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Soziale Bewegungen im Kampf gegen Covid-19

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Autorin

Verena Glass,

Während der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro alle Bemühungen boykottiert, die Verbreitung des neuen Coronavirus einzudämmen, organisieren sich soziale Bewegungen, um den gefährdetsten Teilen der Bevölkerung beizustehen.

Von Verena Glass und dem Autor*innen-Team der RLS in Brasilien. Übersetzt aus dem Portugiesischen von Laura Burzywoda.

Im Kontext der weltweiten Covid-19-Pandemie hat Brasilien aufgrund des Umgangs der Regierung mit der Gesundheitskrise und insbesondere aufgrund der umstrittenen Vorgehensweise des Präsidenten Jair Bolsonaros traurige Berühmtheit erlangt. Der Präsident streitet die tödliche Wirkung von Covid-19 nicht nur ab, er handelt auch entsprechend. Indem er aktiv an Straßendemonstrationen gegen die Einschränkungen teilnimmt und die ansteigende Zahl der Infektionen und Todesfälle im Land spöttisch kommentiert, ermutigt er die Bevölkerung dazu, Vorgaben der sozialen Isolation zu missachten. So entzieht er den Mitgliedern der eigenen Regierung die Legitimation, was bereits dazu geführt hat, dass innerhalb von zwei Monaten zwei Gesundheitsminister zurückgetreten sind. Neben Bolsonaro haben weitere Angehörige der Regierung Maßnahmen ergriffen, mit denen besonders gefährdete Teile der Bevölkerung dem Ansteckungsrisiko und den wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie noch stärker ausgesetzt werden.

Seit die lokalen Regierungen die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, nicht lebensnotwendige Geschäfte geschlossen und Veranstaltungen verboten haben, schnellt die Zahl der Kündigungen in die Höhe. Tausende von Arbeitnehmer*innen wurden entlassen. Die Antwort der Regierung darauf war, den Arbeitgeber*innen die volle Macht zu übertragen, über Arbeitszeiten und die Urlaubsplanung ihrer Angestellten zu verfügen und Reduzierungen der Arbeitszeiten und des Gehaltes um 25, 50 oder gar 70 Prozent für bis zu drei Monate auszuhandeln, was die Armut von Tausenden Familien weiter verschärfte. Die Gewerkschaften blieben von allen Verhandlungen ausgeschlossen.

Auch die indigene Bevölkerung ist von der Pandemie stark betroffen. Illegale Goldsuchende und Holzfäller*innen dringen systematisch und praktisch ungestraft in indigene Territorien ein. Im ersten Quartal 2020 brach die Abholzung im Amazonas Berichten zufolge alle Rekorde, gemessen wurde ein Anstieg um 51 Prozent im Vergleich zum ersten Quartal 2019 (Fonseca, Antônio u.a.: Boletim do desmatamento da Amazônia Legal, abril 2020, SAD, 2020). Die Indigenen sind besonders anfällig für die Krankheiten «der Weißen», die in der Vergangenheit bereits tausende Personen töteten und beinahe ganze Gruppen zum Aussterben brachten. Trotzdem erließ die Regierung im April eine Verordnung, die die Besetzung und den Verkauf von nicht anerkannten indigenen Territorien erlaubt. Gleichzeitig kritisierte selbst der Umweltminister die Aufsichtskontrollen in den Konfliktgebieten und schränkte diese weiter ein. Ende Mai verzeichneten bereits 20 Prozent der rund 300 indigenen Bevölkerungsgruppen Infektionen und Todesfälle (Conselho Indigenista Missionário: Povos indigenas o coronavirus).

Munduruku am Alto Tapajos im Bundesstaat Pará blockieren den Fluss, um die Durchfahrt von Goldsuchern zu verhindern. Foto: Wakoborun

Die Verbreitung von Covid-19 hat, wie zu erwarten war, in einem der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit nichts «Demokratisches» an sich. Die Todesrate ist in den Armenvierteln von Rio de Janeiro und São Paulo zehnmal höher als in den Vierteln der Reichen. Laut einer Statistik der Stadtverwaltung von São Paulo haben Schwarze Menschen eine 62 Prozent höhereWahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, als weiße Menschen (Vgl. SP: PRO-AIM/SIM/CEInfo/SMS-SP, Daten bis 17/4). In den Peripherien und Favelas sind Möglichkeiten der sozialen Distanzierung so gut wie nicht vorhanden. In vielen Gegenden gibt es nicht einmal Wasser, um die Hände zu waschen und minimalen Hygieneanforderungen nachzukommen. Viele haben kein Geld, um Seife, Masken und Desinfektionsmittel zu kaufen. In der Stadt, auf dem Land und in den indigenen Gemeinden wächst die Zahl der Familien, die an Hunger leiden, mit einer erschreckenden Geschwindigkeit. Vor diesem Hintergrund treten mehr als hundert Organisationen in Aktion.

