Mehr als 800 Menschen versammelten sich am Wochenende vom 15.-17. Februar 2019 anlässlich der 4. Konferenz gewerkschaftliche Erneuerung in Braunschweig. KollegInnen aus allen Gewerkschaften und Generationen, WissenschaftlerInnen, Studierende und Organizing-Teams einte der Wunsch, sich über Erfahrungen aus den vergangenen Kämpfen auszutauschen und gemeinsam demokratische, konfliktorientierte und politisierende Strategien zu entwickeln.
Eigentlich habe ich die Streikkonferenzen ja immer als Klassentreffen für KlassenkämpferInnen bezeichnet. Aber dafür sind wir mittlerweile vielleicht ein bisschen zu viele?
Florian Wilde, RLS
Drei markante Unterschiede bemerkte Oliver Nachtwey (Uni Basel) im Vergleich zu den vergangenen Konferenzen: Das Publikum habe sich verjüngt, von Gewerkschaften als Interessenvertretung von tendenziell älteren und männlichen Kollegen war in Braunschweig keine Spur. Viele Debatten könnten zudem endlich wieder an exemplarische Siege anknüpfen. Schließlich sei es die mit Abstand größte «Streikkonferenz», wodurch eine Videoübertragung der Podien in einen zweiten und dritten Raum nötig wurde. Beim «Public Viewing» in der Turnhalle nahmen es die GewerkschafterInnen jedoch mit großer Gelassenheit.
Es waren die kleinen und großen Erfolgsgeschichten der Gewerkschaftsaktiven, die im Fokus der Konferenz standen. Die Beschäftigten von Teigwaren Riesa leiteten die Konferenz mit einem Bericht von ihrem derzeitigen Kampf für einen Tarifvertrag ein: «Wenn wir streiken, dann stehen alle Bänder still und dann geht nichts mehr im Unternehmen.» Tosender Applaus schallte ihnen für dieses kämpferische Selbstverständnis entgegen. Voller Motivation erzählten auch Aktive aus der Pflegebewegung in einer der zahlreichen Arbeitsgruppen von ihrem Kampf für mehr Personal im Krankenhaus. Interessierte standen bis in den Flur, um die Debatte zu verfolgen. Lange sei er davon ausgegangen, so Nachtwey, dass die Berufsethik der PflegerInnen zur Akzeptanz der katastrophalen Bedingungen führe (Folien seines Vortrags). Die aktuelle Gegenwehr vieler Pflegekräfte sei jedoch der lebendige Beweis dafür, dass mit der richtigen politischen Strategie eben diese Berufsethik Keimzelle des Aufbegehrens sein könne. Auch die Berichte der Ryanair- oder der Deliveroo-Beschäftigten machten Mut: Gerade in den Sektoren, in denen gewerkschaftliche Organisierung kaum möglich erschien, regt sich Widerstand.
Ich war überrascht von dem unglaublichen Interesse am Thema Pflege. Mit 102 Leuten haben wir im Workshop zu den Kämpfen in den Krankenhäusern diskutiert.
Dana Lützkendorf, ver.di Betriebsgruppe Charité Berlin, Vorsitzende Landesbezirksfachbereichvorstand ver.di Berlin-Brandenburg
Impulse für die Strategien der Zukunft kamen von prominent besetzen Podien und Plenumsvorträgen von Christine Behle (ver.di), Hans-Jürgen Urban (IG Metall) und Marlis Tepe (GEW) als VertreterInnen der Gewerkschaftsvorstände und dem Parteivorsitzenden der LINKEN Bernd Riexinger, sowie von Wissenschaftlern wie Oliver Nachtwey (Uni Basel) und Klaus Dörre (Uni Jena). Letzterer betonte in seiner Rede, dass der Aufstieg der Rechten keinesfalls totgeschwiegen werden dürfe, da das Problem ansonsten unumgänglich größer werde (Folien seines Vortrags). Ihm zufolge müssen GewerkschafterInnen sich sachlich mit der Politik der AfD auseinandersetzen und immer wieder aufzeigen, dass völkische Solidarität ein Sprengsatz für gewerkschaftliche Solidarität ist. Zudem müssten auch Linke die Systemfrage beantworten und somit darüber diskutieren, wie der Kapitalismus aus den Angeln gehoben werden kann.
Intensive Debatten wurden auf der Konferenz vor allem außerhalb des Plenums geführt. In über 30 Arbeitsgruppen diskutierte man sowohl branchenspezifisch als auch gewerkschaftsübergreifend: Welche Strategien gibt es gegen Massenentlassungen? Wie gelingt internationale Gewerkschaftsarbeit? Und wie gehen wir um mit dem Vormarsch der AfD? Frei nach dem Motto «Aus unseren Kämpfen lernen» berichteten über 100 gewerkschaftlich aktive Referentinnen und Referenten von ihren Erfahrungen um daraufhin den Raum für die Debatte zu öffnen.
Der Zweck eines Streiks ist es, wieder Klassenbewusstsein aufzubauen; zu verdeutlichen, dass es eigentlich nur zwei Seiten gibt. Es gibt uns und sie. Es wird die Politik verändern, wenn wir es viel mehr tun.
Jane McAlevey, Organizerin aus den USA
Die US-amerikanische Organizerin Jane McAlevey lieferte sehr konkrete Antworten auf die Frage, wie Gewerkschaften wieder mehr in die Offensive gelangen können. Sie präsentierte ihr Konzept «Deep Organizing» als strategischen Gegenentwurf zum Mobilizing und Stellvertreterpolitik der SIEU. Im Zentrum der gewerkschaftlichen Arbeit müssen ihr zufolge immer die Beschäftigten selbst stehen. Das bedeutet, dass sie an den Tarifverhandlungen teilnehmen und an der Strategieentwicklung mitwirken.
Das Interesse an den Methoden, mit denen McAlevey in den USA immense Erfolge erzielen konnte, war groß: GewerkschaftssekretärInnen diskutierten über ihre Erfahrungen mit Organizing-Ansätzen, in Praxisseminaren wurden die Methoden unter die Lupe genommen. Die 400 Exemplare ihres gerade auf Deutsch erschienen Buches «Keine halben Sachen», eine Art Anleitung für die gewerkschaftlichen Erneuerung, waren bereits Samstagmittag vergriffen.
Was ich mir wünsche, ist, dass wir alle Parteien treiben, nicht reagieren sondern treiben.
Mehrdad Payandeh, Vorsitzender DGB Niedersachsen
In den drei Konferenztagen wurde eines immer wieder betont: Die kommenden Kämpfe müssen von der Gewerkschaftsbewegung zusammen geplant und zusammen geführt werden. Dafür brauche es noch mehr weit Begegnungsorte wie die Streikkonferenzen, forderte Jan Andrä (VK-Leiter VW Zwickau). Denn an Wochenenden wie diesen könne man als Gewerkschafter aus Zwickau erstaunt feststellen, dass es Busfahrer im Saarland gibt, die «so weit im Westen sind, dass ihr Lohn schon wieder Ost-Niveau erreicht».
Die Konferenz in Braunschweig hat unterschiedlichste GewerkschafterInnen zusammen rücken lassen. Das bedeutet Rückenwind für eine Gewerkschaftsbewegung, die sich nicht auf Lohnforderungen beschränken will. Sei es indem sie sich klar gegen die Polizeigesetze positioniert oder von den spanischen KollegInnen lernt und kreative Strategien entwickelt, um einen erfolgreichen Frauenstreik am 8. März auf die Beine zu stellen.