Seit nunmehr drei Jahren besteht das «Flüchtlingsabkommen» zwischen der Türkei und der EU. Am 20. März 2016 trat es in Kraft – trotz massiver rechtlicher Bedenken seitens der UN, renommierter Völkerrechtler*innen und Geflüchteter selbst. Nach wie vor ist umstritten, ob die Türkei für Geflüchtete ein sicherer Drittstaat ist.
Über diese Detailfragen sowie über die Entwicklungen der letzten drei Jahre haben wir mit der Grenzregimeforscherin und Soziologin Prof. Dr. Neşe Özgen gesprochen.
Professor Özgen geht davon aus, dass das Flüchtlingsabkommen nicht zu einer Besserung der Lage geführt hat, sondern im Gegenteil die illegalen Grenzübertritte noch zugenommen haben. Das liegt ihrer Meinung daran, dass sowohl die außerrechtlichen Unterstützungsnetzwerke als auch die von den Menschenschmugglern aufgebauten Netzwerke jeweils anormale Dimensionen erreicht haben. Die Zahl der Menschen, die auf den Routen der Schmuggler über die Grenzen kommen nimmt ebenso zu wie die Zahl derjenigen, die auf diesen Routen ihr Leben verlieren. Schnell ist die Rede von den großen Geldsummen, die fließen – eine reale Verbesserung der Situation von Flüchtenden ist aber nirgendwo in Sicht.
Das Gespräch führte Gamze Kafar.
Was genau wollten die EU und die Türkei mit der Unterzeichnung des «Flüchtlingsabkommens» erreichen?
Die Hauptgrundlage des Flüchtlingsabkommens von 2016 war eine Regulierung des grenzüberschreitenden Verkehrs von Flüchtenden. Transitländer wie die Türkei, Griechenland und die Anrainer der Balkanroute sollten Hilfen und Unterstützungen bekommen, damit bessere Bedingungen für eine «Rückkehr» geschaffen werden können bzw. die EU-Länder die unregulierte Migration unter Kontrolle bekommen.
Wir haben mitbekommen, wie die beteiligten Vertragspartner die Kontrolle darüber, welche ausgewählten Flüchtlinge/Sans-Papiers sie aufnehmen würden, jeweils auf nationaler Ebene ansiedeln wollten, so dass sie auf planvolle Weise eine qualifizierte Arbeitskraft, die ihrem Land nützen würde, ansiedeln und den Rest der Menschen auf einige Länder verteilt in Schach halten könnten. Das war das offensichtliche Ziel. Diese Politik hat aber nicht funktioniert und, wie Sie wissen, hat das UNHCR 2018 dazu aufgerufen, dass alle Länder zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zurückkehren mögen bzw. müssen. Ebenfalls 2018 wurde kraft eines neuen Abkommens beschlossen, dass Geflüchtete, die versuchen, in EU-Staaten überzusiedeln, an bestimmte Hotspots geschickt werden sollen – vorzugsweise Ägäis-Inseln und ein paar abgelegene Camps auf Mittelmeerinseln. Damit wird aber nichts besser, im Gegenteil: Die Geflüchteten werden jetzt gezwungen, noch isolierter, noch weiter ab von den Augen der Öffentlichkeit zu leben.
Das UNHCR und viele Jurist*innen fanden, dieses Abkommen verstoße gegen das internationale Asylrecht. Was sind Ihrer Meinung nach die problematischen Seiten dieses Abkommens? Inwieweit wurden die Rechte der Geflüchteten bei der Projektentwicklung und Umsetzung überhaupt in Betracht gezogen?
Dieses Abkommen schien sich spezifisch auf Geflüchtete aus Syrien zu beziehen. Dadurch wurde die Lage der Millionen von anderen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, sei es aus afrikanischen Ländern oder aus dem Irak, Afghanistan, Pakistan usw., noch ungewisser und diese Gruppen unsichtbarer. Das Abkommen war auch Wasser auf die Mühlen einer rechten Strömung, die sagt, offensichtlich werden syrische Geflüchtete ganz besonders geschützt und können in den Ankunftsländern staatsbürgerliche Rechte missbrauchen. Fast überall auf der Welt ist eine gefährliche, rechte Tendenz stark geworden, die sich auf Islamophobie, Xenophobie und die Annahme, die Alteingesessenen seien überlegene Menschen, stützt.