Gegenoffensive

Soziale Bewegungen schließen sich zusammen, um die Ausbreitung von Covid-19 in den Peripherien zu bekämpfen. Foto: Todomundo

Gleich nachdem die Auswirkungen der Pandemie in den Peripherien des Landes spürbar wurden, haben die beiden zentralen Zusammenschlüsse sozialer Bewegungen, die Frente Brasil Popular (angeführt von der Landlosenbewegung MST) und die Frente Povo sem Medo (angeführt von der Wohnungslosenbewegung MTST), gemeinsam die Plattform «Wir brauchen jede Hilfe» gegründet, auf der sie Nachrichten und Informationen über Solidaritätskampagnen, Live-Debatten, Hilfegesuche und solidarische Spenden- und Unterstützungsmöglichkeiten für das gesamte Land bereitstellen (Eine Übersicht zu Solidaritätsaktionen bietet das Portal https://todomundo.org/). Beide Bewegungen haben ihre Differenzen beiseitegelegt und es so geschafft, ein Netzwerk aufzubauen, in dem sich Organisationen von Bäuerinnen und Bauern, Indigenen, Schwarzen und Quilombolas, Frauen, Gewerkschaften, Migrant*innen usw. vereinen.

Viele Organisationen haben es zu ihrer zentralen politischen Aufgabe gemacht, sich am Kampf gegen die Pandemie in Brasilien zu beteiligen, indem sie sich der bundesweiten Initiative anschließen oder eigenständig solidarische Aktionen durchführen.

Die Landlosenbewegung Movimento de Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST), die im Jahr 1984 entstand, ist die wichtigste Organisation im Kampf für eine Agrarreform in Brasilien. Sie ist fast in ganz Brasilien vertreten. Seit Beginn der Pandemie  und dem explosionsartigen Anstieg der Covid-19-Infektionen spendete der MST mehr als 1.500 Tonnen Nahrungsmittel – der größte Teil wurde in den eigenen Siedlungen produziert. In fast allen Bundesstaaten sammelt die Bewegung Produkte, stellt «Agrarreform-Körbe» zusammen und organisiert dann den Transport und die Verteilung an Familien in Notsituationen auf dem Land und in der Stadt. Bei diesen Aktionen wird auch auf die Bedeutung der ökologischen Landwirtschaft und die Arbeit der Bäuerinnen und Bauern hingewiesen. Ebenso informiert der MST bei den Verteilungen über Hygienemaßnahmen und diskutiert über die Notwendigkeit eines Grundeinkommens als einem universellen Recht. In Großstädten wie São Paulo, Curitiba und Recife verteilte der MST in den ersten zwei Monaten der Krise mehr als 50 Tausend Essenspakete an Obdachlose.

MST-Mitglieder aus dem Bundesstaat Paraná mit Lastern voller gespendeter Bio-Lebensmittel. Foto: MST

Die feministische Nichtregierungsorganisation Sempreviva Organização Feminista (SOF) ist verbunden mit dem «Weltweiten Marsch der Frauen» und in verschiedenen Teilen des Landes aktiv. Eine ihrer Hauptaktivitäten ist die Weiterbildung von Frauen auf dem Land und in der Stadt in den Bereichen ökologische Landwirtschaft, Kultur, feministische Ökonomie und öffentliche Politik. Während der Pandemie konnte SOF die Vermarktung von Produkten des Agrarökologischen Netzwerks von Frauen der Landwirtschaft (Rede Agroecológica de Mulheres Agricultoras/RAMA) aus dem Landesinneren des Bundesstaates São Paulo für Konsument*innen und Unternehmen in der Hauptstadt aufrechterhalten. In Zusammenarbeit mit Verbrauchergruppen war es möglich, die Lebensmittel unter Einhaltung der Vorschriften der sozialen Distanzierung entgegenzunehmen und weiter zu verteilen. SOF selbst kauft auch Produkte an, um diese an Hilfseinrichtungen, an Familien ohne oder mit geringem Einkommen und an Guaraní-Gemeinden in den Peripherien von São Paulo zu spenden. Eine dieser Spenden ging an den Verein Associação de Mulheres da Economia Solidária de São Paulo (AMESOL), deren Mitglieder derzeit keine Einkünfte haben, weil Märkte und Veranstaltungen, auf denen sie normalerweise ihre Produkte verkaufen, nicht stattfinden. Für die Frauen von AMESOL wurde auch eine Online-Kampagne organisiert, die zum Ziel hat, für zwei Monate je 300 brasilianische Reais an 50 Frauen zu spenden. Sie unterstützt bei der Herstellung von Masken, die gespendet oder verkauft werden. SOF bewirbt die Produkte der Frauen von AMESOL über ihre Kanäle in den sozialen Medien.

