Die politische und mediale Debatte über den chinesischen «Aufstieg» steht im Mittelpunkt der gegenwärtigen Aufmerksamkeit, gekennzeichnet durch eine Vielzahl von kontroversen Ansichten und Interpretationen. In einer Zeit, in der die Diskussion oft schrill, polarisierend und alarmistisch geführt wird, werden nachdenkliche Stimmen, die ein tiefes Verständnis anstreben und Grautöne berücksichtigen, oft an den Rand gedrängt. Gleichzeitig erfreuen sich vereinfachte «China-Kritik» und die Darstellung schwarz-weißer Bedrohungsszenarien großer medialer Aufmerksamkeit und politischen Nutzens.
Doch so vielfältig die unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven, ideologischen Ansätze und intellektuellen Prädispositionen auch sind, der blinde Fleck vor allem in der medialen und politischen, aber oft auch in der wissenschaftlichen China-Debatte ist der westliche Beobachter selbst, seine Erkenntnisinteressen, Selbstwahrnehmungen, die eigene kulturell geprägte Weltsicht und seine Präferenzen. Zumindest darin sind sich die Chinabeobachter*innen einig. Die unglaublich rasante wirtschaftliche Entwicklung der Volksrepublik China in den letzten 40 Jahren und der Sprung von einer bitterarmen zu einer bald hohen Einkommensgesellschaft in nur einer Generation sind welthistorisch einzigartig.
Chinas einzigartiger Entwicklungspfad stellt herkömmliche Modernisierungsmodelle und westliche Entwicklungsstandards in Frage.
Die China-Debatte kann schließlich nicht von den ideologischen Auseinandersetzungen, sozialökonomischen Widersprüchen und politisch motivierten Interpretationen im innerwestlichen Diskurs losgelöst betrachtet werden. Denn Chinas «Aufstieg» ist eine unbestrittene Tatsache, und dies allein stellt bereits eine Interpretationsherausforderung dar, mit der vor allem der Neoliberalismus aber auch Linke oft schwer umgehen können und entsprechend die Debatte mit kognitiven und konzeptionellen Vorannahmen in der einen oder anderen Weise rahmen.
Der eingangs erwähnte «blinde Fleck» beschreibt die häufige Unfähigkeit in der China-Debatte, einen Bezug auf die (Post)Kolonialität des herrschenden Wissens und einer Verortung der eigenen Position darin selbst zu reflektieren. Was es braucht ist, «einen Blick auf den Zusammenhang zwischen Beobachteten und Beobachtenden zu ermöglichen, zwischen den Produkten und der Produktion, zwischen dem Wissen und dem Ort seiner Entstehung».
Die Reihe LinkerChinaDiskurs hat zum Ziel, Raum für diejenigen Stimmen zu schaffen, die aus China Perspektiven vorstellen, die im westlichen Kontext wenig erforscht sind. Diese Serie stellt daher einen Ansatz dar, der Brücken für gegenseitiges Verständnis schlägt und eine genauere und umfassendere Analyse Chinas, seines bisherigen Weges und dessen, was wir daraus lernen können, ermöglicht.
Meng Jie / Jan Turowski (Hrsg.)
Immer noch tastend den Fluss überqueren
Chinas marktsozialistisches Modell verstehen
LinkerChinaDiskurs 2
Eine Publikation des Beijing-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung
264 Seiten | 2023 | EUR 16.80 | ISBN 978-3-96488-118-2
Gemeinsam herausgegeben von dem VSA:Verlag und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die Herausgeber
Meng Jie ist Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und stellvertretender Direktor des Instituts für Marxismus der Fudan Universität. Er ist Vizepräsident der Forschungsgesellschaft zu «Marx’ Kapital» in China, Chefredakteur der «Zeitschrift für politische Ökonomie» und Redaktionsmitglied von «Research in Political Economy». Zu seinen Forschungsgebieten gehören die Grundsätze der politischen Ökonomie, die moderne kapitalistische Wirtschaft und die chinesische politische Ökonomie.
Jan Turowski ist Leiter des Beijing-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Von 2012 bis 2019 war er Professor für Politikwissenschaft an der «Southeast University» in Nanjing.