Publication Arbeit / Gewerkschaften - Westasien - Türkei - GK Gewerkschaften Anhaltende Krise(n)

Zu Arbeitsbedingungen und Chancen der türkischen Gewerkschaftsbewegung

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Mark Kerman,

Published

December 2020

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Gewerkschafter*innen des DİSK Verbands werden bei einer Demonstration zum Internationalen Tag der Arbeiterbewegung 2014 in İstanbul von der Polizei umringt
Gewerkschafter*innen des DİSK Verbands werden bei einer Demonstration zum Internationalen Tag der Arbeiterbewegung 2014 in İstanbul von der Polizei umringt. CC BY 2.0, Sasha Maksymenko, via Flickr

In der aktuellen Krise sind Arbeiter*innen in der Türkei besonderem Druck durch Staat und Kapital ausgesetzt. Die Voraussetzungen für Gewerkschaften zeigen, dass die Krise zuvor bestehende strukturelle Probleme noch stärker zu Tage fördert. Während sich Gewerkschaften auch stark für politische Forderungen engagieren, zeigt der Erfolg internationaler Solidarität in der Unterstützung von Arbeitskämpfen, dass diese gerade jetzt besonders wichtig ist.
 

Der Lange Weg der Arbeiterbewegung

Die Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung in der heutigen Türkei geht bis in das Osmanische Reich zurück. Nach der Republikgründung 1923 bis zur Einführung erster Gewerkschaftsrechte nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kaum nennenswerte, unabhängige Gewerkschaften und Arbeitervertretungen. In den 1950ern entstanden erste Gewerkschaften, die sich zum arbeitgeberfreundlichen Verband Türk-İş (Türkiye İşçi Sendikaları Konfederasyonu, Verband der Türkischen Gewerkschaften) zusammenschlossen. Nach dem Militärputsch 1960 und einer neuen Verfassungsordnung kam es zu einer rasanten Explosion und Radikalisierung von Gewerkschaften und Arbeiterparteien, besonders durch die Konföderation der Revolutionären Gewerkschaften (Türkiye Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu, DİSK). In Reaktion auf wachsende Arbeiterbewegungen verstärkten sich in den 1970er Jahren staatliche Repression und politische Gewalt durch nationalistische und faschistische Kräfte. In dieser Situation putschte 1980 das Militär mit der Duldung des Auslands. Die Folgen waren für die Arbeiterbewegung verheerend. Linke Parteien und Gewerkschaften wie die DİSK wurden komplett aufgelöst, Arbeiter*innen politisch verfolgt, gefoltert und ermordet, oder mussten ins Exil fliehen.

Mark Kerman studiert nach einem Abschluss in Politikwissenschaften und Geschichte. Neben der politischen Geschichte der Türkei befasst er sich vor allem mit Dekolonisierung und europäischer Kultur- und Ideologiegeschichte.

Die nach dem Putsch eingeführte neue Verfassung verkörperte vieles, wogegen die Arbeiterbewegung jahrelang gekämpft hatte. Verbote politischer Organisationen blieben bestehen und durch die Einführung der Tarifeinheit wurde die Türk-İş gegenüber kleineren, linken Gewerkschaften gestärkt. Bis in die 1990er folgten weitreichende Deregulierungsmaßnahmen von Devisen- und Arbeitsmarkt gegen die sich massiver Widerstand in der Arbeiterklasse regte. Zusammen mit der Forderung von Beamten nach gewerkschaftlicher Vertretung kam es Mitte der 1990er zum bisher letzten Mal zu landesweiten Massenmobilisierungen und Streiks, die das Lohnniveau und Sozialleistungen zeitweise verteidigen konnten.

Die wichtigsten Verbände im Überblick

Die Folgen des Militärputsches 1980 prägen auch heute noch entscheidend die Dynamik und Voraussetzungen der Gewerkschaftsbewegung – politisch extrem gespaltene Verbände, weitreichende Tarifeinheit und hohe Hürden für gewerkschaftliche Arbeit. Seit den 1990ern ist die gewerkschaftliche Vertretung in der Türkei in Arbeiter und Beamte geteilt, die nach separaten Rechtsnormen und mit eingeschränktem Streikrecht organisiert sind. Der größte Gewerkschaftsverband für Arbeiter*innen ist Türk-İş mit knapp über einer Millionen Mitgliedern. Der Verband versteht sich als politisch neutral und hält in vielen Sektoren eine Schlüsselrolle. DİSK, die sich als Alternative zum Konformismus der Türk-İş versteht, konnte sich von der Zerschlagung und Illegalität nach 1980 zahlenmäßig nicht erholen und ist mit etwa 185.000 Mitgliedern nur der drittgrößte Verband. Dazwischen liegt die islamisch geprägte Hak-İş, die erst seit Ende der 90er Jahre stetig an Bedeutung gewonnen hat mit ca. 666.000 Mitgliedern. Der Verband bildet die Plattform für weite Teile der AKP Basis in der Arbeiterschaft, pflegt engen Kontakt zu Regierung und Staatspräsident Erdoğan und folgt dessen Rhetorik gegen vermeintliche innen- und außenpolitische Feinde.

