Lateinamerika gilt als der Kontinent mit der größten sozialen Ungleichheit. Für unsere transnationale Solidarität geben uns die Dynamiken Lateinamerikas und unserer Partnerorganisationen wichtige Impulse. Die Energiewende in Europa lässt den Boom von Kupfer, Lithium und Kobalt zu einem neuen, grünen Extraktivismus in Argentinien, Bolivien und Chile werden und verschärft neokoloniale Abhängigkeiten. Soziale Bewegungen kämpfen nicht nur gegen die Ausweitung der Rohstoffausbeutung, sondern auch gegen einen grün-technologischen Diskurs und haben Allianzen wie den ökosozialen Pakt des Süden gegründet.
In Südamerika – Bolivien, Ecuador, Chile u.a. – inspirieren neue Verfassungsentwürfe breite Diskussionsprozesse, auch für eine demokratische, solidarische und ökologische Zukunft Europas, auch wenn der Verfassungsentwurf in Chile im Referendum nicht angenommen wurde. Und schließlich will die EU in 2023 neue Freihandelsverträge mit Mexiko, Chile und dem Mercosur abschliessen.
Was heißt das für unsere Praxis der transnationalen Solidarität? Welche emanzipatorischen, nicht-kolonialistischen Gegenvorstellungen gibt es zur Freihandels- und Investitionsschutzlogik in Lateinamerika und was heißt das für europäische Handels- und Aussenwirtschaftspolitik? Und welche Handlungsanleitungen ergeben sich für die politische Praxis, speziell den sozialökologischen Umbau unserer eigenen Gesellschaften?
Diese Fragen diskutierten knapp 30 Personen einen ganzen Tag auf der Lateinamerika-Tagung in Wuppertal, die organisiert wurde vom Informationsbüro Nicaragua in Kooperation mit Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW, Attac und PowerShift (Tagungsprogramm).
Zur Vertiefung dokumentieren wir hier die verschriftlichten Beiträge zur Eröffnung durch das Informationsbüro Nicaragua (Internationalistische Solidarität: Erfahrungen und Herausforderungen), von Torge Löding (Rosa Luxemburg Stiftung, Büro Buenos Aires) zu den wichtigsten widerständigen Bewegungen in Südamerika und von Miriam Lang (Universität Quito, Ecuador) zum Extraktivismus in Südamerika, dem ökosozialen und interkulturellen Pakt der Völker des Südens und zum „Manifest Für eine ökosoziale Energiewende“ (Textmanuskripte hier). Die im Plenum gezeigten Folien (insbesondere Miriam Lang und Bettina Müller, Powershift) sind hier dokumentiert.
Schwerpunkte in der gemeinsamen Debatte, aus denen der größte bzw. aktuellste Handlungsbedarf resultierte:
- die bis Jahresende zum Abschluß vorgesehenen EU-Freihandelsverträge mit Mexiko, Chile und Mercosur. Was bedeuten diese Handelsabkommen für die lateinamerikanischen Länder? Ist es realistisch, Klima, Umwelt und Menschenrechte mit einem solchen Abkommen schützen zu wollen? Wie stehen zivilgesellschaftliche Organisationen beiderseits des Atlantiks zu den Abkommen und welche Möglichkeiten gibt es, auf das Abstimmungsverfahren noch Einfluss zu nehmen? Und gibt es überhaupt eine gute Alternative zur Liberalisierung des Handels mit Lateinamerika, oder kann nur so Wohlstand und Entwicklung erreicht werden? All diese Themen, Auswirkungen, Forderungen und Handlungsstrategien wurden von Bettina Müller (Powershift) vorgestellt und auf der Tagung diskutiert.
- Strategien zur Verhinderung eines „grünen Energiekolonialismus“ angesichts der Bemühungen von EU, Bundesregierung und Energiekonzernen, Windkraft und Solarenergie aus Ländern des globalen Südens für ihre „Wasserstoffstrategie“ zu nutzen und den hemmungslosen Abbau kritischer Mineralien voranzutreiben. Beim Import von seltenen Rohstoffen aus dem globalen Süden, für Hightech-Batterien, wie Lithium und Kobalt, Land für gigantische Solar- und Windkraftanlagen und eine neue Infrastruktur für Wasserstoff-Megaprojekte wird die Abhängigkeit und die Verschuldung der Länder des Südens verstärkt und es droht ein „grüner Energiekolonialismus“, besonders in Afrika und Lateinamerika. Globale Klimagerechtigkeit und eine weltweite sozial-ökologische Transformation kann es aber nur geben, wenn Abhängigkeiten abgeschafft werden und Länder des globalen Südens eine eigene tragfähige nachhaltige Ökonomie aufbauen können. Energiewirtschaft ist Teil davon. Erst wenn Energie- und Ressourcenbedarf im eigenen Land gesichert ist, darf ressourcenschonender und klimaverträglicher Export möglich sein. Das gilt für Windkraft, Solarenergie und daraus hergestellten Wasserstoff genauso wie für Rohstoffe zur Speicherung erneuerbarer Energie. Hier die Ergebnisse der von Achim Heier (Attac Deutschland / Projektgruppe Energie) moderierten Arbeitsgruppe.
- das Potential der neuen Verfassungsentwürfe in Südamerika, besonders Chile, wie die Natur als Rechtssubjekt, das „Gute Leben“ als nachhaltiges Wirtschaftsprinzip und den plurinationalen Staat als Recht auf autonome kulturelle Organisierung, Aufwertung der Care-Arbeit für eine demokratische, solidarische und ökologische Zukunft und für die notwendige sozial-ökologische Transformation in Europa. Der Beitrag von Sophia Boddenberg (Journalistin, Chile) samt Diskussionsergebnissen ist hier zusammengefasst.
Der Bericht wurde zuerst veröffentlicht auf der Webseite des Informationsbüros Nicaragua.