Vor vierzig Jahren erlebte Deutschland fast als letzter der großen kapitalistischen Staaten eine die Gesellschaft erschütternde rebellische Aufbruchbewegung der Jugend, der SchülerInnen, Studierenden und Lehrlinge gegen die herrschende Ideologie und Moral der Eltern, der Lehrer und der herrschenden Klasse im Land. Ausgelöst wurde sie durch verschiedene Faktoren – die Solidarität mit der anti-kolonialistischen Revolution in Afrika, Lateinamerika und besonders mit der heroisch kämpfenden Befreiungsfront in Vietnam; von einer tiefen Krise der herrschenden, miefig-konservativen Ideologie und der ihr dienenden Parteien; von einer hoffnungslosen Strukturkrise im Ausbildungssektor und von realen Kämpfen der Arbeitermassen vor allem in Frankreich und Italien.
Der Gang der Geschichte hat die Aufbruchbewegung schnell heim in die Normalität geholt. Sie endete spätestens mit der Rot-Grünen-Regierungsübernahme 1998. Dennoch haben die Außerparlamentarische Opposition und 68 bis heute die Gesellschaft verändert, wurden die herrschenden Werte herausgefordert und nachhaltig beeinflusst.
Nahezu 40 Jahre später artikuliert sich die außerparlamentarische Opposition in Streikkämpfen und Aktionen der sozialen Bewegungen wie den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel im Sommer 2007 in Heiligendamm. Diskutiert werden soll, wie eine so breite gesellschaftliche Aufbruchsbewegung entstehen konnte, was von ihr bis heute wirkt und welchen Herausforderungen die heutigen Generationen gegenüberstehen.
Pressebericht:
NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung
Beitrag des Online-Flyers Nr. 131 vom 30.01.2008
„Von 1968 bis Heiligendamm“ Kommt die APO 2.0?
Von Hans-Dieter Hey
Während die meisten Medien die 68er-Bewegung auf die sexuelle Befreiung und die Kinderläden reduzieren oder die Akteure kriminalisieren, um so eine politische Diskussion zu verhindern, findet vielerorts doch eine spannende Auseinandersetzung über „damals“ statt, verbunden mit der Hoffnung vieler, heute daran anknüpfen zu können.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte für Montag, den 21. Januar, zum politischen Diskurs geladen. Im vollen Saal des DGB-Hauses am Hans-Böckler-Platz trafen sich die teils inzwischen betagten Akteure mit interessierten, erfrischend jungen Menschen, um darüber zu diskutieren, was eigentlich 1968 passierte, was davon übrig geblieben ist, und wie es nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 weitergehen soll. Durch die Diskussion führte Thies Gleis von der Partei DIE LINKE.
Reiner SchmidtAltachtundsechziger Reiner Schmidt, Diplom-Volkswirt, Diplom-Handelslehrer und erfahrener Politkämpfer, seinerzeit im Sozialistischen Deutsche Studentenbund SDS und in einer der berüchtigten K-Gruppen aktiv, erzählte von seiner bewegten politischen Vergangenheit. 1977 gründete er die „Bunte Liste wehrt Euch“, eine
der ersten Gruppierungen der alternativen Wahlbewegungen in Köln. Bis 1984 war er Mitglied der Kölner Bezirksregierung Innenstadt und hat, wie er es selbst darstellte, „den Parlamentarismus auf der untersten Ebene kennengelernt“. Zurzeit baut er die bundesweit aktive Interventionistische Linke in Köln auf. Die Frage, die ihn und andere damals wie heute berührt, ist ganz einfach: „Wie soll eine gerechtere Welt aussehen und wie kommen wir dorthin?“
Erfolg von 68: Die heutigen Globalisierungsgegner
Zu Beginn stand die Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft. Hinzu kam der US-amerikanische Krieg in Vietnam und die Notstandsgesetze. Nach seiner Meinung seien heute aber die Globalisierungsgegner die einzige große politische Bewegung in Deutschland gegen die kapitalistischen Auswüchse, und dies sei „im Grunde ein Erfolg, der
auf die 68er-Bewegung zurückzuführen ist.“ Schmidt weist darauf hin, dass die Klassengesellschaft, wie sie Karl Marx für bis in das 20. Jahrhundert zutreffend beschrieben hatte, heute sicher anders aussähe. Doch selbst wenn diese Zusammensetzung sich geändert habe, sei das Problem doch das gleiche geblieben und verbände uns mit
1968, so Schmidt. Die Bewegung sei zwar leider ausschließlich von den Studenten getragen worden, konnte aber doch sehr -- laut Schmidt - in der Bevölkerung verankert werden und gewann an Einfluss in Schulen, bei den Beschäftigten und sogar Ausdruck in Lehrlingsbewegungen in den Betrieben.
Im Nachhinein betrachtet sei sowohl einerseits die Zersplitterung in die regelmäßig autoritär geführten K-Gruppen als auch andererseits das Abwandern in die SPD schädlich gewesen, was schließlich eine starke linke Gesamtbewegung zunichte gemacht hätte. Auch die sogenannten Sponti-Gruppen, die feste Organisationsformen
ablehnten, seien bereits 1968 angelegt gewesen. Vor allem in den 80er Jahren seien sie stark geworden und würden auch heute immer wieder zu verschiedenen Anlässen in Aktion treten. Allerdings waren sie damals wie heute keine Massenbewegung.
