News | Soziale Bewegungen / Organisierung - Parteien / Wahlanalysen - Libanon / Syrien / Irak «Die Proteste werden in irgendeiner Form weitergehen»

Der Irak nach den Parlamentswahlen im Oktober 2021

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Englische Botschaft der Protestierenden Foto: Miriam Younes

Gespräch mit Miriam Younes, Leiterin des Büros der RLS in Beirut. Die Fragen stellte Katja Hermann, Leiterin des Westasien-Referates der RLS in Berlin.

Im Irak ist am 10. Oktober ein neues Parlament gewählt worden. Das Ergebnis ist bis heute noch nicht offiziell bestätigt worden, obwohl die angesetzte Frist von 20 Tagen bereits am 30. Oktober abgelaufen war. Was sind Deiner Einschätzung nach die Gründe für diese Verschiebung und wie beurteilst Du die vorläufigen Ergebnisse?

Miriam Younes: Gerade erst letzten Freitag kam es in Bagdad zu Straßenkämpfen zwischen Milizen und der Armee, gestern wurde das Haus des noch amtierenden Premierministers Mostafa al-Kazemi mit Drohnen beschossen, ein vermeintlicher Mordanschlag. Diese Akte der Gewalt sind eng mit dem Wahlergebnis verbunden. Das von der Unabhängigen Hohen Wahlkommission verkündete vorläufige Ergebnis wird von vielen politischen Akteuren nicht akzeptiert. Nach diesem Ergebnis ist die Strömung von Moqtada Sadr [1] nicht nur die stärkste Kraft, sie hat mit 73 Sitzen im Vergleich zu den Wahlen von 2018 auch noch um 20 Sitze zugelegt. Das schürt bei vielen der anderen politischen Akteure die Angst, dass Sadr eine Mehrheitsregierung bilden kann und nicht auf Allianzbildungen angewiesen ist. Gleichzeitig hat die sogenannte Fatah-Allianz [2] unter Hadi al-Amiri, einem der wichtigsten Befehlshaber der al-hashd ash-sha’abi (der Volksmobilisierungseinheiten) [3] nach diesem Ergebnis sehr viele Sitze verloren: im Jahre 2018 erhielt die Allianz 52 Sitze, in den jetzigen Wahlen nur 16 Sitze. Das ist für die Allianz und für die verschiedenen Milizen der Volksmobilisierungseinheiten ein schwerer Schlag, weshalb sie das Ergebnis ablehnen und ihre Macht jetzt auf der Straße demonstrieren. Bei vielen Menschen im Irak herrscht mittlerweile die Angst, dass dieser Machtkampf in den folgenden Monaten auf der Straße ausgetragen wird und es einmal mehr zu einer Periode der Instabilität und Gewalt im Irak kommt.

Zu den Ergebnissen und ihrer Analyse selber fällt mir auf, dass gerade in englisch- und deutschsprachigen Medien sehr schnell von einem Sieg der Sadristen gesprochen wird und einem schwindenden Einfluss des Irans und den dem Iran nahestehenden Milizen. Als würde es nur um die Anzahl der Sitze gehen, um zu verstehen, wie die irakische Bevölkerung gewählt hat. Ich denke aber, man muss noch ein wenig weiter schauen: zum einen war die Wahlbeteiligung mit 36% extrem gering, und das ist ein Trend seit den ersten Wahlen nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahre 2005. Das heißt, das Ergebnis muss vor allem unter dem Aspekt gesehen werden, dass für die Mehrheit der Bevölkerung diese Wahlen gar nicht relevant waren und sie sich gar nicht erst die Mühe gemacht haben, ihr Wahlrecht auszuüben. Das Ergebnis repräsentiert damit auch weniger als die Hälfte der irakischen Bevölkerung.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist das neue Wahlgesetz, das zum ersten Mal in diesen Wahlen vollzogen wurde. Dieses sieht einen Wechsel von einem Wahlgesetz mit geschlossenen Listen und proportionaler Verteilung (wie 2003 beschlossen) zu einem einfachen, nicht übertragbaren Stimmrecht für jede wahlberechtigte Person vor. Zusätzlich wurde die Zahl der Wahlbezirke von 18 auf 83 erhöht. Das Ziel dieses veränderten Wahlgesetzes ist vornehmlich die Verbesserung der Chancen von individuelle Kandidat*innen zuungunsten der großen Parteien. Das ist in der Praxis wohl nur teilweise gelungen, stattdessen ist es einfach einigen der großen Parteien wie den Sadristen besser gelungen, diese veränderten Bedingungen zu nutzen. So haben die Sadristen und die Fatah-Allianz tatsächlich fast die gleiche Stimmzahl (etwa 650,000) erhalten, aber durch das Wahlgesetz verteilen sich die Sitze in komplett anderem Verhältnis.

Man muss in der Analyse des Wahlergebnisses also verschiedene Aspekte berücksichtigen, das Ergebnis ist aber nun so wie es ist und hat dementsprechend seine Folgen – die wir heute sehen.