Die Zahl der COVID-19-Infizierten verändern sich in Brasilien schneller, als man sie aufschreiben könnte. Sicher wurden die Werte von 1,6 Millionen Infizierten und 65.600 Toten bereits überschritten, während diese Zeilen geschrieben werden und damit liegt das Land international nur noch hinter den USA. Wobei das «sicher» durchaus relativ ist. Denn: wie in vielen Ländern gehen Expert*innen auch in Brasilien von einer hohen Dunkelziffer aus; insbesondere, weil es kaum flächendeckende und umfassende Coranatests gibt. Und dann ist da natürlich auch der politische Faktor: Präsident Jair Bolsonaro hat sich als notorischer Pandemie-Leugner hervorgetan. Dazu hat er seit April bereits zwei Gesundheitsminister verschlissen und beauftragte kommissarisch einen General für das zentrale Amt zur Pandemiebekämpfung. Außerdem: Der ehemalige Hauptmann Bolsonaro lässt die Opfer so zählen, dass es kaum möglich ist, valide Informationen über die offiziellen Websites zu bekommen. Dass es doch einigermaßen solide Zahlen gibt, ist einer so bisher nicht gekannten Kooperation der großen Mainstream-Medien von der liberalen Tageszeitung «Folha de São Paulo» bis zur stramm konservativen «Globo» zu verdanken, die täglich Statistiken leser*innenfreundlich auswerten.
Je mehr Opfer es gibt, desto schlechter läuft es für Bolsonaro. Immer mehr Menschen haben Pandemie-Opfer in ihrem persönlichen Umfeld und die Kritik am laxen Umgang des Staatschefs mit der Krise wächst. Nun gerät dieser auch innenpolitisch zunehmend unter Druck und hat das Monopol über die Straße verloren. Eine Demokratiebewegung angeführt von Fußballfans fordern Bolsonaros Anhänger*innen offen heraus. Aber auch innerhalb der Regierung knirscht es: am 18. Juni trat mit dem Bildungsminister Abraham Weintraub einer der größte Scharfmacher und Paladine Bolsonaros zurück. Dieser hatte die Obersten Richter wiederholt als «Penner» bezeichnet, um dann deren Verhaftung zu fordern. Genau wie sein Regierungschef hatte sich Weintraub an öffentlichen Demonstrationen gegen den Obersten Gerichtshof STF beteiligt. Nachdem Feuerwerkskörper auf die wichtigste Institution der Judikative in der Hauptstadt Brasília geschossen wurden, war das Klima so aufgeheizt, dass Bolsonaro zurückruderte und seinen Bildungsminister nach oben lobte – als brasilianischen Kandidaten für einen leitenden Posten bei der Weltbank.
Den Gerichten des Landes hatte der Präsident in den vergangenen Wochen immer wieder gedroht; das Militär würde keinen Unsinn mitmachen und keine Befehle gegen seine Regierung ausführen. Zum Militär gehört mit der Militärpolizei auch die am besten ausgerüstete Polizeieinheit im Land; sie ist omnipräsent und für ihre besondere Brutalität berüchtigt. Ahnte er, dass eine Untersuchungskommission im Bundesstaat São Paulo einen Coup im Kontext der Korruptionsermittlungen gegen seinen Sohn, den Senator Flávio Bolsonaro, vorbereitete? Seit über einem Jahr hatte sich der enge Weggefährte der Bolsonaros Fabrício Queiroz auf dem Anwesen des Anwalts der Bolsonaros versteckt. Der Zugriff der Bundespolizei führte dann allerdings nicht zu einem Militärputsch, wie manche die Drohung von Bolsonaro verstanden haben mögen. Nun wird dem Mann der Prozess gemacht.
Diese Ereignisse spielen eine wichtige Rolle in Brasilien und führen dazu, dass der Präsident deutlich an Zustimmung verloren hat, insbesondere in der Mittelschicht. In Umfragen finden heute nur noch gut 20 Prozent (laut Datafolha sind es 32 Prozent), dass Bolsonaro einen guten Job macht. Aber das führt noch längst nicht dazu, dass sich die anderen 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung nun aktiv gegen ihn auflehnen. Es gibt erste politische Ansätze des Widerstands, bei denen es sich aber um recht kontroverse Projekte handelt. Innerhalb der politischen Linken wurde zum Beispiel sehr konträr über den Online-Aufruf für demokratische Rechte vom 26.06. diskutiert. Der neo-liberale Ex-Präsident Fernando Henrique Cardoso beteiligte sich daran, ebenso wie der rechte Ex-Präsident Michel Temer, der 2016 als Vize-Präsident das Impeachment gegen seine Regierungschefin Dilma Rouseff (PT) befeuert und sie dann beerbt hatte. Ebenso unterschrieb der amtierende Präsident des Abgeordnetenhauses Rodrigo Maia von der Chamäleon-Partei «Democratas». Dazu gesellten sich bekannte Linke wie der 2018 unterlegende Präsidentschaftskandidat Fernando Haddad (PT), seine kommunistische Vizepräsidentschaftskandidatin Manuela D'Avila (PCdoB) oder der damalige Kandidat der linkssozialistischen Kleinpartei PSOL Guilherme Boulos. Dagegen grenzten sich Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (PT) und die Parteiführung der PT, sowie große Teile der PSOL klar von der Initiative ab.
In den Favelas, den Vierteln der Arbeiter*innenklasse, in den indigenen Gebieten und in den Quilombos (Gemeinschaften der Nachfahren einst geflohener Schwarzer Sklaven) ist der neue Alltag durch die Pandemie und die damit verbundene Wirtschaftskrise zu einem Überlebenskampf geworden. An ihrer Seite kämpfen stärker werdende soziale Bewegungen, die Lebensmittel verteilen, aber auch Hilfe zur Selbsthilfe organisieren. Sie klagen außerdem an, dass die Leidtragenden in größerem Maßstab Schwarze Menschen, insbesondere Frauen, sind. Und die Proteste organisieren gegen die erstarkende Polizeigewalt gegenüber Schwarzen Menschen in São Paulo und Rio de Janeiro. Solche konkreten Aktionen haben für diese Menschen mehr Bedeutung als die «große Politik». Die Pandemie hat auch neue Aktionsformen hervorgebracht, wo sich lange kein Widerstand regte: Am 01. Juli organisieren antifaschistische Transporteure von Apps für Essenslieferungen einen ersten Streik für bessere Arbeitsbedingungen. A luta continua…