Das Instituto Políticas Alternativas para o Cone Sul (PACS) bildet, unterstützt, mobilisiert und organisiert Frauen aus der Landwirtschaft in den stadtnahen und peripheren Gegenden. Es ist insbesondere in Rio de Janeiro aktiv, arbeitet aber auch mit Gruppen in Recife, Belo Horizonte und Salvador. Das PACS will Bewohner*innen der Favelas und Peripherien dazu anregen, Obst- und Gemüsegärten anzulegen, um so die Ernährungssicherheit und -souveränität zu stärken und Kenntnisse über ökologische Landwirtschaft zu verbreiten. PACS will zudem Biomärkte weiter verbreiten, feministisches Bewusstsein stärken und Netzwerke der gegenseitigen Unterstützung schaffen. Durch die pandemiebedingten Schließung von Wochenmärkten in Rio fällt die zentrale Einkommensquelle dieser Frauen weg, weshalb sich das PACS gemeinsam mit Abgeordneten der Partido Socialismo e Liberdade (PSOL) für die Bereitstellung von Mitteln aus den städtischen Notfallreserven einsetzt. Mit diesen Mitteln sollen Produkte der Landwirtinnen gekauft und in den Peripherien verteilt werden, die am stärksten von Hunger betroffen sind. Das Institut unterstützt zudem die Organisierung eines Netzwerks von Konsument*innen im Stadtzentrum, die ein Liefersystem für Bio-Gemüsekisten aufbauen wollen, und weitet die Arbeit mit selbstständig tätigen Frauen (Straßenverkäuferinnen, Haushaltshilfen etc.) aus. Gemeinsam mit den Bewegungen für urbane Gärten sprechen sie über Gemüsegärten als Mittel, um das Hungerproblem in den Familien zu reduzieren. PACS ist außerdem dabei, in den vier Bundesstaaten ein Solidaritätsnetzwerk für Frauen zu schaffen. Jede Frau nimmt für eine andere ein Video auf, in dem sie Trost spendet und Tipps für ein besseres Leben gibt. Dies reicht von Empfehlungen für einen sorgsamen Umgang mit dem Körper und Rezepten über Haarpflege-Tipps und Frisuren bis hin zu Hinweisen zu medizinischen Pflanzen. Ziel ist, die Beziehungen untereinander zu stärken und Hoffnung zu geben.

Juliana Diniz, eine der urbanen Landwirtinnen des PACS, in ihrem Gemüsegarten. Foto: Edson Diniz

Die Missão Paz (Mission Frieden) ist eine philanthropische Institution, die Immigrant*innen und Geflüchtete unterstützt und aufnimmt. Sie koordiniert das «Haus der Migration» mit 110 Plätzen und bietet unter anderem Essen, Unterstützung beim Umgang mit Behörden, Sozialarbeit, psychologische und medizinische Versorgung sowie Portugiesisch-Kurse an und vermittelt Migrant*innen auf Arbeitssuche Kontakte zu Unternehmen. Während der Krise hat sich die Situation der Migrant*innen und Geflüchteten verschärft. Viele haben aufgrund der Bewegungseinschränkungen und Isolation größere Schwierigkeiten damit, ihr Leben neu zu organisieren. Die Missão Paz hat eine kollektive Quarantäne mit allen in ihrem Zentrum in São Paulo lebenden Ausländer*innen organisiert und eine Kampagne zur Mittelbeschaffung für den Kauf von Lebensmitteln und Hygieneprodukten koordiniert. Politisch setzt sich die Missão Paz dafür ein, dass es in Bezug auf die Rechte von Migrant*innen keine Rückschläge gibt. Dafür übt sie öffentlichen Druck auf Regierung und Parlament aus und fordert keine Maßnahmen oder Gesetzesinitiativen im Zusammenhang mit Covid-19 zu ergreifen, die sich gegen die Interessen von Migrant*innen und Geflüchteten richten. In einem Brief verlangte sie die Einbindung und Konsultation von zivilgesellschaftlichen Gruppen und Kollektiven in Entscheidungen über Programme und Gesetze, mit denen auf die Pandemie reagiert werden soll.

