Keine Partizipation ohne diskursive Subversion – Zur Einführung
«Zwischen Skandalisieren und Verschweigen. Reichtum und Armut im öffentlichen Diskurs war der Titel einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die am 20. April 2013 in Berlin stattfand und deren Vorträge und Materialien wir in diesem Bändchen veröffentlichen. Auf der Tagung stellten zunächst Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz ausgewählte Ergebnisse ihrer für die Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellten Studie über die journalistische Meinungsbildung zu Armut und Reichtum vor. Die Studie «Portionierte Armut, Blackbox Reichtum. Die Angst des Journalismus vor der sozialen Kluft» untersucht die Kommentierung dieses Themas durch den Tagesspiegel, die Berliner Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Spiegel und die Zeit. Auszüge aus dem Resümee der Studie, ein Beitrag der beiden Autoren mit ergänzenden Materialien und Befunden sowie die schriftlichen Fassungen
der Vorträge von Ulrike Herrmann und Sebastian Bödeker auf der Tagung werden hier dokumentiert. Die taz-Journalistin Ulrike Herrmann befasste sich mit Sichtweisen und Wahrnehmungsmustern von Armut und Reichtum in den Mittelschichten.
Der Wissenschaftler Sebastian Bödeker stellte Thesen und eigene empirische Befunde zur Rückwirkung sozialer Ausgrenzung auf die Qualität von demokratischer Öffentlichkeit und damit Demokratie generell vor. «Wir gehen niemals ohne Brille durch die Welt», schreibt Pierre Bourdieu irgendwo, «besonders nicht durch die soziale. Wir gehen durch die soziale Welt mit Wahrnehmungskategorien, Prinzipien der Anschauung und Einteilung». Wie die Brille, ihre Gläser und ihre Färbung beschaffen sind, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Sie reichen von der Prägung durch die soziale Herkunft über verinnerlichte soziale Strukturen bis hin zur Konturierung des öffentlichen Raumes durch die journalistische
Meinungsbildung. In der Politik geht es um die Durchsetzung legitimer, dominierender Prinzipien der Anschauung und der Einteilung der sozialen Welt.
Armut und Reichtum können als siamesische Zwillinge wahrgenommen werden, zumal öffentliche Armut und privater Reichtum. Sie können als gesellschaftliche Problemlagen verarbeitet werden, mit denen sich Politik zwecks Herstellung eines sozialen Ausgleichs zum Erhalt der Reproduktion der gesamten Gesellschaft zu befassen hat. Sie lassen sich einordnen als Ausläufer einer ungleichen Verfügung über materielle
und geistige Produktions- und Reproduktionsmittel. Sie können aber auch als Resultat individuellen Verhaltens, von Leistung und Versagen, von Erfolg und Misserfolg oder Glück und Pech behandelt werden. Je nachdem, welche Sicht sich journalistisch und politisch durchsetzt, sind die Rückwirkungen auf Arme und Reiche unterschiedlich.
Wird Armut mehrheitlich als Resultat individuellen Versagens und Fehlverhaltens begriffen, nährt das bei den Betroffenen die Befürchtung, bei öffentlichem Auftreten von den anderen als Versager wahrgenommen zu werden. Wie Armut und Reichtum von den «Priestern des Kommentars» (Bourdieu) bearbeitet werden, prägt entscheidend den öffentlichen und politischen Raum und damit die Qualität des Zusammenlebens in einer demokratischen Gesellschaft.
