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Über das größte digitale Archiv des westdeutschen Maoismus - aus Anlass des Todes eines seiner Gründer

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David Templin,

Die «Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung», die sog. «Mao-Bibel» erschienen in vielen Ausgaben. Übersetzt auf deutsch, gedruckt in China.

Als er 1968 mit zehn Jahren auf das Gymnasium im Hamburger Stadtteil Rahlstedt eingeschult wurde, kaufte sich Jürgen Schröder von seinem Taschengeld erst einmal ein «schickes Ho Chi Minh Poster und eine zweite ›Mao-Bibel‹». Die erste hatte sein Vater, der als Zollbeamter arbeitete, ein Jahr zuvor mit nach Hause gebracht, offenbar als Resultat einer Beschlagnahmung. So erinnerte sich Schröder, Mitbegründer des Online-Archivs MAO-Projekt, vor wenigen Jahren in einer autobiographischen Skizze an seinen frühen Einstieg in die Welt des Marxismus-Leninismus (ML). Anfang Januar 2022 ist Jürgen Schröder gestorben. Hinterlassen hat er das größte digitale Archiv des westdeutschen Maoismus.

Klickt man sich durch die Seiten der «Materialien zur Analyse von Opposition» (MAO), wie Schröder und sein Mitstreiter Dietmar Kesten die von ihnen begründete Datenbank tauften, stößt man auf ein umfangreiches Konvolut an digitalisierten Flugblättern, Zeitschriften und Broschüren der 1970er und 1980er Jahre. Gegliedert nach Regionen und Themen, ermöglicht das Archiv einen Einblick in den Kosmos der vielen Kaderparteien des «roten Jahrzehnts». Ausgaben der «Schussentaler Arbeiter-Zeitung» des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) finden sich hier ebenso wie das von den studentischen Basisgruppen Braunschweig 1977/78 herausgegebene Periodikum «Der Pöbel» oder Dokumente aus der bayerischen «Zimbabwe-Solidarität» nach 1968.

Die eigene Geschichte

Die Wurzeln des Projektes gehen auf das Jahr 1985 zurück, als sich Schröder und Kesten im APO-Archiv der Freien Universität Berlin über den Weg liefen. Letzterer kam aus der »Arbeitsgruppe Westdeutsche Linke«. Die Abspaltung einer Gelsenkirchener ML-Gruppe hatte sich vorgenommen, eine Chronik des Maoismus in der Bundesrepublik zu erstellen. Schröder, der 1978 nach West-Berlin gezogen war, wurde Mitarbeiter im APO-Archiv, in dem u.a. der Nachlass des KBW und viele der später digitalisierten Flugblätter lagern. «In seiner Wohnung hing eine riesige Deutschlandkarte, auf der die wichtigsten Orte der Aktivitäten maoistischer Gruppen eingekreist waren. ›Vom Land in die Stadt‹ erklärte er uns», erinnern sich Kesten und Dieter Osterloh in ihrem Nachruf auf ihren Freund und Kollegen. 1990 beendete Schröder sein Studium mit einer Arbeit, in der er die Dominanz einzelner ML-Organisationen in regionalen Hochburgen zu erklären suchte. In den folgenden Jahren jobbte er als Ghostwriter für Studierende.

Die Geschichte des MAO-Projektes ist auch eine Geschichte der frühen Digitalisierung. Zunächst erstellte Kesten Datensätze mit der Schreibmaschine, bevor er diese auf Disketten speicherte und in Form einer Datenbank durchsuchbar machte. «Mit dem Aufkommen der Scanner kamen dann die Scans dazu», rekapituliert er die technische Entwicklung. 2005 wurde das gesammelte Material schließlich online gestellt.

Der Sammel- und Digitalisierungseifer der zwei Projektgründer ist beeindruckend. Jeden Monat wurden (und werden) Dutzende Dokumente hochgeladen. Laut Angaben von Kesten umfasst die Homepage rund 20.000 Dateien im Umfang von etwa 500 Megabyte. Etwa 40.000 Zugriffe gebe es im Monat, teilt er mit. Mittlerweile hat sich auch der thematische Fokus ausgeweitet. Interne Rundbriefe trotzkistischer Gruppen finden sich nun ebenso auf der Seite wie Zeitschriften der Spontis und der autonomen Linken der 1980er Jahre. «Unserer Meinung nach handelt es sich gerade bei oppositionellen Entwicklungen häufig um schwer überschaubare Vorgänge, die nur durch genaue Betrachtung verstanden und danach erklärt werden können», betonen die Begründer des Archivs ihre Idee hinter dem Projekt.

Linke Erinnerungskultur

So greifen mittlerweile auch viele professionelle Historiker*innen, die sich mit den sozialen Bewegungen und der Neuen Linken nach 1968 beschäftigen, auf das Material zurück. Bereits an der Fülle und regionalen Vielfalt der Dokumente wird die zeitgenössische Ausstrahlungskraft des westdeutschen Maoismus deutlich. Diese reichte bis in Dörfer und Kleinstädte, Zehntausende Jugendliche wurden politisch aktiv. Mit Blick auf diese Bewegung als nicht nur politisches, sondern auch jugendkulturelles Phänomen zeigen sich aber auch die Grenzen des Materials. So bieten uns die Flugblätter mit ihrem ML-Jargon kaum Einblick in die Lebenswelten oder sozialen Hintergründe der Akteur*innen. Eine offene Frage ist, inwiefern das Archiv auch jenseits wissenschaftlicher Beschäftigung genutzt wird – etwa durch die heutige Linke und Anhänger*innen des ML-Revivals der letzten Jahre.

Dabei ist das MAO-Projekt nicht nur digitales Archiv einer historischen Bewegung, sondern lässt sich auch als Ausdruck der Erinnerungskultur von Aktivist*innen interpretieren, die ihre eigene Geschichte vor dem Vergessen bewahren wollen. Ähnliche Initiativen gibt es in anderen Ländern oder seitens Akteur*innen anderer nationaler Herkunft, beispielsweise von Exil-Communities aus der Türkei. So betreiben frühere Aktivist*innen der in den 1970er und 1980er bestehenden ML-Bewegung Devrimci Yol (Revolutionärer Weg) im Internet eine rege Erinnerungskultur. Auf Twitter werden nahezu täglich Fotos ermordeter Genoss*innen veröffentlicht, und ein Online-Archiv bietet Einblick in die türkisch- und deutschsprachigen Zeitschriften und Broschüren der Gruppe. Während in diesem Fall allerdings ein klarer Bezug auf die eigene frühere Organisation gegeben ist, ist das MAO-Projekt wesentlich «pluralistischer» angelegt. Indem es eine möglichst umfassende «Materialsammlung» bieten will, ist es nicht dem Gedenken an eine einzige Gruppe verpflichtet.

Wie geht es nach Jürgen Schröders Tod mit dem Projekt weiter? Dietmar Kesten ist zuversichtlich: «Das MAO-Projekt setzt seine Arbeit fort und bleibt bestehen.» Insofern ist zu hoffen, dass diese Fundgrube für die Geschichte linker Bewegungen auch in Zukunft der interessierten Öffentlichkeit erhalten bleibt.

Dieser Text erschien zuerst in «analyse und kritik», Ausgabe 679. Dr. David Templin ist Mitarbeiter an der Universität Osnabrück. Seine vielbeachtete Dissertation zur Geschichte der Jugendzentrumsbewegungerschien 2015.

Einen Nachruf auf den verstorbenen Jürgen Schröder hat Christian Y. Schmidt hierfür nd vom 16.1. 2022 verfasst.