Diese Diskussionen schauen wir uns meist aus einem türkeispezifischen Blickwinkel an, aber wir sehen eigentlich, wie in der internationalen Literatur der Begriff des Fremden mit dem Begriff des Flüchtlings synonym wird. Die hohen Ausgaben für die Umsetzung des Abkommens haben nicht nur die Fluchtbewegungen nicht verhindert, sondern sind im Zusammenhang damit zu sehen, dass die gesamte Rhetorik in Bezug auf Flüchtlinge sich immer nur um Geld dreht. Die menschliche und ethische Dimension wird komplett ausgeblendet. Die Geflüchteten – die lebendigen wie die toten - werden je auf eine Zahl reduziert und immer nur auf ihr Flüchtlingsein. Die Versorgung der Wunden des Krieges ist eine Art kosmetische Charity-Leistung geworden, die auf die Schultern von ein paar NGOs abgewälzt wird. Die Geflüchteten haben kaum noch das Recht, sich selbst zu organisieren, ihre Berufe auszuüben und frei über ihre eigene Zukunft zu entscheiden. Ihr Status ist auch deshalb unsicher, weil die Politiken der einzelnen Länder so volatil geworden sind. Die ganze Welt spricht über den Krieg in ihrem Herkunftsland wie über eine Art Videospiel. Nur sie selbst nicht. Dass das «Flüchtlingsein» eine Folge dieses Krieges ist, scheint größtenteils schon in Vergessenheit geraten zu sein. Die hohe Zahl von Menschen, die sich aus afrikanischen Krisenherden auf den Weg macht, wird unsichtbar gemacht. Die großen Migrationsbewegungen in Asien werden ebenfalls als «Wirtschaftsflucht» eingeordnet, obwohl Menschen aus Ländern wie dem Sudan oder Afghanistan natürlich vor immer grausamer werdenden Regimen flüchten. Und noch völlig unklar ist, was mit den Millionen von Menschen werden soll, die in absehbarer Zukunft aufgrund des Klimawandels an einen anderen Ort ziehen müssen.
Aber es gibt noch einen anderen Bereich, der völlig übersehen wird: Die Geflüchteten haben ihre eigene Wirtschaft geschaffen. Wenn zum Beispiel gut ausgebildete Menschen ihren eigenen Beruf nicht ausüben dürfen und stattdessen ohne Dokumente, ohne Arbeitserlaubnis und ohne Steuern zu zahlen arbeiten müssen, dann ist das auch ein Problem für die Gesundheits- und Bildungspolitik und die Technologieförderung der jeweiligen Länder. Gleichzeitig drücken diese Länder ein Auge zu, wenn es um die riesigen, illegalen Geldflüsse geht, die mit der undokumentierten Einreise von Menschen entsteht, von denen sie massiv profitieren. Gleichzeitig aber illegalisieren sie diesen Markt und kontrollieren die entstehende Schattenwirtschaft.
Für die Umsetzung des Flüchtlingsabkommens ist eine Summe von 6 Milliarden Euro vorgesehen. Würden Sie sagen, dass diese Gelder hinsichtlich der Zielsetzungen des Abkommens sinnvoll eingesetzt werden?
Die Vertragspartner haben zwar teilweise die Freiheit, die Ausgabe der Mittel entlang innenpolitischer Prozesse für die jeweils als prioritär identifizierten Bereiche zu beschließen.
Es hat sich allerdings herausgestellt, dass die veröffentlichten Ausgaben der letzten Abrechnungszeiträume doch sehr stark unterschiedlichen Zwecken dienten. Da die EU-Länder hier überhaupt nicht koordiniert vorgingen, konnte zum Beispiel Griechenland beinahe seine gesamten Mittel für die Aufnahmeprozeduren für Geflüchtete aufwenden, während andere Länder ganz andere Posten wie zum Beispiel Überwachungstechnologie, Grenzkontrolle, Unterbringung oder Ausbildungsprogramme für private Securityfirmen in den Vordergrund stellen konnten.
Wir sehen aber spätestens dann, dass die praktischen Politiken fehlerhaft sind, wenn Länder sehr viel höhere eigene Ausgaben haben, als von der EU im Budget vorgesehen, ohne dass die irreguläre Flucht irgendwie begrenzt würde. Im Gegenteil sind die Ägäis und das Mittelmeer zu Massengräbern geworden, während die rechten Regierungen der Länder an der Balkanroute das Thema Flüchtlinge für politische Hetze instrumentalisieren und einige Länder, darunter auch die Türkei, ihre Flüchtlingspolitik als eine Art Geiselpolitik umsetzen. Das kommt davon, wenn man Geflüchtete nur als Zahlen sieht.
Auf der anderen Seite ist dank der Geflüchteten ein ganzer Industriezweig entstanden – das refugee business. In der Türkei oder Griechenland zum Beispiel wird dieser Sektor sehr effizient dazu genutzt, hohe Geldbeträge an staatliche Behörden oder der Regierung nahestehende Firmen und NGOs zu kanalisieren. Das Militär beider Länder hat zum Beispiel Firmen gegründet, die an dieser Flüchtlingsindustrie sehr gut verdienen. Die Transitländer mit Meeresküsten investieren in die Küstensicherung, die anderen in Sicherheitssysteme für ihr spezifisches Terrain. Dabei werden zunehmend brutalere Interventionsweisen legitimiert – Grenzzaun, Stacheldraht, Abschiebung direkt von der Küste oder das tagelange Aufreiben eines Bootes auf offener See, Grenzwälle usw. Politisch werden auch informelle bis illegale Formen der Jagd auf Geflüchtete legitimiert, wie Bürgerwehren oder Banden, die Geflüchtete wieder zurücktreiben sollen. In Griechenland ist das refugee business für fast alle NGOs zu einem primären Beschäftigungsfeld geworden, und in der Türkei können die GONGOs (staatlich initiierte NGOs) je nach Nähe zur Regierung beträchtliche Einnahmequellen generieren.