Bewegung neuen Typs nötig
„Leider ist keine Mitbestimmung der Verhältnisse möglich, wenn eine parlamentarische Richtung nicht durch eine Massenbewegung mitgetragen wird“, sagte Schmidt in Anspielung auf die verschiedenen 68er Akteure, die Einfluss über den Parlamentarismus gewinnen wollten. Statt dessen: „...brauchen wir heute eine Bewegung neuen Typs, die
versucht, die Globalisierungsgegner neu zu organisieren. Dies versuchen wir jetzt mit der Interventionistischen Linken. Sie hat einen gesamtgesellschaftlich-politischen Anspruch, der sich - nicht wie in den vergangenen 20 Jahren - nur auf einzelne Aspekte konzentriert“.
Lucy Redler ist eine gebürtige „1968 plus 9" und studierte Volkswirtschaftslehre und Sozialökonomie. Seit Jahren ist sie im SAV und bei Attac aktiv. 2006 kandidierte sie als Spitzenkandidatin der WASG in Berlin, verfehlte aber mit 2,9 Prozent den Einzug ins Stadtparlament. Intensiv hat sie sich mit politischen Streiks nach 1945
auseinandergesetzt und ein Buch darüber geschrieben. Für sie steht 1968 für Antikapitalismus und Radikalität sowie vor allem auch für Selbstorganisation und Internationalismus. Deutlich sei dies in dem französischen Generalstreik 1968 geworden, der unmittelbar darauf in Italien aufgegriffen wurde. Bemerkenswert waren für sie auch die wilden Streiks und Betriebsbesetzungen in zahlreichen Unternehmen, die letztlich zu Verbesserung der Situation vieler werktätiger Menschen geführt hätten. Auch die Frauenbewegung habe seit 1968 deutlich Fortschritte gemacht. Heute könne man sich nicht mehr vorstellen, dass Frauen in den 60ern für Vertragsunterschriften noch die
Genehmigung des Mannes brauchten oder dass ihnen der Führerschein ohne dessen Zustimmung verwehrt blieb. Viel ist auch erreicht worden im Kampf gegen den § 218 oder gegen sexuelle Gewalt zu Hause.
Dem „Roll-Back“ begegnen
Lucy Redler verkennt allerdings nicht, dass es heute wieder ein „Roll-Back“ gibt und versucht wird, die meisten Errungenschaften wieder zurückzudrehen. Viele Frauen würden heute wieder in ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse abgedrängt, wo Hartz-IV als reaktionäres Gesetz wirkt und Frauen wieder mehr und mehr in die Abhängigkeit ihrer Männer gerieten. Leider begegne uns inzwischen anstelle der sexuellen Befreiung Pornografie und Sexismus in den Medien. Doch dass durch die 68er-Bewegung damals mehr Arbeiterkinder die Chance zu besserer Bildung erhalten hätten, sei ein Fortschritt gewesen, heute dagegen werden sie wieder mehr und mehr aus dem Bildungssystem zurückgedrängt. Durch die Studiengebühren nehme die soziale Polarisierung wieder zu, und die Demokratisierung der Hochschulen würde durch ihre Privatisierung faktisch abgeschafft.
Als Versäumnis der bundesrepublikanischen 68er-Bewegung sieht Redler im Gegensatz zu Schmidt, dass die verschiedenen Bevölkerungsschichten eben nicht wie in Frankreich oder Italien zusammengekommen seien. Sie bedauert, dass der SDS sich schließlich auf den Kampf gegen die bürgerlichen Medien, beispielsweise gegen Springer und BILD konzentrierte. Die Schaffung von Gegenöffentlichkeit sei zwar richtig gewesen, hätte aber nicht der Schwerpunkt der Aktivitäten sein dürfen und habe diejenigen, die man erreichen wollte, verprellt.
Ziviler Ungehorsam und Jugend lassen hoffen
Redler ist davon überzeugt, dass der massenhafte zivile Ungehorsam bei den Blockaden der G8-Gegner in Heiligendamm auf weitere Entwicklungen in diese Richtung hoffen lasse und vor allem bei Jugendlichen zu regelrechter Begeisterung geführt hätte. „Entscheidend wird sein, dass es gelingt, einen Brückenschlag zwischen allen Protesten herzustellen, den Jugendlichen, den Streikenden und der Hartz-IV-Bewegung“, sagte die Globalisierungsgegnerin. Wichtig sei, den Kampf in den Gewerkschaften aufzunehmen und für eine andere Gewerkschaftsführung zu sorgen, damit auch dort eine andere Politik erfolgen könne. Die heutige Situation sei mit der vor 1968 vergleichbar, als rechte SPDler die Kontrolle über die Gewerkschaften und die Betriebsräte hatten. Die Attacke einiger Gewerkschaften gegen die Lokführer oder gegen die Telekom-Mitarbeiter zum G8-Gegengipfel hätten dies deutlich gezeigt. Auch heute versuchten sich wieder Menschen unabhängig von der Gewerkschaftsführung zu organisieren, wie bei Opel in Bochum oder in der Fahrradfirma in Nordhausen. Aus den Ereignissen um `68 hält Redler vor allem fest, dass es eine radikale Bewegung war, an die heute angeknüpft werden
müsse.
Zur Zeit der 1848er Revolution beklagte sich Heinrich Heine im französischen Asyl bei seinem Freund Karl Marx bitter über seine deutschen Landsleute, sie seien im Vergleich zu den Franzosen politisch viel zu träge und kämen nicht „in Bewegung“. Ähnlich langsam war man hierzulande 1968, während es in den USA und anderen europäischen Ländern längst heftig brodelte. Heiligendamm hat deutlich gemacht, dass eine außerparlamentarische Demokratiebewegung zu wirkungsvollen Aktionen fähig ist. Es ist einiges in Bewegung. Kommt jetzt die APO 2.0?
(PK)