Das Ende des Ersten Weltkriegs ließ die Front im Osten ohne Sieger zurück. Beide Seiten hatten verloren, Deutsche und Österreicher auf der einen, Russen auf der anderen. Damit trat ein, womit niemand bei Ausbruch des Krieges 1914 rechnen konnte: Alle Teilungsmächte Polens mussten das Feld räumen, der Weg war im November 1918 frei für die sogenannte Wiederherstellung Polens, die Gründung einer neuen polnischen Republik. Der siegreiche polnische Aufstand in Posen und Großpolen besiegelte Anfang 1919 schließlich, dass mit dem Versailler Friedensvertrag auch nennenswerte Gebiete Deutschlands an das neuen Polen übergingen. Erst später wurde der Grenzverlauf in Oberschlesien festgelegt, doch war die Situation im Westen für Warschau viel übersichtlicher als die im Osten, wohin der Einfluss aus Versailles kaum mehr reichte.
Dr. Holger Politt ist Leiter des RLS-Regionalbüros Ostmitteleuropa in Warschau.
Bereits Ende 1918 kam es um Lemberg in Ostgalizien zu ernsthaften Konflikten und militärischen Auseinandersetzungen zwischen polnischen und ukrainischen Truppen; ein erstes Anzeichen, dass der Friedensschluss des Westens im Osten keinen Grund fand. Allein der Appell an die Wahrung ethnischer Grenzlinien war noch zu hören. Es war die Stunde wagemutiger Männer, die sich zu großer historischer Tat berufen fühlten. In Polen war es Józef Piłsudski, der jetzt zum Nationalhelden aufstieg. Ihn trug die unheimliche Vision, im Osten gegen Russland unter neuen Bedingungen sogar die Grenzen des untergegangenen Vielvölkerreiches der Polen von 1772 durchzusetzen. Russland zehrte sich auf in einem blutigen Bürgerkrieg, und der Sieger war längst noch nicht auszumachen. Um den aufstrebenden Nationalgefühlen in der Ukraine und in Belarus entgegenzukommen, setzte er auf eine Föderation dieser Länder mit Polen, also auf einen Bund, in dem der Hegemon feststand.
Zu den ersten bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen polnischen Streitkräften und Roter Armee kam es im April 1919 in Vilnius, als die Rote Armee aus der Stadt vertrieben wurde, um die sich damals vor allem Polen und Litauen stritten. Die polnische Armee rückte dann weiter nach Osten vor, brachte der Roten Armee empfindliche Niederlagen bei und erreichte im September 1919 eine Linie 50 Kilometer östlich von Minsk. Im Süden hatte man die gesamte Westukraine in der Hand. Seit Mai 1919 waren dort die Kampfhandlungen mit den Verbänden der Ukrainischen Volksrepublik von Symon Petljura eingestellt worden, am 1. September 1919 wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet. Aus unversöhnlichen Feinden waren Bündnispartner geworden, denn der gemeinsame Gegner – Sowjetrussland – schweißte zusammen. Petljura hatte angesichts des Kräfteverhältnis begriffen, dass der Weg zu der von ihm angeführten Ukraine nur noch über die Eroberung Kiews und nicht mehr Lembergs führte.
Piłsudski schien der Verwirklichung seiner geostrategischen Vorstellungen einer Föderation Polens mit von Russland losgelöster Belarus und selbständiger Ukraine einen großen Schritt nähergekommen zu sein. Allerdings pochten die westlichen Siegermächte im Herbst 1919 immer noch auf eine polnische Ostgrenze am Bug. Piłsudski wusste indes, dass Sowjetrussland keinen Bündnispartner im Westen besaß – eine formidable Situation für die eigenen Pläne. Später werden Historiker zu der Einschätzung kommen, dass er gegen ein Russland der Weißgardisten keine Chance besessen hätte.