Das Sozialpastoral der katholischen Kirche Conselho Indigenista Missionário (CIMI) setzt sich im ganzen Land für die Interessen der indigenen Völker ein und unterstützt diverse indigene Gruppen in politischen und juristischen Auseinandersetzungen um ihr Territorium und ihre konstitutionellen Rechte. Dies geschieht unter anderem durch die öffentliche Verurteilung von Gewaltakten (Morde, unrechtmäßige Landokkupationen, Morddrohungen, politische Angriffe, etc.) auf nationaler und internationaler Ebene. Aufgrund der extremen Anfälligkeit indigener Völker für infektiöse Krankheiten erstellt CIMI seit Beginn der Pandemie umfangreiche Informationsmaterialien über Möglichkeiten des Selbstschutzes und Solidaritätskampagnen. Zudem sammelt und präsentiert die Einrichtung auf einer speziellen Website Informationen zu Übertragungswegen sowie Daten zu Infektions- und Todesfällen (Vgl. https://cimi.org.br/coronavirus/). In fast allen Bundesstaaten, in denen die Organisation aktiv ist, entwickelt sie Strategien, um Lebensmittel und Schutzmasken zu beschaffen und in den Gemeinden zu verteilen. In Mato Grosso do Sul, dem Bundesstaat, in dem es besonders viele Konflikte und Gewalt gegen indigene Gruppen (Guaraní-Kaiowa und Terena) gibt, bemüht sich CIMI um internationale Unterstützung zur Anschaffung von Wassertanks. Außerdem bietet der Missionsrat Weiterbildung für junge Menschen aus indigenen Gemeinschaften im Bereich lokale Informations- und Präventionsarbeit an. Gemeinsam mit Organisationen von indigenen Personen oder solchen, die mit Indigenen arbeiten, geht er politisch und juristisch gegen Entscheidungen der Regierung vor wie etwa den Erlass, der die Besetzung von indigenen Territorien durch Großgrundbesitzer und den Verkauf an sie erlaubt.

CIMI verteilt Wassertanks in den Gemeinden der Guaraní-Kaiowa in Mato Grosso do Sul. Foto: CIMI

Die Wohnungslosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (MTST) kämpft schon seit Längerem für grundlegende städtische Reformen und das Recht auf menschenwürdiges Wohnen. Ex-Präsidentschaftskandidat Guilherme Boulos (PSOL) ist einer ihrer Koordinatoren auf nationaler Ebene. Der MTST konnte in den ersten Monaten der Pandemie rund 12.000 Familien in den Peripherien von São Paulo, Rio de Janeiro, Minas Gerais, Rio Grande do Sul, Alagoas, Pernambuco, Sergipe, Ceará, Roraima, Goiás und Distrito Federal mit hundert Tonnen Lebensmitteln, Hygiene- und Reinigungspaketen, Desinfektionsmitteln und Medikamenten versorgen. Über eine Crowdfunding-Kampagne im Internet bekam der MTST in einer ersten Phase 900.000 brasilianische Reais zusammen, die er für den Kauf und die Verteilung der oben genannten Güter nutzte (eine zweite Kampagne ist bereits gestartet und wird voraussichtlich mehr als eine Million Reais einbringen). Weitere Initiativen sind die Organisierung von Gemeinschaftsküchen und die juristische Unterstützung von Menschen an den Stadträndern, damit auch diese von staatlichen Nothilfen profitieren können.

