Teil 1 des dreiteiligen Features «Kontroverse und Kanonisierung: Die umkämpfte Deutung des 8. Mai». Von Tim Schleinitz und Constantin Hühn für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zum 80. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus.
Die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano hat mit der Forderung für Furore gesorgt, dass der 8. Mai zu einem Feiertag erklärt werden solle. Dieser Tag ist seit dem Kriegsende das Terrain von geschichtspolitischen Deutungskämpfen. Die extreme Rechte konnte nie mehr darin sehen, als einen «Tag der Schande», Bundespräsident Heuss sah die Deutschen «erlöst und vernichtet in einem» und schließlich entwickelte Richard von Weizsäcker eine Perspektive von Befreiung, die Eingang in den Kanon der Erinnerungskultur gefunden hat. Doch auch nach dieser bahnbrechenden Rede und dem Anschluss der DDR gingen die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen weiter. Seit den 1990er Jahren entzündeten sich neuen Debatten um «die Deutschen als Opfer» von Vertreibungen, Bombenkrieg und alliierter Besatzung und stellten die Erinnerungskultur. Es wurde sich an dem Mythos abgearbeitet, dass es eine Tabuisierung dieser Themen gegeben hätte. Der 8. Mai steht im Spiegel der Zeit für eine lebhafte und kontroverse Debatte um den Umgang mit dem präzedenzlosen Menschheitsverbrechen des NS-Regimes und seiner zweiten Geschichte – der geschichtlichen Einordnung.