Ähnlich der politisch stark gespaltenen Gewerkschaftsbewegung ist auch die Vertretung der Beamten entlang politischer Lager aufgeteilt. Hier dominiert zahlenmäßig die AKP-nahe Beamtengewerkschaftskonföderation (Memur Sendikaları Konfederasyonu, Memur Sen) vor der rechtsnationalen Konföderation der Öffentlichen Angestelltengewerkschaften (Türkiye Kamu Çalışanları Sendikaları Konfederasyonu, Kamu Sen). Sie entsprechen politisch der aktuellen Regierungskoalition aus AKP und MHP. Die linksorientierte Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter*innen (Kamu Emekçileri Sendikaları Konfederasyonu, KESK) ist als Resultat der Säuberungswellen nach dem Putschversuch 2016 wesentlich kleiner; waren die drei Verbände 2010 noch ähnlich groß so hat KESK in zehn Jahren ca. 80.000 Mitglieder verloren, während die regierungstreuen Verbände um das Anderthalbfache gewachsen sind. Für den gewerkschaftlichen und politischen Kampf im Sinne der Arbeiterklasse sind Memur Sen und Kamu Sen quasi bedeutungslos, während KESK trotz Repression kontinuierlich auf Missstände hinweist.

Rechtliche Hürden und Sinkende Mitgliedszahlen

Die Rahmenbedingungen für gewerkschaftliche Arbeit sind in der Türkei von rechtlichen Hürden geprägt und vielfach Gegenstand der Kritik durch internationale Organisationen wie die World Federation of Trade Unions (WFTU). Es herrscht weitreichende Tarifeinheit, die in industriellen Sektoren wie der Metallverarbeitung dominierenden Gewerkschaften wie Türk Metal und damit dem konformistischen Verband Türk-İş viel Verhandlungsmacht gewährt. Das eingeschränkte Streikrecht für Beamte zusammen mit der Dominanz linientreuer Verbände sorgt im Beamtenwesen dafür, dass die Tätigkeiten der KESK Mitgliedsgewerkschaften vor allem in der politischen Opposition und weniger im Arbeitskampf liegen. Organisieren dürfen sich ausschließlich regulär beschäftigte Mitarbeiter*innen. Da in der Türkei Millionen von Menschen im informellen Sektor arbeiten und ohne gültigen Arbeitsvertrag und/oder Versicherung beschäftigt sind, bleiben circa 15 Prozent der Arbeiterschaft von gewerkschaftlicher Vertretung rechtlich ausgeschlossen. Auch die Hürden zum Eintritt in eine Gewerkschaft sind bewusst hoch angelegt. Bis zu einer Gesetzesreform 2012 musste ein Eintritt in eine Gewerkschaft notariell beglaubigt werden. Doch auch die Nachfolgeregelung führt zur Diskriminierung organisierter Arbeiter*innen. Eine Mitgliedschaft muss jetzt im Online Portal der Regierung (e-devlet) angezeigt werden und ist bei der Übermittelung persönlicher Daten einsehbar. Damit können zukünftige Arbeitgeber*innen schon im Einstellungsprozess gewerkschaftlich organisierte Kandidat*innen ausschließen.

Diese Hürden werden von Unternehmen häufig dafür genutzt, gewerkschaftliche Organisationen am Arbeitsplatz mit allen Mitteln zu verhindern (sogenanntes Union Busting). Zwei langjährige Fälle in der Lebensmittel und Textilindustrie zeigen, wie Bosse dabei vorgehen. Beim Textil-Zulieferer SF Trade in İzmir wurden 2015 14 Mitarbeiter*innen für ihre gewerkschaftliche Arbeit gefeuert. Ein erneuter Anlauf zur Gewerkschaftsbildung führt Anfang 2020 unter dem Vorwand der Einschränkung der Wettbewerbsfähigkeit zur Entlassung von vier Frauen im Betrieb. 2018 feuerte der US-Amerikanischen Lebensmittelkonzern Cargill in Bursa 14 Gewerkschaftsmitglieder. Neben Entlassungswellen nutzen Unternehmer*innen auch andere rechtliche Hürden und bedrohen Gewerkschaftsmitglieder. Mit niedrigen Raten der gewerkschaftlichen Organisation in Sektoren wie Textil- und Lebensmittelproduktion ist es für Firmen oft möglich, Gewerkschaften einzuschränken, oder deren Bildung im Betrieb von vornherein zu verhindern.

Unter diesen Umständen haben Gewerkschaften in der Türkei seit den großen Streikwellen der 90er Jahre massiv Mitglieder und Handlungsfähigkeit eingebüßt. Lag die Gewerkschaftsrate in der Arbeiterschaft 2003 bei 57,5 Prozent, waren es 2014 noch 4,5 Prozent, der schlechteste Wert unter den OECD Staaten. An diesem historischen Tiefpunkt in der Gewerkschaftsorganisation waren mehr Arbeiter*innen durch Tarifverträge geschützt als es Gewerkschaftsmitglieder im Land gab. Auch wenn sich die Zahlen in den vergangenen Jahren wieder etwas von 4,5 auf 9 Prozent erholt haben bedeutet dies nicht unbedingt schlagkräftigere Gewerkschaften und verstärkter Arbeitskampf. Der Großteil der Neumitglieder stammt aus Subunternehmen öffentlicher Stellen und geht auf das Konto regierungstreuer Verbände.