Die Wohnungslosenbewegung von Bahia Movimento Sem Teto da Bahia (MSTB) setzt sich für eine bessere Wohnsituation speziell in der Stadt Salvador ein. Sie arbeitet mit Obdachlosen (die meisten Schwarz, extrem arm und an den räumlichen Rändern lebend) zusammen und besetzt große verlassene Gelände, um dort Siedlungen mit kleinen ökologischen Gärten zu errichten. Der MSTB baut auf politische Bildung, auf die Schaffung von sogenannten «Territorien des Guten Lebens» (Terrirórios do Bem Viver) und auf Kultur, wie etwa das Theater der Unterdrückten. Die erste Aktion des MSTB während der Pandemie war eine breit angelegte Kampagne zur Beschaffung von Lebensmitteln, die an die Familien der Bewegung und andere Bedürftige verteilt wurden. In all ihren Siedlungen und besetzten Gebieten sorgte die Bewegung für die Aufstellung von Wassertanks und Waschbecken, damit sich alle vor dem Betreten der Siedlungen die Hände waschen können. Der Großteil der Hütten und Zelte verfügt nämlich über keinen Wasseranschluss. Die Frauen der Bewegung haben sich zusammengeschlossen, um Masken zu nähen – für Erwachsene, aber auch bunte und dekorative Masken für Kinder, die größere Schwierigkeiten haben, sich zu schützen. Der MSTB organisierte zudem eine «Pfeif-Kampagne» gegen häusliche Gewalt, die durch die Bewegungseinschränkungen der Pandemie zugenommen hat. Im Falle eines Angriffes gegen eine Frau sollen die Nachbarinnen laut pfeifen, um so die Aufmerksamkeit der Gemeinschaft zu wecken. Diese soll dann der angegriffenen Frau zur Hilfe kommen und dem Angreifer mit pädagogischen und repressiven Mitteln Einhalt gebieten.

Uneafro ist ein Netzwerk, das sich die Bildung von Jugendlichen und Erwachsenen in den peripheren Gebieten Brasiliens verschrieben hat. Das Angebot reicht von Vorbereitungskursen für die Aufnahmeprüfung an den Universitäten und Berufsvorbereitungsseminaren über politische Bildung zu Themen wie Gender, Antirassismus oder sexuelle Diversität bis hin zur Drogenbekämpfung und juristischer Arbeit. Im Zusammenarbeit mit der Coalizão Negra por Direitos (Schwarze Koalition für Rechte), einem nationalen Bündnis Schwarzer Bewegungen und Schwarzer Frauen, organisiert Uneafro während der Pandemie politische Aktionen, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Schwarze Bevölkerung umgehend mehr Schutz braucht. Das Netzwerk wertet offizielle Statistiken dahingehend aus, wie viele der Infektionen, Todesfälle und Behandlungen von Infizierten die Schwarze Bevölkerung betreffen und fordert die Bereitstellung von weiteren Daten. Es half dabei, mit verschiedenen Aktivitäten das staatlich finanzierte Noteinkommen von 600 brasilianischen Reais auch für im informellen Sektor Arbeitende durchzusetzen. Gemeinsam mit der Forschungseinrichtung Centro Brasileiro de Análise e Planejamento  (CEBRAP) kam Uneafro dem Aufruf der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte nach, Informationen zu sammeln und Daten zu erheben, um die rassistische und genderspezifische Ungerechtigkeit der Pandemie zu analysieren. Dafür hat Uneafro zusammen mit der Universidade do Grande ABC und der Rosa-Luxemburg-Stiftung an einer Kartierung der Notfallaktionen staatlicher und nicht-staatlicher Stellen in der Großregion São Paulo zu Covid-19 gearbeitet. Eine weitere Initiative ist die Unterstützung von Personen, die ihre Einkommensquelle verloren haben und Nahrungsmittel und Hygieneartikel benötigen, um die soziale Isolation einzuhalten. Mehr als 80 Prozent der Mitglieder von Uneafro sind Lehrende, Studierende und Koordinator*innen im Bildungsbereich, die ihr Einkommen verloren haben und auf die Unterstützung der Organisation angewiesen sind. Insgesamt wurde 4.000 Familien (mehr als 15.000 Menschen) in 39 Gebieten mit 45 Tonnen verteilten Lebensmitteln geholfen.