Die sowjetische Seite machte im Winter 1919/20 ernsthafte Friedensangebote, war bereit, das unabhängige Polen anzuerkennen, machte territoriale Zugeständnisse, die weit über die Vorstellungen der Westmächte hinausgingen, verwies aber – bezogen auf Belarus und die Ukraine – nun ihrerseits auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Warschau stellte harte Bedingungen, auf die Moskau nicht eingehen konnte. Also setzten sich die Kampfhandlungen im Frühjahr 1920 fort. Piłsudski brauchte die Einnahme Kiews, um Petljura bei der Schaffung einer selbständigen Ukraine in die Vorhand zu bringen. Das Manöver gelang militärisch, denn am 7. Mai 2020 rückten polnische Truppen in Kiew ein. Die polnische Führung rechnete mit einem Friedensschluss, der der sowjetischen Seite diktiert werden könnte. Doch Moskau warf nach dem sich jetzt abzeichnenden Sieg im Bürgerkrieg alles gegen Polen an die Front. Im Norden auf belorussischem Gebiet übernahm Michail Tuchatschewski die strategische Führung, im Süden in den ukrainischen Weiten kämpfte Budjonnys berühmt-berüchtigte Reiterarmee. Das Ziel war klar: die polnischen Truppen weit nach Westen zurückschlagen und Warschau einnehmen. Es brauchte nur wenige Tage, dann waren die polnischen Truppen aus Kiew vertrieben.
Der Beitrag ist zuerst erschienen im außenpolitischen Journal «Welttrends», Nr. 174, April 2021.
Anfang August 1920 stand die Rote Armee tatsächlich vor den Toren Warschaus; die Einnahme der polnischen Hauptstadt schien nur eine Frage der Zeit. Geplant war eine polnische Sowjetregierung, an deren Spitze Julian Marchlewski stehen sollte. Insgeheim rechnete die Sowjetführung um Lenin mit einem Schulterschluss der Arbeiter- und Bauernmassen Polens, vor allem der ärmeren Schichten. Hinter Piłsudski standen französische Berater und Truppen, unter anderem der junge Offizier Charles de Gaulle, auch gelang es ihm und seiner Führung in dieser bedrohlichen Situation, eine entschiedene patriotische Stimmung zu entfachen, so dass frische Freiwilligenheere schließlich in genügender Zahl zur Verfügung standen. So wie die Polen vor wenigen Monaten in Kiew, so scheiterten Tuchaschewskis Rotarmisten jetzt vor Warschau. In den Tagen zwischen dem 14. und 16. August 1920 kam es zur entscheidenden Kriegswende – jetzt wurde die Rote Armee wieder nach Osten gedrängt. Ende September 1920 gelang den polnischen Truppen bei Grodno sogar der Durchbruch in Richtung Minsk, Tuchaschewskis Truppen waren geschlagen.
Im Herbst 1920 wurden die Kampfhandlungen eingestellt und Friedensverhandlungen aufgenommen. Für Lenin war der exakte Grenzverlauf zwischen Sowjetland und Polen nun weniger wichtig, entscheidender war: Polen musste die Existenz von Sowjet-Ukraine und Sowjet-Belarus hinnehmen, so dass Piłsudskis strategische Föderationsträume endgültig geplatzt waren. Am 18. März 1921 wurde in Riga der Friedenvertrag zwischen beiden Seiten unterschrieben, mit dem die Fortsetzung des Ersten Weltkriegs im Osten offiziell beendet wurde.
Die westlichen Siegermächte brauchten noch geraume Zeit, den vereinbarten Grenzverlauf offiziell hinzunehmen, weil ethnische Kriterien völlig vom Tisch gefegt wurden. Für Belarus bedeutete der Vertrag die Teilung, hier der polnische, dort der sowjetische Teil. Moskau brauchte nicht lange, um aus der Gemengelage heraus die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zu gründen, mit der ein völlig neues Kapitel russischer Geschichte aufgeschlagen wurde. Das neue Polen aber hatte an seiner Ostgrenze nicht zu lösende und schwerwiegende Konfliktfelder mit den nationalen Bestrebungen in Litauen, Belarus und der Ukraine heimgeholt. Der September 1939 war zumindest vorgezeichnet.