemrelevante Aktivitäten zu definieren, fiel nach einer Aufforderung von Bill Long, dem Vorsitzenden der US-amerikanische Motor & Equipment Manufacturers Association (MEMA) an den Außenminister der USA, Mike Pompeo. Darin verlangte er, Leitlinien für die Systemrelevanz der Autoindustrie «anzuregen», damit die entsprechenden Unternehmen ihren Betrieb in den mexikanischen Montagebetrieben sogar noch vor der Öffnung der Produktion des Industriezweigs im nördlichen Nachbarland aufnehmen könnten.[13] In Ciudad Juárez sind etwa 80 Prozent der Maquila-Betriebe in US-amerikanischem Besitz.

Nachdem der Betrieb im Mai wiederaufgenommen wurde, breitete sich die Krankheit unter den Arbeiter*innen der Lear Corporation aus. Ende Mai informierte die Anwältin Susana Prieto öffentlich, sie habe Kenntnis von 30 Todesfällen bei Lear Corporation in Juárez. Sie erinnert daran, dass das Unternehmen zwar einige Tage schloss, aber nicht aufgrund des präsidentiellen Dekrets oder der Zahl neuer Ansteckungen, sondern aufgrund fehlender aus den USA kommender Zulieferungen.