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Der Bayerische Rundfunk präsentiert ein bemerkenswertes 24-teiliges Doku-Hörspiel zum NSU-Prozess

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«Saal 101» – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess, BR 2
«Saal 101»
Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess Bayern 2

«Dauernd redet man von Seelen. Was Seele ist, das weiß ich nun», so lauten zwei Zeilen eines Sufi-Gedichts, das leitmotivisch an mehreren Stellen der Hörspielproduktion «Saal 101» auftaucht, die der Bayerische Rundfunk (gemeinsam mit den Kultur- und Inforadios zahlreicher anderer öffentlich-rechtlicher Radios) am 19. und 20. Februar 2021, ausstrahlt bzw. als Podcast in seiner und der ARD-Audiothek veröffentlicht. In 24 Teilen hat der BR mit der ARD und dem Deutschlandfunk den Versuch unternommen, sich den über fünf Jahren NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München zu nähern, ihn auf zwölf Stunden Hörspielzeit zu reduzieren und doch in seiner monumentalen detailreichen Monstrosität abzubilden, verstehbar, hörbar zu machen. Und das Ergebnis ist, soweit man das nach dem Anhören der vier für die Presse freigeschalteten Folgen sagen kann, von enormer Intensität.

Schon während, aber dann noch einmal verstärkt nach dem Urteil vom 11. Juli 2018, nach 438 Prozesstagen, ist immer wieder versucht worden, «etwas aus dem Stoff zu machen». Überraschend viele theatrale Annäherungen hat es gegeben, vom sehr frühen Drama «Das schweigende Mädchen» Elfriede Jelineks bis hin zu den tief bewegenden «NSU-Monologen» der Bühne für Menschenrechte, einiges davon gelungen, vieles mehr bemüht als überzeugend. Ein paar Fernsehspiele waren überwiegend nur schwer erträglich und meist von einer reißerischen «Sex- and Real-Crime»-Faszination für das NSU-Kerntrio und die Hauptangeklagte im Prozess getragen, die auch vielfach die Berichterstattung aller Medien bestimmte. Die Bücher überwiegend bürgerlicher Prozessbeobachter*innen, die sich jeweils als die authentischsten und ultimativen Zeug*innen und selbstlose Protokollant*innen des Jahrhundertprozesses in Positur warfen und mit der Niederschrift ihrer zum Teil bizarren Wahrnehmungen auch gleich die eigene Unsterblichkeit sorgsam beiseite legten, sind ziemlich erbärmlich geraten und übertreffen sich gegenseitig in einer Überhöhung des Vorsitzenden Richters des Münchener Staatsschutzsenats, Manfred Götzl, und in einer ziemlich diensteifrigen Apologie des Rechtsstaates, der hier den bösen Nazis aber so was von heimgeleuchtet hat.

Ein solcher Rundumschlag ist vielleicht nötig, um der Überraschung und Erleichterung Ausdruck zu verleihen, die das BR-Hörspiel mit seiner gelungenen Auswahl und Inszenierung für das Radio und als Podcast bereitet. Die dokumentarische Collage von kurzen Auszügen aus den Protokollen der BR-Prozessberichterstatter*innen, knappen atmosphärisch beschreibenden Absätzen der gerichtlichen «Inszenierung» und einordnenden Aufsagern der Reporter*innen schafft eine fast melancholische, auf jeden Fall nachdenkliche Grundstimmung, die einzelne Prozesstage und Themen der Beweisaufnahme vor dem geistigen Auge erstehen lässt. Der Kunstgriff von Regisseur Ulrich Lampen ist es, die Themen aus unterschiedlichen, zum Teil weit auseinanderliegenden Prozesstagen zu clustern und so zu halbstündigen Episoden zu montieren. Im besten Fall, das wird die Veröffentlichung erweisen, könnte er so eine Art Kanon der wichtigsten Sinnabschnitte geschaffen haben, die der zumal zu Beginn des Prozesses ab Mai 2013 wirren und inkonsistenten Beweisaufnahme des Senats nachträglich etwas Struktur und Nachvollziehbarkeit verleihen könnten. Leider widerspricht ausgerechnet einer der wackeren BR-Reporter, Tim Aßmann, im Doku-Stück der Kritik an Götzls heillosem «Themenhopping», wie es damals hieß, und versucht das als besonderen Kniff des Vorsitzenden zu interpretieren, etwas «Ruhe» in den Prozess zu bringen. Das Gegenteil war der Fall.

Eine Schwäche der Komposition könnten die unkommentierten Übergänge von dokumentarischer Inszenierung und Reporter*innen-Aufsager sein, die es Hörer*innen, denen die Stimmen etwa von Tim Aßmann und Ina Krauß nicht so vertraut sind wie jemandem, der oder die jahrelang die Bank mit ihnen auf der Zuschauer*innentribüne im A 101 gedrückt hat, erschweren könnten zu kapieren, welches Element der Inszenierung gerade zu vernehmen ist. Musik ist sacht und sparsam als gliederndes Element eingesetzt und hätte hier vielleicht noch etwas zur Erhellung beitragen können.