Uneafro holt Lebensmittel ab, um sie an Familien zu verteilen, die während der Pandemie ihre Einkommensquelle verloren haben. Foto: Uneafro

In Anbetracht des rasanten Anstiegs der Infektionen in den Peripherien und der Gefahr, dass die Krankenhäuser der Nachfrage nach Betten nicht standhalten werden können, arbeitet Uneafro auch direkt mit Menschen und Einrichtungen im Gesundheitssektor zusammen. Das Netzwerk bietet online Schulungen für Ärtzt*innen verschiedener Fachrichtungen und für das Pflegepersonal an, die die mittelschweren Covid-19-Fälle betreuen müssen. Man hat darüber hinaus Informationsmaterialien und Flyer erstellt, die auf institutionellen Rassismus hinweisen, um die Angestellten in den Krankenhäusern für dieses Thema zu sensibilisieren. So soll die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass im Falle einer rassistischen Diskriminierung Anzeige erstattet und damit eine Gleichbehandlung im Gesundheitswesen sichergestellt wird.

Diálogos Insubmissos de Mulheres Negras (Rebellische Dialoge Schwarzer Frauen) ist eine Plattform Schwarzer Schriftstellerinnen aus Salvador (Bahia). Seit drei Jahren arbeiten diese an verschiedenen Projekten, in denen die kulturelle und künstlerische Produktion Schwarzer Frauen im Zentrum steht. Zudem nehmen sie an nationalen und internationalen Literaturveranstaltungen teil. Wegen der Pandemie wurde die größte Veranstaltung dieser Art in Brasilien, die Internationale Buchmesse in Paraty (Festa Literária Internacional de Paraty), abgesagt. Normalerweise wären dort die zentralen Aktivitäten für 2020 entwickelt worden. Nun arbeitet die Organisation an einer Online-Veranstaltungsreihe über die Kunst Schwarzer Frauen, die vor allem Bildungsaspekte, Leseförderung und Unterhaltung im Blick hat. Hierfür werden Podcasts aufgenommen, in denen mit Schriftstellerinnen und Forscherinnen über Schwarze Literatur diskutiert wird. Ebenso soll es ein Online-Seminar zu biografischen Aspekten, Werk, Produktion und Kritik verschiedener Schwarzer Autorinnen geben und der Austausch in den sozialen Netzwerken angeregt werden.

Die Initiative Marcha de Mulheres Negras de São Paulo bringt Schwarze Frauen verschiedener Kollektive und Organisationen zusammen. Sie hat einen «Solidar-Fonds» ins Leben gerufen, um vor allem Schwarze Frauen zu unterstützen, die durch die Covid-19-Pandemie höheren Risiken ausgesetzt sind. Um der sozialen Isolation entgegenzuwirken, baut die Organisation zudem auf verbesserte Kommunikationsstrukturen und arbeitet an einer neuen Website mit neuen Inhalten und Beiträgen.

Der Verband Federação de Órgãos para Assistência Social e Educacional (FASE) ist eine der ältesten Nichtregierungsorganisationen Brasiliens und arbeitet in sechs Bundesstaaten zu Themen wie Recht auf Stadt, Ernährungssouveränität, Agrarökologie, Umweltgerechtigkeit, Verteidigung von Gemeinschaftsgütern, Recht auf Land und Organisierung von Frauen. Auch FASE sammelt und verteilt während der Pandemie Lebensmittel und Hygieneartikel. Im Bundesstaat Pernambuco hat die Organisation zum Beispiel einen Nothilfefonds eingerichtet, mit dem etwa 850 Familien versorgt werden können. Im Amazonas-Bundesstaat Pará produziert FASE Videos und Audionachrichten, um die Informationsverbreitung zu unterstützen und die Gemeinden auf die Konfrontation mit dem Virus vorzubereiten. Sie nimmt auch an Spendenaktionen für die Grundversorgung mit Lebensmitteln sowie Hygienepaketen und Schutzmasken teil, die an Familien in den Regionen am unteren Amazonas und unteren Tocantins verteilt werden.

Gemeinden in der Region Santarém im Amazonasgebiet nehmen Lebensmittelspenden entgegen.
  Foto: FASE

Die Organsiation Núcleo Piratininga de Comunicação (NPC) ist seit 1997 aktiv und besteht aus Journalist*innen, Grafikdesigner*innen, Fotograf*innen usw., die in Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und anderen Initiativen organisiert sind. Während der Pandemie beteiligt sich NPC an Initiativen zur Unterstützung der Bevölkerung in den Favelas von Rio de Janeiro, indem sie über ihr Netzwerk dazu anregt, über die Ausweitung der Pandemie und deren Konsequenzen in den Armenvierteln zu berichten und diese zu dokumentieren sowie über Selbsthilfeaktionen und Solidaritätskampagnen zu informieren.