Die diskursiven öffentlichen Räume haben sich qualitativ verändert. Die dominierende Struktur der öffentlichen «Teilungen der Welt» macht es den einen leicht, den anderen schwer, ihre eigene Lebenslage öffentlich zu thematisieren, Rechtsansprüche als gleichwertige Bürgerinnen und Bürger einzufordern sowie für Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen oder auch nur unmittelbare eigene Lebensinteressen einzutreten. Die Folgen sind Rückzug in eigene, geschützte Räume und Abschied aus der demokratischen Beteiligung, also eine strukturelle Entpolitisierung von Armut und Reichtum. Der Klassencharakter des Anwachsens der Wahlenthaltung, der teilweise dramatische Abschied der unteren sozialen Schichten aus demokratischer Partizipation und Einmischung wurde in den vergangenen Jahren mehrfach sowohl für repräsentative Wahlen als auch für direktdemokratische Verfahren und zivilgesellschaftliches Engagement nachgewiesen. Das hat nicht nur etwas mit der objektiven Lage und der sozialen Ausgrenzung beziehungsweise Abkopplung von wachsendem gesellschaftlichen Reichtum zu tun. Entscheidend sind die Selbstwahrnehmung, des Selbstwertgefühl und die Verfügung über elementare Produktionsinstrumente von Politik, zu denen öffentliche Räume und ihre diskursiven Strukturen und Teilungen entscheidend zählen.
«Das Fest der Faulenzer. Die öffentliche Entsorgung der Arbeitslosigkeit» lautete der Titel einer 1995 erschienenen Arbeit des Sprachwissenschaftlers Hans Uske. Akribisch zeichnete Uske an den Diskursmustern von politischen und journalistischen Akteuren nach, wie in den 1980er und frühen 1990er Jahren Massenarbeitslosigkeit diskursiv entproblematisiert, dethematisiert und von einem gesellschaftlichen Großproblem zu einem «Randproblem von Randgruppen» marginalisiert wurde. Ähnliches, so die These der Studie von Arlt und Storz, vollzieht sich, seit mit der Agenda 2010 die soziale Kluft zwischen Arm und Reich dynamisch zu wachsen begann: Gesellschaftliche Ursachen und Strukturen wurden zu Sachzwängen «globalisiert», Armut, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit zu unzureichender Leistungsfähigkeit, Anpassungsbereitschaft und Eigenverantwortlichkeit uminterpretiert.
Die Welt besteht nur noch aus erfolgreichen oder erfolglosen Managern des eigenen Arbeitsvermögens – und solchen, denen als «Kind», «Alleinerziehende mit Kindern», «Behinderte» oder «Alte» zumindest besondere Fürsorge zuteilwerden sollte. Wer die Einteilung der sozialen Welt gerechter gestalten will, muss den Blick auf die sozialen Teilungen verändern. Eine andere Politik beginnt mit der diskursiven Subversion
der dominierenden und ordnenden Wahrnehmungskategorien, die die «Mühen des Profitmachens» reproduzieren, nicht aber die «Mühen des alltäglichen Lebens».
Sie beginnt damit, gegen die Mechanismen der Vereinzelung und Selbstausschließung wieder das Gemeinsame und die eigenen Möglichkeiten zu betonen. An welchem Punkt linke Kräfte in Deutschland dabei stehen, zeigte sich nicht zuletzt auch an den Vorträgen und Diskussionen auf der Tagung oder in dem Gesprächskreis «Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse» bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der die Studie begleitete und die Tagung verantwortete: Sprechen wir von Armut und Reichtum, von Armen und Reichen oder von Schichten, Unterschichten und Oberschichten, von sozial Schwachen oder Einkommensschwachen, von den Ärmsten und den Schwächsten? Ab wann sind soziale Lagen so stabil, dass es geboten ist, von Klassen zu sprechen, zumindest von einer sozial stabil abgrenzbaren Oberklasse und Unterklasse? Ist Deutschland, wie im Parteiprogramm der Partei DIE LINKE festgehalten, eine «Klassengesellschaft»? Wäre nicht der öffentliche Diskurs ein gänzlich anderer, hätten in ihm wieder Begriffe einen festen Platz, in denen sich soziale Position, Einflussmöglichkeiten und Alltagssubjektivität zusammenführend verdichten würden?
Die Zusammenhänge von sozialer Lage, Alltagsbewusstsein und (medialer) Öffentlichkeit sind das übergreifende Thema des Gesprächskreises, die Tagung am 20. April 2013 war ein vorläufiger Höhepunkt, weitere Interessierte sind jederzeit willkommen.
Horst Kahrs