Die Brigadas Populares sind eine Organisation, die landesweit in den urbanen Peripherien arbeitet und Hausbesetzungen, agrarökologische Produktion, kommunale Organisierung und Initiativen der politischen Bildung unterstützt. Die Brigadas arbeiten politisch auch mit der linken Partei PSOL zusammen, von denen zwei Mitglieder im Parlament von Minas Gerais vertreten sind. Wie die meisten nationalen Bewegungen organisierten auch die Brigadas eine große Spendenaktion, um in den Gebieten, in denen die Organisation besonders aktiv ist (die Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro, Minas Gerais und Ceará) Bedürftige mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten zu versorgen. In Rio de Janeiro starteten die Brigadas die Kampagne «Selbst in der sozialen Isolation bist Du nicht allein». Es wurden Spenden gesammelt, Informationsmaterialien erstellt und verteilt, aber auch eine «Party der Verantwortungsbewussten» im Favela-Komplex Rocinha veranstaltet. Inspiriert von den Balkonkonzerten verschiedener Musiker*innen in Europa und in den reichen Vierteln von Rio de Janeiro gab es die typische Favela-Party «Baile Funk» in dezentraler Form auf den Rohbaudächern der Häuser. Alle konnten vom eigenen Dach sowohl Musik als auch politische Ansprachen auf den Dächern der Nachbarhäuser verfolgen.

Ein Rap-Konzert auf dem Dach in der Favela Rocinha in Rio de Janeiro während der Pandemie. Foto: Brigadas Populares

Politischer Bonus

Während sich die Corona-Krise in Brasilien immer weiter verschärft, nutzt die Regierung Bolsonaro die geltenden Einschränkungen und die Ausnahmesituation nicht nur dazu aus, ihre extremistischen Positionen zur Schau zu stellen, sondern auch dazu, die Justiz und den Nationalkongress anzugreifen und institutionelle Strukturen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Damit reagiert Bolsonaro darauf, dass er selbst, seine Söhne und verschiedene Minister und Verbündete Ziel strafrechtlicher Ermittlungen geworden sind.

Für die sozialen Bewegungen sind die Folgen der Zersetzung der institutionellen Demokratie noch schwerwiegender als die auferlegte soziale Isolation. Öffentliche Massenproteste, eines der wichtigsten Instrumente des Widerstandes, sind praktisch nicht mehr möglich, ebenso wie andere kollektive politische Organisationsformen. Vor diesem Hintergrund übernehmen praktische Solidaritätsaktionen eine Schlüsselfunktion. Sie werden zu einem wirksamen Instrument, um die Bindungen der unteren Klassen zu stärken. Es gibt einen Paradigmenwechsel in dem Bewusstsein der Menschen in der Peripherie: Es wird erkannt, dass nicht die Institutionen für die Individuen sorgen, sondern dass Kollektive sich gegenseitig unterstützen.

Ebenso beobachten wir, dass sich Bewegungen tendenziell immer stärker «territorialisieren». Auf dem Land wie in der Stadt haben lokale und regionale Kämpfe eine tiefere Bedeutung gewonnen. Der Ort, wo man ist, wo man lebt und wo man Alternativen aufbaut, ist der Ort, an dem sich konkrete Aktionen und Solidarität realisieren lassen.

Die Verteilung von Lebensmitteln durch den MTST ist auch eine Aktion zur politischen Bildung.
  Foto: MTST

Das bedeutet nicht, dass der Konflikt zwischen der Zivilgesellschaft und der institutionellen Politik in Brasilien stillgelegt ist. Auch wenn für viele soziale Bewegungen die gegenwärtige Phase eher eine Zeit der Selbstreflexion und der Weiterbildung ist, steigt der Druck, gegen die vielen Zerstörungen und Schäden, die die Regierung gerade anrichtet, vorzugehen. An einigen Stellen, vor allem in Bezug auf den Nationalkongress, zeigen sich bereits die katastrophalen Auswirkungen. Was die Covid-19-Pandemie jedoch gelehrt hat, ist die politische und versöhnende Macht einer guten Mahlzeit nicht zu unterschätzen. Dies gilt für diejenigen, die sie erhalten genauso wie für diejenigen, die die Zutaten für sie ernten und verarbeiten, sie zubereiten und servieren.